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Das volle Haus

»Wie du weißt, Anna, habe ich bei Ika eingeführt, daß sie jeden Abend ein Stück aus dem Katechismus aufsagt. Wir nehmen die Hauptstücke durch, eines nach dem andern, und fangen immer wieder von vorn an, so bleibt es am besten sitzen.«

»Von jetzt an sollen meine Kinder mittun«, fiel ihr Anna in die Rede, »wir fangen bei den zehn Geboten an, wenn es dir recht ist. So lernen die Kleinen es von den Großen, und was sie jetzt in der Jugend lernen, wird ihnen später im Alter ein Schatz, der nicht mit Gold aufzuwiegen ist.«

Und so geschah es. Als am ersten Abend vielstimmig das »Unsern Ausgang segne Gott, unsern Eingang gleichermaßen« ertönte, da wurde es der Tante wundersam weich ums Herz.

Auch Anna war gerührt. Ihren Kindern hatte sich hier eine Heimat auf getan, wie sie sie ihnen nicht hätte schaffen können.

Nun sagten die Kinder gute Nacht, endlich kehrte Ruhe ein in das Rosenhaus.

»Julia, du bist müde«, sagte Anna, der Schwester die Wangen streichelnd, »lege dich auch schlafen.«

»Laß uns noch ein Weilchen beieinandersitzen«, bat die Schwester, »zum Schlafen ist das Herz noch zu unruhig.«

»Fräulein Julia, wollen Sie nicht einen Augenblick herauskommen?« ertönte da Ikas Stimme.

Kopfschüttelnd gingen die Schwestern nach draußen. Dort hatte Ika sämtliches Schuhwerk der Reihe nach wie ein Regiment Soldaten aufgepflanzt und sah mit einem vielsagenden Blick Fräulein Julia an, strich dann mit der Hand über das Ganze weg und fragte:

»Soll ich die alle allein putzen, auch bei Regenwetter?«

»Gute Ika«, rief Anna, »du wirst deine liebe Not haben mit allen Kindern –«

»Mit all' die Stiefel«, verbesserte das Mädchen.

»Du sollst sie nicht allein putzen«, sagte Anna bestimmt. »Ich habe nur heute vergessen, darüber zu sprechen. Die großen Kinder sollen dir von morgen an helfen.«

Dem widersprach Julia, die einen andern Plan hatte.

»Wolf«, sagte sie am andern Morgen zu dem im Garten arbeitenden alten Mann, »Ihre Frau ist tot, Sie sind ganz allein. Wie wär's, wenn ich Ihnen die beiden kleinen Stuben nach hinten neben der Küche zum Wohnen gäbe? Wir hätten einen treuen Menschen im Haus, der überall mit nach dem Rechten sähe –«

»Oh, wenn das Fräulein das wollte! Es ist so sehr einsam ohne meine Alte. Aber ich kann es ja gar nicht annehmen, was kann ich dem Fräulein dafür tun?«

»Nichts weiter, als daß Sie Ika abends beim Putzen der Stiefel helfen, das ist mir genug.«

Darauf ging Wolf gern ein. So zog er aus dem kleinen Häuschen jenseits des Flusses herüber und wurde auch Insasse des Rosenhauses.

Später sagte Julia zu ihrer Schwester: »Dies ist die beste Lösung. Wir wären mit Ika allein nicht durchgekommen. Der alte Wolf ist ein alter Praktikus und versteht alles, kurz, er wird uns von großem Nutzen sein.«

So waren die häuslichen Angelegenheiten geregelt. Und mit den Einnahmen und Ausgaben setzten sich die Schwestern in Liebe und gegenseitigem Vertrauen auseinander. Anna bestritt mit ihrer Pension Erziehung und Kleidung der Kinder, gab etwas mit zum Haushalt und behielt noch ein wenig für ihre persönlichen Bedürfnisse übrig. Und Julia mußte jetzt sehr rechnen, um alles bezahlen zu können. Aber sie war eine tüchtige Haushälterin und kam gut aus, zumal der Garten Obst und Gemüse lieferte, der Hühnerhof Eier und dann und wann Geflügel.

Nach Verlauf von acht Tagen kannte jeder im Haus seine Pflichten. Karl, als glücklicher Tertianer, war stolz auf seine Klassenmütze und stolz darauf, nun Gymnasiast in der Großstadt zu sein. Hanna und Erika kamen in die gleiche Schule, an der ihre Mutter unterrichtet hatte. Anna hoffte, im Laufe der Zeit wieder einige Stunden an der Schule zu geben; zunächst jedoch hatte sie die dahingehende Bitte der Schulleiterin ablehnen müssen.

Julia war es oft, als träume sie. Viele Jahre hindurch war es einsam in dem alten Haus gewesen. Krankheit und Schmerzen hatten hier gewohnt. Nun herrschte ein fröhliches Leben. Kinderstimmen jubelten einander zu, flinke Beine sprangen in den Wegen des Gartens oder über die Rasenplätze. Das gab viel Freude und auch viel Arbeit, die an manchen Tagen nicht bewältigt werden konnte. Es gab auch sonstige Schwierigkeiten, aber das Gute überwog bei weitem die Widerwärtigkeiten, und Julia hatte das wohltuende Gefühl, daß sie nicht sich selbst lebte, sondern daß sie andern etwas bedeutete.

In den ersten Tagen nach Annas Ankunft kam der Pfarrer zu Besuch. Julia, die mit Hanna und Erika bei den Rosen beschäftigt war, eilte ihm entgegen. Diesmal hatte er sein Töchterchen bei sich, das schüchtern auf die beiden Mädchen sah.

