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Eine unerwartete Mitteilung

»Mußt du schon wieder fort, Anna?« fragte die Schwester eines Tages, als die Schneeflocken durcheinanderwirbelten und der Wind um das Haus pfiff.

»Heute haben wir etwas Besonderes vor, Julia. Es ist eine wichtige Versammlung, an der unser Herr Pfarrer und einige andere Geistliche der Stadt teilnehmen. Es geht um den Religionsunterricht an den Schulen. Du weißt«, fuhr sie erklärend fort, »daß manche moderne Lehrer die Grundsätze unseres Glaubens verneinen. Man will die Bibel nicht mehr als Gottes Wort anerkennen und die Gestalt unseres Heilandes herabwürdigen. Auch eine Anzahl der Lehrer unserer Stadt wollen den Religionsunterricht aus den Schulen verbannen. Dagegen wollen wir kämpfen.« Mit diesen Worten ging sie, die Kapuze über den Kopf gezogen, einen Abendmantel um die schlanke Gestalt.

Julia war im ersten Augenblick ganz benommen. So hatte sie die Schwester nie reden hören. Im Gegenteil, sie hatte oft gefürchtet, Anna entferne sich immer mehr von Gott. Die großen Geselligkeiten, in die sie hineingeraten, dienten nach ihrer Meinung weder der inneren Ruhe und Sammlung noch dem Seelenfrieden der Schwester. Es freute sie deshalb doppelt zu hören, daß sie gewillt war, ein Bekenntnis für den Herrn abzulegen. Ja, Charakter hatte die Anna. Da ging sie aufrecht durch Schnee und Sturm. Julia fühlte wieder, wie ein starkes Gefühl von Liebe für diese ihre einzige Schwester sie durchströmte.

»Was sie kann, kann ich auch«, dachte sie. »Gesund bin ich, warum mich nicht auch dem Wind und Wetter aussetzen? Wollte schon lange meine Kranken besuchen, heute werden sie sich doppelt freuen.«

Sie ging nach oben und klopfte an die Türe des Studenten. Auf sein »Herein« öffnete sie die Tür. Da saß er schreibend inmitten eines Haufens Bücher. Sofort sprang er auf und ging dem Fräulein entgegen.

»Ich habe einige Gänge in der Nachbarschaft vor und wollte Sie nur bitten, lieber Herr Maß, ein Auge auf Ika zu haben. Sie soll das Haus während meiner Abwesenheit nicht verlassen, es ist hier in der Nähe ein junger Mensch – Sie wissen – man muß die Mädchen hüten.«

Er lächelte verlegen.

»Was ich dabei tun kann, soll geschehen«, sagte er, wenn ihm auch nicht klar war, was geschehen sollte.

Als Julia zurückkam, schüttelte sie sich den Schnee vom Mantel. Da kam auch schon Ika eilfertig herbei und nahm ihr die Sachen ab.

»Herr Maß«, berichtete sie, »hatte heute aber viel zu fragen, alle paar Minuten rief er mich, bald hatte er dies, bald jenes. Sonsten, wenn er so arbeiten tut, mit all die Büchers um ihn herum, dann sitzt er wie festgenagelt am Stuhl. Sonderbar, nicht wahr, Fräulein?«

Julia überhörte geflissentlich die Frage und dachte, daß sie recht ungeschickt gehandelt hatte, dem jungen Mann die Bewachung ihres Mädchens zuzumuten.

Sie erzählte Ika, daß sie bei ihrer Großmutter gewesen sei. Der Großmutter größter Wunsch sei, daß sie ein frommes und fleißiges Mädchen sein möge. »Du wirst sie nicht mehr lange haben, Kind; sie wird bald in die ewige Heimat abgerufen werden; wer wie sie im Glauben aufwärts blickt, der kann in Frieden scheiden.«

Ika traten die Tränen in die Augen. »Ja, ich wollte, ich wäre wie meine Großmutter«, schluchzte sie. »Aber ganz schlecht bin ich doch nicht, Fräulein, ich konnte nichts dafür, daß er plötzlich in der Küche stand, als Sie fort waren.«

»Wer?« rief Julia, und eine Ahnung stieg in ihr auf.

