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Eine Überraschung

Träumte sie oder wachte sie? Gesang erschallte laut vor ihrer Tür.

Es mußten ihre Schülerinnen sein, die ihr Lieblingslied sangen: »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren.« Nun stimmten sie den zweiten Vers an. Und die Lehrerin lag noch im Bett! Allerlei Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Es war doch heute nicht ihr Geburtstag! Was fiel nur in aller Welt den Kindern ein, ein Ständchen zu bringen? Und statt nach der täglichen Garderobe zu greifen, hatte sie unwillkürlich das Sonntagskleid erwischt und sah wirklich ganz festtäglich aus, als das: »Lobt ihn in Ewigkeit! Amen« verklungen war und sie die Tür voll heimlicher Erwartung öffnete.

Da standen nun die Schülerinnen, groß und klein, in ihren besten Kleidern. Die Vordersten hielten eine zierliche Girlande, die sie lachend um die geliebte Lehrerin schlangen, und als Anna verwundert fragte: »Kinder, was ist nur? Was habt ihr vor?« da antworteten mehrere zugleich: »Wissen Sie nicht, Fräulein Golf, daß Sie heute gerade zehn Jahre an der Schule sind?« Da trat die älteste aus der Schar vor, sagte ein passendes Gedicht auf und überreichte einen länglichen Korb.

Anna war ganz überrascht: »Kinder, kommt nur herein und packt selber aus, was ihr da mitgebracht habt.«

»O ja, o ja!« riefen die jugendlichen Stimmen durcheinander. Viele Hände griffen in den Korb und ehe Anna sich's versah, stand ein reizendes Kaffeegeschirr auf dem Tisch.

»Reizend sieht es aus«, sagte Anna. »Gerade an Tassen fehlte es mir immer. Nun sollt ihr aber alle einmal zur Einweihung des Services eingeladen werden.«

»Das Beste kommt noch«, rief die Älteste und überreichte ihrer Lehrerin ein dunkles Kästchen. Als Fräulein Golf es öffnete, glänzten ihr zwölf silberne Teelöffel entgegen. Gerührt rief sie aus: »Kinder, das ist ja viel zu viel! Nun fehlt nur noch eine große Kanne mit Schokolade und Kuchen dazu. Aber ich habe ja nichts gewußt, sonst hätte ich vorgesorgt. Doch wie ist es mit der Schule heute? Eigentlich sollten wir nun anfangen.«

»Geht nicht, geht nicht!« fielen die Kinder ein. »Heute soll frei sein, haben die Eltern gesagt. Um zehn Uhr kommt ein Omnibus.«

»Darin sitzt unsere Mutter«, begannen zwei Schwestern, »die holt Sie und uns alle ab.«

»Da kommt ja eine Überraschung über die andere«, rief Anna fröhlich und gerührt über die Aufmerksamkeiten, die ihr von den Eltern der Kinder bereitet wurden. Sie hatten sich den Tag ihrer Ankunft genau gemerkt, während sie selbst wohl wußte, daß sie zehn Jahre schon hier war, aber doch nicht darüber nachgedacht, daß sie heute, gerade heute, ihr Jubiläum an der hiesigen kleinen Privatschule hatte.

Sie holte nun ihre Bilderalben und forderte die Kinder auf, ihr in das hinten gelegene große Schulzimmer zu folgen. Dort verteilte sie die Alben unter den Schülerinnen, die sich die Bilder ansehen sollten, bis der verheißene Omnibus kam. Sie bedurfte ein Weilchen der Ruhe, um sich zu sammeln. Welch ein Gegensatz, der gestrige Tag und der heutige!

Sie verließ das Schulzimmer und wollte eben ihre Wohnstube betreten, als jemand die Küchentür aufstieß, und die Gestalt von Frau Gründler sich zeigte. Sie trug ein Kaffeebrett und sagte ärgerlich:

»Was ist denn hier heute bloß los. Das kann doch keine Schule sein, wenn alles in Sonntagskleidern herumläuft. Wissen Sie, daß Sie noch nicht einmal eine Tasse Kaffee getrunken haben heute morgen?«

Fräulein Golf nahm dankend die Tasse vom Brett und erzählte schnell, was sich ereignet hatte.

»Ne, ne, was das alles ist heutzutage. Bei den Großen wird immer gefeiert. Na, das Fräulein mag es ja auch verdienen, die Kinder lernen viel bei ihr; wenn meine noch klein wären, die ließ ich auch zu ihr.«

Anna frühstückte schnell, dann ging sie wieder hinüber in die Klasse. Und als die Lehrerin nun rief: »Kinder, ich höre etwas rattern, es wird der Omnibus sein«, da gab es kein Halten mehr. Die Mädchen bemächtigten sich ihrer Jacken und Tücher und eilten die Treppe hinunter. Anna gebot Ruhe.

