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Die Trennung

Julia saß unterdes regungslos in ihrem kleinen Heiligtum. So nannte sie das Zimmer, in dem sie schlief, in dem sie ihre Andenken und Kostbarkeiten aufbewahrte, in das sie sich zurückzog, wenn es galt, einem Gedanken nachzuhängen, oder wegen einer wichtigen Sache mit sich zu Rate zu gehen. Heute konnte sie zu keiner Klarheit kommen. War dies nicht die Zerstörung ihres Lieblingswunsches? War es nicht immer ihr Ideal gewesen, einmal mit der Schwester zusammen zu leben? Früher hatte dieser Wunsch in unerreichbarer Ferne gestanden und nun, da er erfüllt war, wollte die Schwester in einen Lebensberuf gehen, der nach ihrer Meinung mit zu den schwierigsten gehörte. Nein, es war nicht zu begreifen!

Da öffnete sich leise die Tür. Ehe sie sich's versah, wurde sie von hinten umschlungen und eine bittende Stimme rief:

»Liebe Schwester, bitte nicht so traurig sein!«

»Fräulein Julia, der Müller ist da mit das Mehl«, ertönte da Ikas Stimme vor der Tür.

»Immer kommt das Mädchen störend dazwischen«, murmelte Julia. Dann rief sie laut durch die Tür: »Du weißt ja, wohin es kommt, nimm es ihm ab, ich bezahle das nächstemal.«

Ika, die viel von der Untugend der Neugierde geerbt hatte, konnte nicht umhin, ein klein wenig durchs Schlüsselloch zu gucken, bevor sie ging. Es war ihr zu verwunderlich, daß Fräulein Julia sich nicht selbst zeigte.

»Sie machen ja solche Gesichter zu sich«, sagte sie sich mit dem Ausdruck der Befriedigung. Es mußte etwas Großes, etwas sehr Großes im Gang sein!

Julia, die fast eine Stunde wortlos dagesessen hatte, wurde durch Ikas Ruf gezwungen, den Mund zu öffnen. Es war gewiß gut, denn nun fand sie auch wieder Worte für Anna.

»Tu nur, was du willst, Anna. Du bist mündig und selbständig. Beeinflussen läßt du dich doch nicht.«

»Wenn es gegen meine Überzeugung ist, nein.«

»Ich hätte dir alles vermacht.«

»Das ist in diesem Fall nicht mehr nötig. Mein zukünftiger Mann hat sein gutes Auskommen.«

»Nun, dann sind wir miteinander fertig.«

»Keineswegs, Julia, ich denke, du wirst meinen Kindern eine sehr gute Tante werden.«

»Deinen Kindern! Kennst du sie schon?«

»Noch nicht, aber es wird geschehen, sobald ich Herrn Böckel mein Jawort gegeben habe.«

»Wo wohnt denn dieser – dieser –«

Anna, die fürchtete, einen beleidigenden Ausdruck zu hören, fiel ihr schnell in die Rede und sagte: »Herr Böckel arbeitet am Gericht in Neuenburg.«

»Neuenburg«, rief Julchen, »das ist ja fast eine Tagreise von hier.«

Sie sah wieder schweigend vor sich hin und schien keinen Vernunftsgründen zugänglich. Da streckte Anna ihr die Hand hin und sagte: »Schwesterchen, wir wollen das Gespräch nun ruhen lassen, wollen tun, als sei nichts geschehen. Schon um Ikas und des Studenten willen. Morgen, hoffe ich, wirst du anders über die Sache denken.«

War es von ungefähr, daß in der Abendandacht von Ika die dritte Bitte aufgesagt wurde? Diesmal konnte die Herrin das Mädchen nicht ermahnen, aber sich selbst mußte sie sagen: »Gottes Wille geschieht immer, aber wir bitten doch auch darum, daß er bei uns geschehe.«

Nach Verlauf von acht Tagen war Anna die Verlobte des Herrn Amtsrichters Böckel. Da Julia die ganze Sache sehr schwernahm, wurde die Verlobung im Haus der befreundeten Familie Weber gefeiert.

Anna stellte den Verlobten noch am gleichen Tag der Schwester vor, in der Hoffnung, der feingebildete, gewandte Mann müsse sich schnell das Herz der Schwester erobern. Aber Julia war bei der Vorstellung steif und ungeschickt. Anna wußte nicht, war es Verlegenheit oder Unmut. Sie fragte dann auch nicht, wie ihr Verlobter der älteren Schwester gefallen habe.

Anna reiste bald darauf einige Tage auf ein Gut in der Nähe ihres künftigen Wohnortes, um die Kinder, die augenblicklich dort weilten, kennenzulernen. Auch wünschte Annas Verlobter, daß die Hochzeit so bald als möglich stattfinden möge. Das gab leider wieder Anlaß zu Verstimmungen. »So bald schon?« seufzte Julia.

»Die Kinder bedürfen einer leitenden Hand. Der Vater kann sich nicht genügend um sie kümmern, und ich habe nun einmal die Verpflichtung übernommen –«

»Ja, gewiß, ich sehe es ein«, erwiderte Julia ergeben. »Aber nun die Aussteuer, wie wird es damit?«

Anna erschrak. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. »Die Aussteuer«, meinte sie, »nun, es ist ja ein völlig eingerichtetes Haus da –«

Julia, die in solchen Sachen praktischer und erfahrener war als Anna, belehrte die Schwester, daß die Sachen der verstorbenen Frau den Kindern gehörten.

Anna wünschte jetzt, ihre Ersparnisse nicht weggegeben zu haben, wie gut hätte sie sie gebrauchen können!

