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Seit jener kühlen Nacht, die die Choden von Aujezdl im Zwinger zu Chodenschloss verbrachten, liessen die Fröste nicht nach. Der Winter meldete sich bereits mit seinem ganzen Ernste. Unten im Tale wehte der Wind noch hie und da den leichten Schneeanflug weg, aber von den Höhen wollte die weisse Hülle nicht mehr verschwinden. Die Gipfel des Čerchov, der Haltrava, des Felsensturzes (Škarmaněc) und aller sonstigen höheren und niedrigeren Berge sowohl unmittelbar vor dem Chodengau, als auch weiter im imposanten Hintergrunde des Böhmerwaldes legten weisse Hauben an. Von ihnen wallten über die bewaldeten Abhänge und Lehnen schneeige Schleier, deren weisse hie und da das dunkle Blau der tiefen schweigenden Forste durchbrach.
Eben so ruhig und schweigsam war auch der gesamte Chodengau.
Es schien, als ob ihn die Vorgänge in Aujezdl und in Chodenschloss abgeschreckt hätten. Nirgends sah man ein Anzeichen stürmischen Unwillens oder kühnen Widerstandes, geradezu als ob den unbeugsamen Choden mit ihren verbrannten Majestätsbriefen auch jeglicher kühne Geist und Kampfesmut verloren gegangen wäre.
Diese düstere Stille barg jedoch weder stumpfe Resignation noch Kleinmut. Es keimte in ihr der Sturm.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde davon, dass Lamminger die Truhe mit den Chodenbriefen geraubt habe, durch den ganzen Gau von Possigkau bis zu dem entlegenen Putzeried und mit Blitzesschnelle wusste jeder, wie man in Aujezdl und in Chodenschloss den Erbrichter Syka, Přibek, den jungen Kozina und die übrigen, alten Grundbauern behandelt habe. Hie und da sank zwar bei dieser Nachricht mancher Kopf in tiefes Nachsinnen, mancher Seufzer über das Ende der Freiheitsbriefe entrang sich auch der Brust – doch viel mehr Flüche hagelten auf den neuen Herrensitz in Chodenschloss, auf das Haupt des Burgherrn nieder. In den lebhaften Besprechungen der herrschaftlichen Gewalttat verschwand der vereinzelte Klageseufzer, denn in allen Bauernhöfen und Einschichten ertönten nur heftige Worte aufschäumenden Zornes und Rachedurstes.
Man vernahm jedoch bei diesen Besprechungen auch Lob und lebhafte Anerkennung für sämtliche Aujezdler, die das alte Schild des von den Vätern ererbten Rechtes so tapfer verteidigten. Am meisten sprach man vom jungen Kozina; man bewunderte allgemein den Mut; mit dem er Lamminger selbst, dem Kreishauptmann entgegentrat und zwar in Gegenwart der Offiziere und der Soldaten, die mit gezückten Reitersäbeln in der Amtsstube und vor dem Schulzenhause standen. – Zuerst kamen die Bekannten aus Trasinau, Possigkau und Chodenschloss nach Aujezdl, um über Alles Erkundigungen einzuziehen, und um jene zu sprechen, die für sie alle gelitten hatten.
Dann kamen auch aus den entlegeneren Chodendörfern Bauern, durchwegs alte, erfahrene und geachtete Männer. Sie kehrten entweder gleich bei Kozinas ein oder kamen mit dem Erbrichter Syka hin und drückten die Rechte des jungen Bauers. Sie setzten sich nieder, sprachen hin und her und dann frug nahezu ein jeder von ihnen, als er sich anschickte, fortzugehen:
»Nun, was wird weiter sein?«
»Nun jetzt gilt's stille halten, aber deswegen haben wir noch immer nicht unser letztes Wort gesagt. Du wirst's schon zu hören bekommen,« entgegnete Kozina.
Doch sagte er Niemandem, ja er erwähnte es nicht einmal, dass zwei wertvolle oder, wie Syka behauptete, gerade die wichtigsten Dokumente gerettet worden sind. Er verschwieg es vor allem auf des Erbrichters Rat und so blieb es einstweilen ihr Geheimnis, das Geheimnis des Onkels von Trasinau und der alten Mutter.
