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Der Sechste

Man war schweigsam bei der Abendtafel. Tante Julia saß etwas steifer als gewöhnlich da. Karl und Erika, die von Hanna das Ereignis erfahren hatten, flüsterten leise miteinander; die beiden Kleinen merkten auch, daß etwas nicht so war wie sonst und fragten nach der Mutter. Als sie aber erst ihre vollen Suppenteller vor sich hatten, begannen sie zu löffeln und waren auch ohne die Mutter zufrieden.

Hanna sah verstohlen nach der Tante. Sie hatte ihr den Wunsch der Mutter, oben zu bleiben, mitgeteilt und hinzugefügt, es sei jemand da, der auch gern etwas zu essen hätte.

»Tante Julia«, hatte sie geflüstert, »es ist mein ältester Bruder; Mutter wird dir alles erklären.«

»Ich weiß es bereits«, hatte die Tante ziemlich verdrießlich gesagt, und Hanna hatte zum erstenmal bemerkt, daß die Nase der Tante sehr groß und spitz war.

Die Tatsache des Besuchs war der Tante allerdings gleich beim Eintritt in die Küche in sehr drastischer Weise von Ika vorgetragen worden, so daß man sich über ihre Nase nicht allzu sehr zu wundern brauchte.

»O Fräulein Julia, hier ist etwas Schönes vorgegangen, als Sie in der Stadt waren. Ein sonderbarer Mensch kam hier an, sehr ruppig und zerrissen, keinen Kragen und gar nichts, kaputte Stiefel und ganz naß –«

»Nun, du hast ihn doch fortgeschickt?«

»Behüte! Fräulein Hanna kam aus dem Kinderzimmer und nannte ihn Julius und Du. Und dann gingen sie miteinander nach oben, und ich glaube«, jetzt flüsterte sie, »ich glaube, Herr Maß hat ihn frisch eingekleidet, Fräulein Hanna klopfte bei ihm an, er holte nachher Wasser – und dann –«

Daß Julia über diese Schilderung nicht erfreut war, läßt sich denken. Sie ahnte wohl, daß es der verlorene Sohn sei, von dem Anna einmal zu ihr gesprochen, und doch –

Ika war noch nicht zu Ende. »Dann, Fräulein Julia, schlich Herr Maß zur Tür hinaus mit einem Bündel, es waren gewiß die zerrissenen Sachen von dem Menschen, die wird er wohl in den Fluß geworfen haben.«

Julia schwieg. Ika wußte recht gut, daß sie nicht weiter hätte erzählen dürfen und sah von Zeit zu Zeit nach dem Gesicht ihrer Herrin, ob darauf irgend etwas zu lesen stände. Es blieb aber unergründlich.

Da fing sie noch einmal an. »Herr Maß ist doch ein feiner Mensch. Es ist gut, daß wir ihn haben, nicht wahr, Fräulein?«

Keine Antwort. Julia sagte nur: »Geh jetzt und decke den Tisch, dann klingle zum Abendbrot.«

Es ging, wie schon gesagt, sehr still bei der Abendmahlzeit zu. Das Schweigen war so bedrückend, daß Herr Maß es für seine Pflicht hielt, etwas zu sagen.

»Es hat stark geregnet, Fräulein Julia.«

»Ja, wir bekamen einen tüchtigen Schauer unterwegs. Waren Sie auch draußen?«

»Ich – ich bin nur einmal durch den Garten gegangen. Der kleine Fluß war sehr angeschwollen.«

»Das kenne ich«, war Julias Antwort. »In Regenzeiten ist er wie ein Strom, der alles mit sich fortreißt.« Während sie dies sagte, mußte sie unwillkürlich an das von Herrn Maß fortgebrachte Bündel denken.

Hanna dachte auch daran und war nun ihrer Sache gewiß. Das machte sie froh. Niemand brauchte die Lumpen zu sehen, in denen ihr Bruder aufgetaucht war.

»Oh«, rief da Ludwig, »wenn ich nur ein kleines Schiff hätte, das ließe ich auf dem Flüßchen schwimmen.«

»Daß du mir in diesen Tagen nur nicht an den Fluß gehst«, sagte die Tante mit strenger Stimme. »Sonst fällst du ins Wasser und der Strom reißt dich fort.«

»Und Grete auch mit«, fügte er getröstet hinzu.

Nach dem Essen ging Hanna mit den Kleinen hinauf, um sie zu Bett zu bringen.

Als sie auf der Treppe stand, kamen Karl und Erika nachgeeilt.

»Wir möchten Julius auch sehen«, flüsterten sie.

»Ich weiß nicht«, sagte Hanna unschlüssig, »ob wir dürfen.«

»Wir klopfen einfach«, war Erikas Vorschlag. Und so geschah es.

Ein lautes Herein ermutigte sie zum Eintritt.