»O der von drüben. Er hatte wohl gesehen, daß Sie weggingen.«

»Ika!«

»Bscht, stille Fräulein, er geht weit fort. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, einen neuen schaff ich mich nich an. Er will mir immer treu bleiben. Er geht mit seinen Leuten nach dem Süden, der alte Baron ist kränklich, und soll immer dort bleiben. Er wollte mich bloß Adieu sagen. Wir konnten aber gar nicht viel reden, weil der da oben immer nach mir rief.«

Julia hatte nun eine ernste Unterredung mit Ika, die damit endete, daß sie, wenn der junge Mann es wirklich treu meinte und sie später zu heiraten gedächte, alles mit der Mutter und Großmutter besprechen müsse.

»Es ist schon in Richtigkeit, Mutter und Großmutter wissen es. Ich soll ihn behalten.«

 

Anna kam frohbewegt nach Hause. »Das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit«, sagt sie. »Es fanden sich viel mehr Teilnehmer, als wir gedacht hatten; wir werden um unser Recht bis aufs äußerste kämpfen.«

»Das ist schön, Anna, ich bin ganz glücklich, daß du in dem einen Punkt mit mir übereinstimmst.«

»Hast du je daran gezweifelt?«

»Du sprichst dich so wenig darüber aus –«

»– und führst ein so weltliches Leben«, setzte Anna hinzu, und eine leise Bitterkeit lag in den Worten.

»Ich kann nicht viel von dem sprechen, was mein Innerstes bewegt, das ist nicht jedem gegeben.«

Julia schwieg. Hatte Anna nicht recht? Hatte sie, die ältere Schwester, nicht oft im stillen geseufzt, daß die jüngere nach ihrer Meinung zu viel Zerstreuung suchte?

Als sie eine Zeitlang stumm einander gegenüber gesessen hatten, streckte Julia der Schwester die Hand entgegen. »Sei mir nicht böse, Anna, du bist und bleibst meine liebe, gute Schwester, wir sind beide eben verschieden veranlagt.«

»Ja, sehr verschieden, deswegen können wir uns mitunter nicht verstehen; wir können uns aber trotzdem liebhaben.«

»Gewiß«, stimmte Julia aus vollem Herzen bei, »wir haben uns trotzdem sehr, sehr lieb.«

 

Dieser Winter gestaltete sich für die Besitzerin des Rosenhauses weit angenehmer als alle vorhergegangenen. Nun hatte sie nicht nur ihre Anna im Hause, auch einen liebenswürdigen jungen Mann, und die frische Ika gab durch ihr urwüchsiges Wesen oft Anlaß zur Freude.

Dazu kam, daß Herr Maß sehr musikalisch war, und sooft es seine und Annas Zeit erlaubte, entweder mit ihr vierhändig spielte oder sie auf der Violine begleitete. So wurde oft abends noch ein Stündchen musiziert, und wenn das musikalische Kränzchen im Rosenhaus stattfand, wurde Herr Maß natürlich zur Teilnahme aufgefordert. Auch ein Freund von ihm, ein gewisser Herr Olsen, der sehr viel zu ihm kam, wurde ein gern gesehener Gast dieser Abende.

An einem Wochentag jedoch, einem Dienstag, ging es um die Mittagszeit besonders lebhaft im Rosenhaus zu. Da sah man alte Weiberchen mit Henkeltöpfen oder Kinder mit verdeckten Körben nach dem Hause pilgern und sehr befriedigt, ihre Gefäße vorsichtig tragend, wieder herauskommen.

»Das ist aber ein gutes Fräulein«, hörte man dann wohl sagen.

Drinnen am Herd aber stand das kleine Fräulein mit der großen Kelle und füllte die Gefäße der Umherstehenden. Ihr Gesicht war zinnoberrot von der Glut des Ofens, und ihre Augen strahlten, jeder bekam ein freundliches Kopfnicken und mancher, der einen Kranken zu Hause hatte, wurde teilnehmend gefragt, wie es gehe.

»Aber das gibt einen Aufwasch heute«, seufzte Ika.

»Schäme dich! Muß man nicht für seine Mitmenschen gerne etwas tun? Du hast reichlich zu essen, gönne es den Armen und Kranken mit Freuden, auch wenn du ein paar Töpfe mehr abzuwaschen hast.«

Ika schwieg. Sie besann sich plötzlich, daß am heutigen Abend die vierte Bitte mit der Erklärung aufgesagt werden müsse und lenkte schnell ein. »Ich will's schon machen«, meinte sie, »aber ob's die alte Marie fertiggebracht hätte?«

So verging ein Monat nach dem andern, und wieder war es Frühling geworden. Julia ging allemal das Herz auf, wenn es sich in ihrem Garten zu regen begann. Sie kannte jedes Blümchen, jeden Baum und jeden Strauch. Schon wenn die Bäume Saft gewannen, wenn die ersten Spitzen der Schneeglöckchen hervorsahen, begannen ihre Wanderungen durch den Garten. Und wenn die ersten Frühlingsblumen ihre Kelche erschlossen, das erste Grün an den Büschen sich zeigte, wenn die Schwalben ihre Nester bauten und sich die Lerche singend aufwärts schwang, dann wurde es ihr froh und leicht ums Herz.