Julia konnte nicht umhin, noch einmal zu bemerken, daß sie sich wundere, daß sie in den vielen Jahren nichts gespart habe. Und als Anna beharrlich schwieg, fügte Julia hinzu, daß die Schwester es wohl nicht verstanden habe, mit Geld umzugehen. »Doch«, schloß sie gutmütig, »ich gebe dir, was du brauchst, du sollst nicht wie eine Bettlerin aus meinem Haus gehen.«

Anna wurde dunkelrot. Sie erwiderte nichts, aber es wurde ihr unsäglich schwer, dies alles von der Schwester annehmen zu müssen.

Die gute Julia war mit sich und der Welt unzufrieden. Innerlich mußte sie sich zugestehen, daß der Verlobte ihrer Schwester seinem Wesen und seiner Persönlichkeit nach ihren Beifall fand, aber sie konnte sich nicht überwinden, dies der Schwester zu sagen.

An dem Abend, da die Sache mit der Aussteuer zur Sprache kam, mußte Anna viel an den Sohn ihrer Freundin denken. Jetzt, nach kaum zwei Jahren, konnte er ja nicht an Rückzahlung des Kapitals denken, und daß er nichts von sich hatte hören lassen, befremdete sie auch nicht zu sehr. Es war ihr klar, daß sie damals nicht anders hatte handeln können. Ihr Versprechen, zu niemand von der Sache zu reden, mußte sie halten, obwohl es schmerzte, von Julia so verkannt zu werden.

Wie schön wäre es gewesen, wenn die beiden Schwestern die letzten Wochen in herzlicher Liebe und Eintracht verbracht hätten! Aber statt dessen kamen immer wieder kleine Reibereien vor, obwohl sie sich beide jeden Tag aufs neue vornahmen, jeden Anlaß zu vermeiden.

Anna führte in dieser Zeit einen regen Briefwechsel mit ihrem Verlobten. Ihm vertraute sie auch den Schmerz über das veränderte Wesen der Schwester an. Er verstand und tröstete sie. Er verstand aber auch die Schwester. Wenn sie verheiratet seien, müsse Tante Julia bald zu Besuch kommen und seine Kinder kennenlernen, dann würde alles schnell anders werden.

Herr Maß begriff voll und ganz Fräulein Julias Trauer über das Fortgehen der Schwester, und war seitdem gegen seine Gönnerin voll zarter Aufmerksamkeiten.

Ika dagegen mußte oft einen Verweis bekommen, wenn sie naive, unpassende Bemerkungen anbrachte.

Im Juni, gerade als die Rosen in schönster Blüte standen, verließ Anna das Haus ihrer Schwester.

Die Hochzeit hatte im engsten Kreis stattgefunden, außer der Familie Weber waren nur der Pfarrer mit seiner Frau zugegen gewesen. Julia hatte es an nichts fehlen lassen, und doch merkte jeder, daß nicht alles war, wie es sein sollte. Sie sah immer noch in dem Schwager den Räuber ihrer Schwester. Da sie eine ganz aufrichtige Natur war, blieb ihr Benehmen gegen ihn steif und zurückhaltend.

Und doch beobachtete sie mit innerer Befriedigung das stattliche Paar. Anna sah an dem Tag besonders hübsch aus, und der Schwager in seiner männlichen Würde mit dem feinen, geistvollen Gesicht und den großen Augen, die etwas Vertrauenerweckendes hatten – man konnte sich denken, daß Anna glücklich an seiner Seite sein würde. Julia fühlte, daß sie ihm zum Abschied etwas Gutes sagen mußte: »Gott behüte Sie! Seien Sie gut gegen meine Schwester; ich vergebe Ihnen, daß Sie sie mir genommen haben!«

Julie hatte sich nicht entschließen können, dem Schwager das vertrauliche Du anzubieten.

 

Nun war das Rosenhaus leer. Nach draußen sah es aus nach lauter Freude und Wonne, und drinnen war es öde und leer.

Da erschien abends noch Charlotte. »Nun sitzest du hier. Warum grämst du dich so, Julia?« begrüßte sie die Freundin. »Nimm mir's nicht übel, aber ich hätte dich für vernünftiger gehalten. Sei doch froh, daß es eine alte Jungfer weniger geben wird in der Welt. Es gibt ohnehin schon genug davon. Freue dich doch, welch ein schönes Los deine liebenswürdige Schwester gezogen hat, wir alle gönnen es ihr.«

»Fünf Stiefkinder!« hauchte Julia.

»Die eine prächtige Mutter bekommen. Ich hätte dich nicht für so selbstsüchtig gehalten.«

»Selbstsüchtig?« Es war als ging Julia ein Licht über sich selber auf. War es Selbstsucht gewesen, die alle die bitteren Gefühle in ihr erzeugt hatte?

Die Freundin faßte Julia unter den Arm. »Jetzt komm mit mir in deinen schönen Garten, es ist ein köstlicher Sommerabend, komm, sei vernünftig.«

Charlotte meinte es in ihrer etwas derben Art ehrlich; ihr kräftiger Zuspruch tat Julia wohl. Als sie gegangen war, und Julia Herrn Maß am Flügel vorfand, der bescheiden fragte, ob er ihr etwas vorspielen dürfe, da merkte sie, daß sie nicht ganz verlassen war. Es gab noch Menschen, die gewillt waren, sie in ihrer Einsamkeit zu trösten. Nachdem der junge Mann allerlei Melodien gespielt hatte, setzte er ein zu einem Lob- und Danklied, denn das, meinte er, gehörte zum heutigen Tage.

Es verfehlte seine Wirkung nicht. Julia drückte ihm am Schluß dankbar und gerührt die Hand.

»Sie müssen nun mein Trost sein, lieber Herr Maß, es ist gut, daß Sie mir noch bleiben.«

So endete Annas Hochzeitstag.


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