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Aufklärungen

Die Sonne sandte ihre warmen Frühlingsstrahlen ins Tal und auf die Höhen des Thüringer Waldes. Schon regte es sich überall, auf den Feldern wuchs die grüne Saat, auf den Wiesen sproßte das Gras und in den Gärten und Wäldern streckten sich die Blümlein der Sonne entgegen und erschlossen ihre Kelche. Jetzt erst merkte Hanna, wie schön es hier war. Welch eine Freude, auf die Berge zu wandern und von da ins Land zu schauen und sich der Herrlichkeit Gottes zu freuen! Leider konnte der alte Herr und seine Tochter an solchen Spaziergängen nicht teilnehmen. Aber mit Frau Bogelius' Befinden ging es von Woche zu Woche besser.

Der alte Major mochte sich nicht mehr von Hanna trennen; er nannte sie oft scherzweise sein Töchterchen und behauptete, sie müsse immer bei ihnen bleiben. Dann pflegte sie zu erröten, Frau Bogelius aber bedeutete dem Vater immer wieder, daß Hanna mit einem jungen Theologen verlobt sei und bald zu heiraten gedächte.

Eines Tages sah Frau Bogelius zufällig einen Brief, den Hanna an eine Frau Ulrike Maß adressiert hatte. Sie kümmerte sich eigentlich nie um Hannas Post. Sie schrieb regelmäßig an ihren Verlobten und nach Hause und beförderte ihre Briefe immer selbst in den Briefkasten. Heute hatte sie das Mädchen darum gebeten.

»Was ist das für eine Frau Maß, an die Sie geschrieben haben, Hanna?« fragte Frau Bogelius.

»Es ist die Mutter meines Verlobten«, versetzte Hanna erstaunt, da sie meinte, den Namen des Herrn Maß schon öfters genannt zu haben.

»Ich wußte nicht, daß der junge Theologe Maß heißt, und der Vorname seiner Mutter ist also: Ulrike?«

»Ja.«

»Schreibt Ihre Schwiegermutter öfter an Sie?«

»Eigentlich nicht.«

»Weiß sie, bei wem Sie sind? Wie adressiert sie die Briefe?«

»Nun, an mich, bei Frau Bogelius«, sagte Hanna verwundert.

»Also nicht per Adresse meines Vaters«, sagte sie gedankenvoll und ging sinnend nach draußen.

Ulrike Maß? Der Name war ihr wohlbekannt, hatte nicht ihre Schwester einst diesen Namen getragen? Ihre Schwester, die seit vielen Jahren für sie verschollen gewesen war!

Sie mußte den ganzen Tag daran denken und nahm sich vor, am Abend Hanna gründlich über die Familie ihres Verlobten, die sie bis jetzt wenig interessiert hatte, auszufragen.

Inzwischen hatte Hanna wichtige Briefe von zu Hause bekommen. »Denke dir«, schrieb Erika, »was wir erlebt haben. Mein Augenarzt, zu dem ich gar nicht mochte und der zuerst sehr kurz angebunden war, hat sich als Mutters guter Freund von früher entpuppt, als Sohn ihrer besten Freundin. Er nennt Mutter sogar ›Tante Anna‹ und sie sagt: ›Wolfgang‹ und ›du‹ zu ihm! Nun ist er unser aller Freund geworden. Tante Julia hat ihn auch gern; er nimmt an unsern musikalischen Abenden teil und kommt außerdem, sooft es seine Zeit erlaubt. Er sagt, das Rosenhaus habe es ihm angetan. Er ist ein sehr geschickter Arzt und verdient viel Geld. Gegen Julius ist er reizend. Unser Bruder soll im Herbst nach Tübingen; Mutter hat jetzt das Geld dazu. Doktor Müller sagt, was Mutter nicht hat, das hat er. Er will mit für Julius' Studium aufkommen. Ich weiß nichts Genaues darüber, aber ich glaube – Mutter spricht mit uns nicht davon, ich habe nur so etwas gehört – ich glaube, sie hat ihm früher einmal aus der Patsche geholfen. Aber sprich und schreibe nicht darüber.

Du kennst meine Abneigung gegen die Ärzte, aber diesen muß man beinahe gern haben, wenn man ihn näher kennt. Er neckt mich gern, und Karl wie auch Julius, die Quälgeister, helfen ihm dabei. Er meint, das viele Studieren soll ich an den Nagel hängen, das sei nichts für mich. Nun tue ich es gerade; es macht mir Freude. Die gute Tante Julia sorgt für uns alle in rührender Weise. Sie wird aber auch älter und müßte mitunter mehr Ruhe haben.

Ika ist ganz die alte. Ich versuche oft, ihre Sprechweise zu verfeinern, aber es wird mir wohl nie gelingen. Sie bleibt ein Original und sagt immer noch alles frei heraus. Wie sie's mit dem Doktor machte, erzähle ich dir mündlich. Ihr Schatz ist immer noch mit seinem Herrn im Süden. Er schreibt aber öfters, sie solle Geduld haben, er komme, sobald dieser die Augen zugetan habe. Wenn er bis zuletzt aushielte, wäre es ihr Vorteil. Wir sind natürlich froh, daß wir sie noch haben, wir bekommen schwerlich ein so treues Mädchen wieder. Der alte Wolf arbeitet auch noch mit. Alle lassen dich grüßen, sogar der Doktor, unbekannterweise. Er tut ganz, als ob er zur Familie gehörte. Das kommt alles von Mutter, die sehr bekannt mit ihm ist.

Grüße meinen Schwager von mir, wenn du ihm schreibst.«

So plauderte Erika von allem, was daheim geschah. Hanna war natürlich entzückt über den Brief und erzählte Frau Bogelius davon.