»Herr Maß«, rief sie eines Tages nach oben, als sie ihn im Fenster sah, »kommen Sie doch ein wenig zu mir in den Garten. Sie können ein Sträußchen Schneeglöckchen pflücken.«

Eine Minute später war er schon unten und hatte bald ein Sträußchen fertig. Mit den Worten: »Das erste für Sie, Fräulein Julia«, überreichte er ihr den Frühlingsgruß.

Nun erschien auch Anna, und zu dritt spazierten sie durch den Garten.

Herr Maß entfernte sich jedoch nach einer Weile, und die beiden Schwestern waren allein.

Julia war heute in gehobener Stimmung. Gerade vor einem Jahr war die Erbschaftsache vor Gericht geregelt worden. »Weißt du noch, Anna, wie ich dann den Wunsch aussprach, du solltest kommen und alles mit mir teilen?«

»Ich weiß es«, sagte Anna. »Wie freute ich mich damals!« Sie ergriff Julias Arm und fuhr fort: »Laß uns ein wenig auf und ab gehen, ich möchte – doch nein, da ist Wolf, er braucht es nicht zu hören.« Annas Gesicht hatte schon seit mehreren Tagen nicht mehr den lebensfrischen, frohen Ausdruck, im Gegenteil, es lag ein tiefer Ernst auf ihren Zügen.

Julia hatte sie einige Male prüfend angesehen, als ob sie ihr Inneres erforschen möchte, aber fragen wollte sie nicht, ob etwas sie bedrücke. Sie wußte, daß sie es ihr zur rechten Zeit sagen würde. Vielleicht war ihr Befinden nicht nach Wunsch, der Kopf schmerzte gewiß – nun, da würde die frische Luft gerade recht sein.

»Du solltest sehen, Anna«, fuhr Julia fort, »wie hübsch sich allmählich der Garten entwickeln wird. Wenn erst die Rosen am Haus zu knospen und zu treiben beginnen, wenn eine nach der andern sich erschließt und alles blüht und duftet, dann wirst du dich – aber Kind, was ist dir, hast du Schmerzen?«

»Nein, das nicht, aber ich habe dir etwas zu sagen, was mir seit einiger Zeit auf dem Herzen liegt. Laß uns hinunter zu den Bäumen gehen, ich möchte nicht, daß jemand uns hört.«

In Julia stiegen allerlei Gedanken auf, aber an das zu denken, was sie jetzt hören sollte, lag ihr so fern wie der Nordpol.

Sie hatten den unteren Teil des Gartens erreicht. Julia sah Anna erwartungsvoll an.

»Nun, so rede doch!«

»Ich denke daran, mich zu verloben«, kam es kaum hörbar von Annas Lippen.

Wenn der Blitz neben Julia eingeschlagen hätte, so hätte sie nicht erschrockener sein können, als durch diese Worte ihrer Schwester. Sie starrte Anna verständnislos an und rief nur: »Was – was sagst du?«

»Daß ich im Begriff bin, mich zu verloben.«

»Ich bitte dich, Anna, mit wem denn?«

»Es ist ein älterer Mann, ein Witwer.«

»In deinem Alter willst du noch heiraten, Anna?«

»Ich bin achtunddreißig Jahre. Hast du noch nie gehört, daß Mädchen in diesem Alter auch ein Recht auf Liebe haben?«

Julias Nase wurde immer länger, das Gesicht verlor seinen frischen Ausdruck.

»Laß uns nur hineingehen, Julia. Du redest so laut, daß Wolf schon mit seiner Arbeit innehält und sich nach uns umsieht.«

»Wolf weiß, daß jetzt Mittag ist. Ich bitte dich, Anna, beruht alles, was du eben gesagt hast, auf Wahrheit, oder machst du einen Aprilscherz?«

»Zum Scherzen ist die Sache zu ernst, aber bitte, wir wollen jetzt still sein. Wenn ich geahnt hätte, daß dich die Sache so aufregt, würde ich hier draußen geschwiegen haben.«

Als sie ins Haus gingen, trat Ika ihnen entgegen mit der Meldung, daß angerichtet sei. Schon hörte man den Studenten die Treppe herunterkommen.