Hančí konnte sich über ihren Mann nicht sattwundern. Sie war nach dem Vorgefallenen der Meinung, er werde jetzt noch nachdenklicher sein, da er es nicht so leicht verschmerzen werde. Er war dagegen ruhiger denn je, gesprächiger als früher! Freilich so lustig und fröhlich, wie er war, als er noch ledig um sie warb, sah sie ihn jetzt nie. Der Schatten einer heimlichen Sorge und irgendwelcher heimlicher Gedanken wich nicht mehr von seinem Antlitz. Es fiel ihr auch auf, dass er jetzt häufig zu seiner Mutter ins Ausgedinge zu gehen pflegte, und es ist auch schon einigemal vorgekommen, dass, als sie ihm zufällig nachkam, er oder die alte Schwiegermutter rasch das Gespräch auf einen anderen Gegenstand lenkten. Sie verheimlichten etwas vor ihr. Aber was nur? Wovon konnten sie wohl sprechen?
Sie war sicherlich nicht Gegenstand dieser Gespräche, denn seit der Zeit, da sie das Militär überrascht hatte, war das Benehmen der Schwiegermutter ihr gegenüber ein viel aufrichtigeres und freundlicheres; Jan veränderte sich auch nicht. Immerhin war sie in Sorgen. Sie benützte auch eines Abends, als ihr Mann gesprächig neben ihr sass, die günstige Gelegenheit, um den Gatten auszuforschen. Hanálka sass ihr im Schosse und den Paul schaukelte ihr Mann auf den Knien, als wenn er vor Zufriedenheit auf alles vergessen hätte. In diesem schönen Augenblicke stellte sie ihm die Frage, ob er vielleicht heimliche Sorgen hege? In den wenigen schlichten Worten äusserte sie ihr aufrichtiges, ihm ganz ergebenes, von ängstlichen Befürchtungen um ihn erfülltes Herz.
»Warum hegst du solche Gedanken? Was für Geheimnisse könnte ich mit der Mutter teilen? Du weisst ja, dass altes Chodenblut in ihren Adern rollt, und auch ich kann nicht sogleich vergessen. Wir sprechen halt manchmal über vergangene, alte Zeiten. Sei, Hančí, ohne Sorge, du und die Kinder seid mir am teuersten.«
Er sprach die Wahrheit, darum klangen auch seine letzten Worte so herzlich und überzeugend. In diesem Augenblicke war Hančí vollkommen beruhigt.
Ruhig und schweigsam war der gesamte Chodengau.
Dafür belebte sich der Herrensitz in Chodenschloss. Die liebste Beschäftigung des Freiherrn von Albenreuth war die Revision der Wirtschaftsregister und Rechnungen, die er bis auf einen Heller und Strohhalm prüfte. Sehr oft pflegte er auch in seine Wirtschaftshöfe zu fahren, um hier die Verwalter zu kontrolieren und das Gesinde, das ihm nie genug arbeitete, anzutreiben; er achtete nicht auf die Klagen seiner robotpflichtigen Arbeiter, die ihn um Gotteswillen baten, ihnen die schwere Bürde, die sie zu tragen hatten, zu erleichtern.
Jetzt verliess er aber seine Kanzlei auch öfter, um seine Gäste zu empfangen, die seiner Einladung folgend, gekommen waren. Es war dies meistens der in der Nachbarschaft ansässige Adel, mit dem er sodann in seine ausgebreiteten Waldungen auf die Jagd zog. Das letztemal kamen auch einige adelige Offiziere der Pilsner Garnison, darunter die Grafen von Stampach und von Vrtba an.
Noch nie zuvor beherbergte Lammingers Schloss soviel Gäste wie diesmal, noch nie ritt vom Schlosshofe eine so zahlreiche Jagdgesellschaft ab.