»Stellt euch dem Alter nach vor der Haustür auf. Wenn der Wagen kommt, stürmt nicht alle auf einmal hinein, sondern die Großen lassen die Kleinen voran. Ihr müßt meiner Erziehung Ehre machen.«

Inzwischen war der Omnibus vorgefahren. Eine elegant gekleidete Dame erhob sich schwerfällig und versuchte auszusteigen. Doch Anna kam ihr zuvor und bat sie, sich nicht zu bemühen, dann dankte sie mit herzlichen Worten für die Überraschung. Mit einem Seufzer fiel Frau Grohl auf ihren Platz zurück, streckte ihre Rechte der Lehrerin entgegen und beglückwünschte sie. Dann fügte sie, auf die Kinder zeigend, hinzu: »Mein liebes Fräulein, da sieht man Ihren guten Einfluß. Ich kann meine drei Mädel kaum regieren, und hier stehen sie wie die Orgelpfeifen und rühren sich nicht.«

Anna lächelte und winkte mit der Hand. Die Schülerinnen bestiegen sittsam den Wagen, zuletzt setzte sich Anna der Frau Grohl gegenüber.

»Nun, nur zu, Fahrer«, rief Frau Grohl, deren Stimme man es anmerkte, daß sie zum Befehlen geschaffen war. »Sie wissen ja wohin.« Der Wagen fuhr an und die Kinder riefen: »Wir wissen wohin. Wir fahren in den Wald hier auf der Höhe.«

Anna erschrak. Nur das nicht heute. Sie hätte um keinen Preis mit den Kindern dort spielen können, wo sie gestern das ernste Erlebnis gehabt hatte.

Doch Frau Grohl lachte und sagte: »Auf falscher Fährte! Heute geht's ins Tal hinunter, an einen Ort, der euch allen wohl kaum bekannt ist.«

Da erwachte die Neugierde der Mädchen. Der Fahrer war auf der Höhe geblieben, jetzt bog er in einen breiten Fahrweg ein und fuhr abwärts, dem Fluß zu. Dann ging es auf der Landstraße weiter. Was nun das Ziel der Fahrt sein würde beschäftigte die Kinder so, daß das Fragen und Beraten darüber die Zeit ausfüllte, während Frau Grohl sich angelegentlich mit Anna unterhielt.

Nun kam ein Dorf in Sicht.

»Gewiß geht es nach den Tannen«, sagte eins der größeren Mädchen.

»Aber dort gibt's keinen Gasthof, wir wollen doch auch essen«, warfen einige andere ein. »O doch, ich sehe ein neues Haus.« Alles stürzt zu den Fenstern, bis ein ernstes Wort der Lehrerin die Kinder zur Ruhe brachte.

»Es gibt hier eine neue Wirtschaft«, erklärte Frau Grohl der Lehrerin. »Da wir Ihr Jubiläum nun einmal feiern wollen, mein liebes Fräulein, so haben wir gedacht, es würde Ihnen Freude machen, das Haus kennenzulernen.«

Ein großer, schöner Spielplatz wurde sichtbar, eine Schaukel gab es hier, sogar ein Ringelreiten bot sich den Augen der entzückten Kinder, und als Anna ein »Nun tummelt euch nach Herzenslust« hören ließ, da stob die Jugend davon. Frau Grohl aber begab sich ins Haus, um zu sehen, ob man Anordnungen zum Mittagessen getroffen hatte. Sie kam befriedigt zurück und setzte sich zu Anna, die dem Treiben der Kinder zusah.

»Es werden noch einige Damen erwartet, ich denke, sie werden sich bald einstellen«, meinte Frau Grohl. »Sie wollen gemeinsam einen Wagen nehmen, wir haben es so verabredet. Mich traf das Los, Sie abzuholen.« Sie lächelte und setzte hinzu: »Ich habe immer Pech bei so etwas.«

Wenn es Anna noch zweifelhaft gewesen wäre, ob Frau Grohl aus Zuneigung für sie mitgefahren, so war sie jetzt aufgeklärt.

Schon bald erschienen auch die übrigen Damen, denen Anna ihren Dank für die freundlichen Aufmerksamkeiten aussprach.

»Wir haben einen ausgezeichneten Tag heute«, sagte Frau Klein. »Und ich hoffe, ein ebenso ausgezeichnetes Mittagessen, das Haus steht in dem Ruf, vorzüglich zu kochen«, setzte Frau Grohl hinzu. »Wir haben lange diesen Ausflug geplant«, stimmte Frau Meister ein, »es war hübsch von den Kindern, daß sie sich dies ausgedacht hatten.« Anna sah die Damen fragend an, als Frau Bach sich zu ihr wandte und sagte: »Nun, daß Sie, liebes Fräulein, heute gerade zehn Jahre an der Schule sind. Da beschlossen wir, Sie auf diesen Ausflug mitzunehmen, um Ihnen zu zeigen, wie sehr wir die Lehrerin unserer Kinder schätzen.«

»Sie haben mich schon diesen Morgen durch das wertvolle Geschenk beschämt; es wird mir stets ein Andenken an die hier verlebten Jahre bleiben«, versetzte Anna bescheiden.