Am Abend saßen sie, wie gewöhnlich, mit dem alten Herrn zusammen, und später unterhielt man sich über alles mögliche. Frau Bogelius hatte sich vorgenommen, Hanna einmal auf den Zahn zu fühlen.

»Sie sagten heute, liebe Hanna«, begann sie, »die Mutter Ihres Verlobten heiße Ulrike Maß, wissen Sie, was für eine geborene sie gewesen ist?«

Der alte Major sah bei dieser Frage verwundert auf.

Hanna antwortete unbefangen, sie wisse nicht, wie die Eltern ihrer Schwiegermutter geheißen haben; sie wisse nur, daß es eine traurige Geschichte sei. Die Mutter sei von ihrem Vater verstoßen, weil sie gegen seinen Willen geheiratet habe. Ihr Mann, ein Musiklehrer, sei aber ein feiner Mensch gewesen, der alles getan habe, ihr ein sorgenfreies Leben zu schaffen. Er sei aber früh gestorben und habe sie mit einem Knaben zurückgelassen. Ihn habe sie unter großen Entbehrungen großgezogen und es sogar ermöglicht, daß er Theologie studieren konnte.

Sie hatte dies ruhig erzählt, wie man irgendeine Geschichte erzählt. Plötzlich drückte der alte Herr auf seine Klingel, so heftig, daß sie erschrocken auffuhr. Der junge Mann, der stets zu seiner Bedienung bereit war, erschien und half dem alten Herrn von seinem Stuhl; der Major reichte Hanna nicht die Hand, wie er es sonst zu tun pflegte, er wünschte nur ganz allgemein eine gute Nacht und verschwand mit dem Diener im Nebenzimmer. Hanna sah Frau Bogelius befremdet an und wußte nicht, was sie denken sollte.

»Hat meine Erzählung Sie betrübt? Hätte ich es nicht sagen sollen? Aber Sie haben mich gefragt – doch Frau Bogelius, warum weinen Sie? Habe ich Ihnen wehe getan?«

»Ich denke an meine Schuld, an meine große Schuld! Ich war es, die meine Schwester Ulrike verspottet hat, die nichts von ihr wissen wollte, weil sie den Musiklehrer Maß heiratete. Ich war es, die den Vater gegen sie einnahm, ich törichtes Mädchen.«

Hanna fand vor Staunen keine Worte. Nach einer Weile ergriff sie die Hand der Frau und sagte: »Sie sind so gut, Frau Bogelius, ich kann mir nicht denken, daß Sie je anders gewesen sind.«

»Doch, ich war sehr viel anders. Gott hat mich in eine harte Schule nehmen müssen, er hat mich gründlich demütigen müssen, ehe ich dazu gekommen bin, mein Unrecht einzusehen. Also der Mann meiner Schwester ist so bald gestorben! Wir hörten damals, er sei ins Ausland gegangen. Dies wurde uns sogar als sicher bestätigt. Es ist, wie ich nun höre, eine falsche Nachricht gewesen! Wenn ich das hätte ahnen können, daß meine Schwester als Witwe nicht weit von hier lebt! Wie sind Sie denn mit meiner Schwester bekannt geworden?«

»Durch den Sohn«, sagte Hanna errötend. »Er wohnte während seiner Studienzeit bei meiner Tante. Sie hat sehr viel für ihn getan.«

»Ihre Tante muß eine gute Frau sein. Wie kam sie aber zum Sohn meiner Schwester?«

»Der Pastor des Dorfes, in dem meine Schwiegermutter lebt, interessierte sich sehr für meinen Verlobten und hat an unsern Herrn Pfarrer geschrieben, ob er ihm in der Universitätsstadt nicht ein billiges Unterkommen verschaffen könne.«

»Und da hat Ihre gute Tante ihm nicht allein freie Wohnung, sondern auch Beköstigung für alle Jahre gegeben? Und wir haben nichts für die arme Schwester getan, haben immer in Überfluß gelebt, während sie gehungert hat und andere Leute für ihren Sohn sorgen mußten! Ich habe immer geglaubt, Ulrike würde eines Tages mit Mann und Kindern zurückkommen, nun ist alles so ganz anders geworden.«

Hanna erzählte nun von ihrer Schwiegermutter und fügte hinzu, daß sie nie eine Klage oder einen Vorwurf gegen ihre Verwandten gehört habe.

»Sie war immer besser als ich«, klagte Frau Bogelius.

»Morgen spreche ich mit meinem Vater, die Schwester muß so bald als möglich zu uns ins Haus. Dann wollen wir sie pflegen, nicht wahr, liebe Hanna, Sie helfen mir dabei? Wir wollen versuchen, das Unrecht wiedergutzumachen. Mein Vater wird keine gute Nacht haben, es war nicht recht von mir, daß ich in seiner Gegenwart fragte. Das aber weiß ich, daß er wie ich denkt, daß er seine Ulrike lieber heute als morgen wieder aufnimmt.«

Frau Bogelius redete noch lange von den vergangenen Tagen und klagte sich immer wieder der Härte und Ungerechtigkeit an.

Endlich aber, es war schon Mitternacht vorüber, ging man zu Bett.

Man schlief wenig in dieser Nacht. Der alte Herr warf sich ruhelos hin und her, seine Tochter arbeitete an einem Reiseplan, den sie dem Vater am folgenden Tage vorlegen wollte. Hanna dachte, wie wunderbar doch Gottes Wege seien, und was wohl die Schwiegermutter und ihr Verlobter zu der heutigen Entdeckung sagen würden.


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