An der Spitze derselben ritt Lamminger selbst, der Gastgeber, mit freudestrahlendem Gesichte, das er in der letzten Zeit stets zur Schau trug. Dies entging niemandem von denen, die ihn kannten, am meisten merkten es freilich die Schlossleute selbst. Sie waren darüber nicht wenig verwundert, ohne zu ahnen, welch ein Felsblock ihrem gestrengen, unzugänglichen Herrn vom Herzen gefallen ist. Es fiel dies aber auch den Chodenmännern auf, die mit Pelzen und Haarmützen bekleidet, die herrschaftlichen Jagdhunde auf Hetzriemen führten, oder mit Treibknütteln versehen, voranschritten. Sie mussten das Wild in Wäldern, in denen einst ihre Väter so frei und ungehindert, wie jetzt die Herren, jagten, an- und vortreiben. Den Choden entging dieser veränderte Ausdruck im Antlitz ihres Herrn nicht und sie verstanden denselben gut. Nur darum wagte er es, ihnen neue Lasten aufzubürden, weil er ihre Majestätsbriefe vernichtet hatte. Früher hätte man es sicherlich nicht unter gleichzeitigen Androhungen gewagt, vom Schlosse nach Chodenschloss und Klentsch um Wildtreiber für die Herren zu schicken. Die Chodenschlosser und Klentscher gingen. Was war da in diesem Augenblicke zu tun? – Mit welchen Gefühlen folgten sie aber dem Befehle und was dachten sie sich wohl, als sie von der Anhöhe die aristokratische Jagdgesellschaft betrachteten, die hinter ihnen langsam den Hügel hinaufritt?! – Zuerst kamen also die Dörfer Klentsch und Chodenschloss an die Reihe.
Im ganzen Chodengau sprach man davon teilnahmsvoll und zornerfüllt.
»Es fängt schon an.«
»Es wird noch ärger kommen.«
»Heute die Klentscher, morgen wir –«
So hörte man überall und gedachte der freien Jagdbarkeit der Väter, die von allen ihren Jagden den Tausern bloss zum Weihnachtsschmause einige Hasen abzuliefern hatten, und zwar die Chodenschlosser zwei, die Bewohner von Possigkau, Klentsch, Aujezdl, Trasinau, Putzeried, Hochwartl, Klitschan auch je zwei, und jene von Melhut und Medaken je einen Hasen!
Auch am Spinnabend bei Přibeks sprach man lebhaft darüber. In der geräumigen Stube, in der es so wohlig warm war, ging es rege zu, man war hier auch fröhlicher, weil von hier der Schatten, der wortkarge, schweigsame Mathias Přibek, dessen Antlitz jetzt stets eine Wolke bedeckte, verschwunden war. Er ging gleich mit Anbruch der Abenddämmerung aus, als wollte er die Gesellschaft, die sich hier versammeln sollte, meiden, oder als fühle er vielleicht, dass er in sie nicht recht passe.
Sein alter Vater nahm aber unter dem jungen Volke, unter den Burschen und den Flachs spinnenden Mädchen, zu denen sich auch Dorla, das junge Weib des Dudelsackpfeifers Jiskra Řehůřek gesellte, Platz. Er hatte sie selbst dazu bewogen, dass sie herkomme, und versprach, dass er sie bald abholen und mit ihr nach Hause zurückkehren werde. Sie gehorchte gerne, denn sie kam aus ihrer Einschichte dort am Walde nur sehr selten unter die Menschen, nach denen sie sich gar oft und namentlich jetzt, an den endlosen Winterabenden, sehnte. Doch die Spinnabende waren jetzt nicht mehr das, was sie einst gewesen. Selbst hier, wo sonst frohe Lieder, Scherze und Lachen ertönten, trat der Ernst der Zeit zutage. Selbst das leichtfertige und Grübeleien abholde junge Volk belustigte sich nicht in der üblichen Weise; man konnte in den Gesprächen die Ereignisse der jüngsten Zeit nicht unberührt lassen, namentlich hier, im Hause des Mathias Přibek, nicht.
Für einen Augenblick vergass man aber die Gegenwart doch, und zwar bei Gelegenheit der Besprechung der letzten grossen herrschaftlichen Jagd. Man gedachte auch der alten Zeiten und folgte im Geiste dem greisen Přibek, der sie in die Vergangenheit führte, in die riesigen Waldungen, die damals noch ihnen gehörten und voll von Wild waren. Er erzählte, dass es in seinen jungen Jahren viel mehr Bären als jetzt gab und dass jedes Dickicht von Wölfen wimmelte.