Ja, Frau Grohl hatte recht, das Mittagessen war vorzüglich. Zum Schluß hob eine der Damen das Glas und brachte ein Hoch aus auf Fräulein Golf, in das die Kinder begeistert einstimmten: »Immer und immer soll Fräulein Golf hier bleiben!« riefen sie.

»Nun«, meinte Anna vergnügt, »man kann's nicht wissen. Vielleicht feiere ich, so Gott will, noch einmal mein 25jähriges Jubiläum hier, hoch lebe meine kleine Schule!«

Die Damen stießen an, aber es entging Anna nicht, daß sie sich verlegen ansahen. Nach Tisch – die Kinder waren wieder draußen beim Spiel – begann eine der Damen: »Es muß doch einmal heraus, liebes Fräulein. Als Sie erst vom fünfundzwanzigjährigen Jubiläum sprachen, wurde es uns klar, daß Sie von den bevorstehenden Veränderungen hier noch nichts erfahren haben. Familie Bach wird nächstes Jahr unsern Ort verlassen, und die drei Töchter der Frau Grohl sollen in eine größere Pension gegeben werden.«

»Ja«, fügte diese hinzu, »meine Töchter müssen einmal hier heraus, sie sollen eine größere Schule besuchen, an der verschiedene Lehrer unterrichten.« –

»Und wenn von zwölf Schülerinnen fünf abgehen, bleiben nur sieben«, fuhr Frau Klein fort. »Für sieben die Schule zu unterhalten, wird wohl etwas zu teuer. Wir schätzen Sie sehr, Sie haben es auch heute sicher wieder bemerken können.«

Anna, die innerlich sehr erregt war, meinte, sie habe geglaubt, wenn größere Schülerinnen abgingen, würden wieder jüngere eintreten, so daß man die Schule immer weiterführen könnte.

»Aber«, sagte Frau Grohl, »es wird ja immerhin noch ein Jahr darüber hingehen, bevor man an die Auflösung der Schule denkt. Sie mit Ihren Kenntnissen, liebes Fräulein, werden jederzeit eine gute Stelle wieder bekommen.«

»Gewiß, das denke ich auch«, sagte Anna mit Selbstbeherrschung. Dann ging die Unterhaltung auf ein anderes Thema über und Anna entfernte sich, um sich nun den Kindern zu widmen.

 

Am Abend saß Anna allein zu Hause. Wieder ein bedeutsamer Tag. Gestern hatte sie ihre kleinen Ersparnisse freiwillig hergegeben, heute mußte sie ihre Lebensstellung hergeben. Nicht, daß ihr um die Zukunft bange war; dazu war sie eine viel zu frische, tatkräftige Natur. Sie hatte etwas Tüchtiges gelernt und würde damit auch weiter durch die Welt kommen. Aber die Art und Weise, in der man die Sache hier behandelte, hatte sie verletzt. Es war ein Fest gefeiert worden, in dem sie der scheinbare Mittelpunkt sein sollte, und bei dem man ihr in Wirklichkeit die Auflösung der Schule hatte schmackhaft machen wollen. Man hatte hier den Ehrgeiz, ganz besonders fortschrittlich zu sein. Nun war das Neueste, daß man die Kinder in die großen Städte gab, man hatte gefunden, daß man die jüngeren bis zum zwölften Jahr in die Bürgerschule senden und so die Ausgaben für eine Privatschule sparen könnte.

Im innersten Herzen glaubte Anna den wahren Grund erraten zu haben. Sie hatte in den Kinderherzen den Glauben an Gott und sein Wort zu festigen gesucht. Das hatte bei den Kindern Anklang gefunden, aber die Eltern, sonst mit dem guten Unterricht durchaus zufrieden, stimmten hierin nicht mit Fräulein Golf überein. Sie waren modern und wollten ihre Kinder nicht, wie sie sich ausdrückten, mit religiösen Dingen überfüttert wissen.

Und nun würde sie sich von einer liebgewordenen Arbeit trennen müssen. Doch ein ganzes Jahr blieb noch Zeit.

Zunächst wollte sie ihrer einzigen Schwester alles schreiben, die schon seit vielen Jahren in einer reichen, kinderlosen Familie war und wohl auch zeitlebens bleiben würde.

Für Anna hieß es wandern. Aber Gott, dem sie vertraute, würde auch sie wieder zu rechter Zeit an die richtige Stelle setzen.


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