So mußten sie beide schweigen von dem, was sie tief bewegte, aber weder Anna konnte ihr erregtes Gesicht, noch Julia ihre verstörte Miene verbergen. Herr Maß fühlte, daß etwas zwischen den Schwestern vorgegangen sein müsse, und war durch diese Wahrnehmung ganz bedrückt. Und als Ika die Speisen brachte und Julia sagen hörte, sie habe heute keinen Appetit, schüttelte sie beim Hinausgehen mit dem Kopf und dachte: »Was ist das nur mit die Fräuleins heute, daß sie alle beide nich essen? Sie werden doch keine ansteckende Krankheit bekommen?«

Eine ansteckende Krankheit hatten sie nicht, aber vielleicht etwas Schlimmeres, etwas, das die Herzen zu entfremden drohte. Als das Studentlein sich wohlweislich so bald als möglich aus dem Staube gemacht hatte und Ika außer Hörweite war, wurde das abgebrochene Gespräch weitergeführt, denn es war nicht Annas Sache, nun, da sie einmal entschlossen war zu reden, das Gespräch ruhen zu lassen.

»Julia, du scheinst mein Vorhaben zu mißbilligen. Es tut mir gewiß herzlich leid, dich bald verlassen zu müssen. Aber ich habe ernstlich gekämpft, als ich den Antrag erhielt. Ich muß es als Gottes Willen ansehen und darf nicht nein sagen. Wenn ich den Mann hochachte und schätze, wenn ich seinen Kindern die Mutter ersetzen soll –«

»Kinder sind auch da?« rief Julia. »Wieviel denn?«

»Fünf«, antwortete Anna und fügte halblaut hinzu: »Eigentlich sechs.«

Das letztere überhörte Julia. Sie schlug die Hände zusammen: »Fünf Kinder! Und du die Stiefmutter! Du hast dir etwas Schönes eingebrockt.«

»So möchte ich es nicht ansehen, sondern als eine große Verantwortung, die mir Gott anvertrauen will.«

Anna lehnte sich im Stuhl zurück, während Julia, die ihr gegenübersaß, sich ganz nach vorn beugte, den Kopf zum Boden geneigt, als wollte sie nichts mehr sehen und hören. Plötzlich fragte sie von unten herauf:

»Was ist er denn?«

»Er ist Beamter.«

Wieder tiefes Schweigen. Endlich erhob sich Julias kleine Gestalt aus dem Stuhl. Sie stellte sich gerade vor Anna hin und sagte: »Du mußt es wissen. Ich will dir nichts in den Weg legen.« Damit verließ sie das Zimmer.

»Auch das noch«, sagte Anna. »Ich glaubte schon, die Kämpfe der letzten Wochen seien genug und nun soll ich über dem allem noch die Liebe meiner einzigen Schwester verlieren!« Wie war nur alles so gekommen?

Sie hatte – es war damals im Herbst gewesen, als sie mit mehreren befreundeten Familien den Ausflug machte – diesen Amtsrichter Böckel kennengelernt. Warum er sich besonders viel mit ihr unterhielt, ahnte sie damals nicht. Sie wußte nicht einmal, daß er Witwer war, und gab sich ganz unbefangen. Er war ein kluger, gebildeter Mann und, was sie besonders anzog, ein Christ in des Wortes wahrster Bedeutung.

In diesem Winter traf sie ihn öfters in der Familie des Amtmanns Weber, bei der er auch im Herbst zu Besuch gewesen war. Inzwischen hatte sie gehört, daß er viel Schweres durchgemacht und durch den Tod seine Frau verloren habe, und auch noch den ältesten Sohn, der ihm viel Kummer gemacht hatte und ausgewandert war.

Sein Antrag traf sie nicht unvorbereitet. Sie lehnte erst ab, aber als er zum zweitenmal kam, ihr die große Not schilderte, und daß seine Kinder dringend einer Mutter bedürften, die er in ihr gefunden zu haben glaube, da war sie entschlossen, ihr Jawort zu geben. Hatte sie unrecht getan, daß sie nicht früher mit der Schwester gesprochen hatte? Anna war sonst nicht zurückhaltend, aber war es die Furcht, Julia große Aufregung zu verursachen, war es der Gedanke, undankbar zu erscheinen, kurz, es fehlte ihr der Mut, mit Julia zu sprechen.

Sollte sie, um bei der Schwester gute Tage zu haben, eine große Aufgabe, die Gott ihr geben wollte, von sich weisen?


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