»Im Winter hatten wir allnächtlich, wenn es Schneewehen gab, eine hübsche Musik vor dem Hause. Die Wölfe heulten fürchterlich und jeden Morgens waren die Wolfsgruben voll dieses Wildes. Wolfspelze waren spottbillig und wer in die Stadt ging, musste sich darauf gefasst machen, dass ihm so ein Wölflein begegnen werde. Ich selbst habe ihrer genug erschlagen und diese Čakane könnte so manches erzählen –«
Aller Burschen und Mädchen Augen flogen der Ecke zu, die der alte Přibek durch Wink und Blick angedeutet, und einer der Jünglinge holte die Čakane hervor, um sie zu besichtigen.
Sie war ungemein hoch und stark, aus Eichenholz und offenbar für eine sehr starke und wuchtige Hand, wie sie nur den Přibeks eigen war, angefertigt. Unter dem glänzenden Streithammer war der Stiel gelb beschlagen und auf dem leuchtenden Beschläge blitzten einige in Silberreifchen gefasste rote und blaue falsche Edelsteine. Den Burschen gefiel die Waffe des Beschlages halber ungemein. Man prüfte, wie sie schwer ist und wie sie sich handhaben lasse.
»Sie dürfte schon ziemlich alt sein« – meinte einer von den Burschen.
»Jawohl, älter als du und ich. Mein Grossvater pflegte sie schon zu tragen, es war ja das einzige, was ihm nach jenem Kriege, in dem die Kaiserlichen Aujezdl niederbrannten und alles fortschleppten, übrig blieb. Ja wenn sie, mein Lieber, sprechen könnte! Die hat eine schöne Anzahl von Wölfen erlegt! Und auch einen Menschenschädel spaltete sie einst. Der Grossvater selbst versetzte mit dieser Čakane einem kaiserlichen Leutnant, der die selige Grossmutter folterte, einen Hieb, dass er verreckte.«
Jetzt betrachteten die Burschen mit noch grösserem Interesse die mächtige Waffe und auch die Mädchen erhoben sich oder sie streckten die Hälse, um sie zu sehen, und eine von ihnen, eine Schwarzäugige mit langen Zöpfen, rief auf des Greises Worte:
»Hu! Wie das Einen kalt überläuft!«
»Und was geschah dafür dem Grossvater, Bauer?« fragte ein Bursche.
»Was ihm geschah? Das Hasenpanier musste er ergreifen und sich in die Wälder flüchten.
Wie Bienen stürzten sie ihm nach. Das war aber auch Einer! Einen Erbsensack trug er wie Flaum, wer weiss bis wohin. Ihr Burschen, bildet euch weiss Gott was ein, damals gab es aber doch noch andere Kampeln, die ein ganz anderes Blut hatten. Das, was mein Grossvater tat, würde keiner von euch tun. Der wich im Walde nie einem Bären aus. Er raufte mit ihm, wie mit einem Buben. Einst hob er ein Bärennest aus und trug vier junge Bären heim. Als er bereits beim Bache war, hörte er im Rücken Gebrülle. Es war die Bärin! Sie lief ihm nach, fletschte die Zähne und brüllte wegen der Jungen. Der Grossvater lief, so viel er nur konnte. Es war auch an der Zeit, denn die Bestie flog wie der Wind, immer näher und näher bis zum Dorfe – ja selbst ins Dorf. Hier liefen aber die Leute zusammen und erschlugen die Bärin.«
»Und was machte der Grossvater mit den jungen Bären?«
»Nun, sie hatten ihn ganz blutig gebissen. Er brachte sie sodann in die Stadt auf die Chodenburg dem Herrn königlichen Burggrafen, der sie wieder einem Herrn nach Prag geschickt haben soll.«
»Wollte doch so ein Bär den Lomikar fressen, bis er wieder einmal jagen wird!« meinte einer von den jungen Männern.
»Oh! dieser gezeichnete Judas würde den Wölfen lieber ein paar Choden hinwerfen. Jetzt werden sie zu allem gut sein –«
»Sst! – Ruhe – hört ihr! Schlittengeläute!« liess sich Manka vernehmen. Alle verstummten und horchten.
Man hörte nichts. Manka behauptete aber, sich nicht getäuscht zu haben.
»Wer würde sich denn heute hinauswagen – in diesem Hundewetter!«
Und doch verstummten sie wieder, um noch mehr zu horchen. Man vernahm aber nichts, nur das Pfeifen des Windes, der ganze Massen Schnee gegen die Fensterscheiben trieb.