»Nun haben Sie Ihr Haus voll, Fräulein Julia«, begann er. »Sehen Sie, da bewahrheitet sich wieder das Wort der Schrift: ›Sorget nicht.‹ Im vorigen Herbst klagten Sie, daß das alte Haus so leer sei. Ja, unser Herrgott geht andere Wege, als wir es wünschen und meinen.«

Julia nickte verständnisvoll.

Nun wandte der Pfarrer sich an die beiden Mädchen. »Hier bring ich eine Gefährtin, vielleicht wird eine Freundin draus. Meine Ruth möchte gern mit euch bekannt werden.«

Hanna und Erika nahmen Ruth in ihre Mitte und schlugen vor, miteinander den Garten anzusehen. Ruth nickte stumm, als aber die drei erst hinter dem Hause verschwunden waren, da hörte das gegenseitige Beäugeln auf. Man fragte nach Namen, Alter und Geburtstag, und schon bald war die anfängliche Scheu vorüber.

»Wir pflücken eben mit der Tante Rosen«, erzählten die Mädchen. »Morgen hat nämlich unsere Mutter Geburtstag. Aber sie wird sehr traurig sein. Vor einem Jahr hatte sie gerade unsern Vater geheiratet.«

»Wie gut, daß ihr noch eine Mutter habt«, rief Ruth. »Eure Mutter ist vorher meine Lehrerin gewesen.«

»Möchtest du sie gerne sehen?« fragte Hanna.

»Wenn ich nicht störe.« Ruths Augen glänzten vor Freude.

»Erst wollen wir einmal an unsern Lieblingsplatz dort unten am Wasser gehen«, bat Erika.

Bald saßen die drei Mädchen auf einer Bank unter der großen Linde und redeten munter von diesem und jenem, am meisten aber von der Schule, in die Hanna und Erika nun eintreten sollten. Hanna würde mit Ruth in der gleichen Klasse sein.

»Dann sind wir ja zusammen«, freute sich Ruth, »und nicht wahr, ihr haltet euch mit zur guten Seite?«

»Was willst du damit sagen?« fragte Hanna verwundert.

»Ihr wißt doch, daß es in der Schule immer solche gibt, die nur Unfug im Kopf haben und durch Keckheit und Ungehorsam die Lehrer ärgern. Leider haben sie oft den größten Anhang. Da sind nun aber auch andere, die das Gute wollen. Wir, meine Freundinnen und ich, kämpfen für das Gute. Nicht wahr, ihr helft uns dabei?«

Hanna war gleich bereit, ihr Versprechen zu geben; sie kannte es nicht anders, als daß man in der Schule fleißig, bescheiden und aufmerksam war. Erika schwieg. In ihren Augen blitzte es schalkhaft auf; sie dachte an einige lustige Dinge in der früheren Schule, an denen sie sich auch beteiligt hatte. Im ganzen war sie eine brave Schülerin, ihre große Begabung zog ihr immer das Lob der Lehrer zu. Es regte sich aber mitunter ein übermütiger Geist in ihr, und so antwortete sie jetzt nach kurzem Schweigen:

»Das kann ich heute noch nicht wissen, ich muß mir die Sache erst einmal ansehen.«

So kam es, daß Ruth sich mehr zu der älteren Hanna gezogen fühlte, und daß die beiden sich mit der Zeit besonders eng aneinander anschlössen.

 

Hanna und Erika wurden von den Schülerinnen der ersten und zweiten Klasse mit Interesse aufgenommen, und manche warben um ihre Freundschaft, als sie hörten, daß die Mutter ihre frühere Lehrerin gewesen war.

In der zweiten Klasse herrschte ein munterer Geist, es gab übermütige Mädchen darin, die immer zu irgendwelchen Streichen neigten. Leider fühlte sich die Erika von diesem Geist des Übermutes angezogen. So kam es, daß, als einst in der Rechenstunde hinter dem Rücken des Lehrers mit Papierkügelchen geworfen wurde, auch Erika große Lust verspürte, mitzumachen. Schon hatte sie in den Händen fertige kleine Bomben; sie kämpfte noch, da bot sich ihr der Rücken des Lehrers dar, der gerade einer Schülerin etwas erklärte. Sie ließ ein Kügelchen durch die Luft fliegen. Es traf den Rücken des Lehrers und fiel unbemerkt zur Erde. Das nächste jedoch traf sein Ohr. Er wandte sich um, sah Erika scharf an und sagte nur: »Du auch? Das hätte ich von dir am wenigsten gedacht.«

Beschämt senkte Erika ihre Blicke. Nun tat es ihr leid, sie wußte genau, wie ihre Mutter über solche Sachen dachte.

Sie hatte den ganzen Tag ein unbehagliches Gefühl. Als sie gegen Abend mit den jüngeren Geschwistern aus dem Garten kam, wurde sie von der Mutter nach oben gerufen: »Herr Blatt, den ich von früher her kenne und schätze, war bei mir.« Ein ernster Blick traf Erika. Da schlang sie die Arme um die Mutter und bat: »Sei mir nicht böse, ich tu's bestimmt nicht wieder.«

»Erika, dumme Streiche mitmachen, ist feige. Wer aber den Mut hat, auf die Gefahr hin, von den andern verlacht zu werden, dagegen zu sein, der verdient Lob. Geh morgen und sage Herrn Blatt, daß es dir leid tue.«

Erika war entlassen. Die Mutter stand noch lange grübelnd am Fenster; ja, ihre Aufgabe war nicht leicht. Fünf Kinder, die nicht ihre eigenen waren und die verschiedensten Anlagen hatten, sollten von ihr geleitet und erzogen werden. Sie bedurfte täglich der Kraft von oben, auf Gottes Hilfe allein vertraute sie in dieser Lage des Lebens.


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