»Da sind meine Kleinen«, rief die Mutter. »Nein, alle meine Kinder, nun habe ich sechs. Kommt, sagt eurem Bruder Julius guten Tag.«

Sie waren ein bißchen verlegen, aber Julius streckte die Hände nach dem jüngsten Schwesterlein aus und sagte: »Kennst du mich noch, Gretlein?«

Sie schüttelte energisch mit dem Kopf und lief zur Mutter.

»Aber ich kenne dich«, sagte Ludwig selbstbewußt, »du hast mich immer geschaukelt.«

»Richtig, das weiß er noch. Komm einmal her.« Ludwig ließ sich ruhig von dem großen Bruder auf den Schoß nehmen und stellte viele Fragen, die Julius nicht beantworten konnte und mochte.

Karl stand hinter Julius und flüsterte: »Wo kommst du eigentlich her?« und »wo hast du so lange gesteckt?« während Erika ihn von allen Seiten aufmerksam betrachtete und leise zu Hanna sagte: »Das sind doch gar nicht seine Sachen? Er hat ja einen Rock von Herrn Maß an!«

Da sagte die Mutter: »Gretlein ist müde, ich will die Kleinen schlafen legen, ihr Mädchen könnt mir helfen. Karl, du gehst mit Julius in dein Zimmer.«

Das Schwerste stand Anna noch bevor, die Unterredung mit der Schwester. Konnte sie es ihr zumuten, auch diesen Sohn noch in ihr Haus aufzunehmen? Und doch – von sich stoßen würde sie ihn nicht.

Als die Kleinen zur Ruhe waren, traf sie die Schwester in ihrem kleinen Eckzimmer.

»Julia«, begann Anna zaghaft, »du hast wohl schon von der neuen Einquartierung gehört?«

»Leider Gottes. Es ist kein angenehmer Zuwachs für die Familie –«

»Aber doch auch sein Sohn.«

»Natürlich auch sein Sohn. Daran dachte ich eben, als du kamst. Da stand mir der Schwager so lebendig vor Augen, wie er mir die Hand zum Abschied reichte, mich so eigen ansah und mich um ewige Freundschaft bat für sich und seine Kinder. Dieser Junge ist auch sein Kind und also auch meiner Freundschaft gewiß. Kurz und gut, er ist dein Sohn, Anna, und ich habe mein Haus geöffnet für dich und alle deine Kinder. Abgemacht! Wir haben uns versprochen, Freude und Leid miteinander zu teilen. Wird es uns beiden schwer, ihn in unserer Familie zu behalten, dann ist er trotzdem von Gott geschickt.«

Anna war sehr gerührt und ahnte nicht, daß Julia sich nach Ikas Beschreibung ein gräßliches Bild von dem neuen Insassen des Hauses machte, sonst hätte sie ihr den ältesten Sohn sofort vorgestellt, was gewiß zu Julias Beruhigung beigetragen hätte.

»Ich darf dir wohl alles, was ich eben von Julius gehört habe, mitteilen. Ich glaube, daß er sein Tun von Herzen bereut.«

Julia seufzte: »Gott geb's.« Nach einer Weile stillen Beieinandersitzens fragte sie: »Was hat er nur damals gemacht?«

»Du weißt«, begann Anna, »daß in Neuenburg kein Gymnasium ist. Julius wurde also in die nächste, größere Stadt auf die Schule geschickt und bei einer Familie untergebracht, die meinem Mann empfohlen worden war. Sie hat sich jedoch wenig um ihn gekümmert. Er ist immer seine eigenen Wege gegangen und in schlechte Gesellschaft geraten, kurz und gut, er ist zum Schuldenmachen verleitet worden. Später hat ihn die Angst vor der Strenge des Vaters veranlaßt fortzugehen.

Er hat schon immer einen unwiderstehlichen Trieb in die Ferne gehabt und sich eingebildet, ohne weiteres nach Amerika zu kommen. Aber kein Schiff hat ihn ohne Papiere genommen. Es gelang ihm zwar, sich auf einem Dampfer zu verstecken. Er wurde jedoch entdeckt, in England abgesetzt und mit einem andern Schiff zurückbefördert. Nun wäre es an der Zeit gewesen umzukehren, aber eine falsche Scham hielt ihn zurück. Lange Zeit konnte er sich nirgends halten, da er keine Ausweise besaß. Im Sommer hat er auf den Dörfern und Gütern Arbeit gesucht und auch gefunden, im Winter hat er, von einer Stadt zur anderen wandernd, sich mit irgendwelchen Arbeiten sein Geld verdient.

Da, zu Beginn des letzten Herbstes, fühlte er sich krank und elend, konnte nicht mehr arbeiten und lag in einem Dorf, fern von der Heimat. Der Pfarrer des Ortes wurde gerufen. Der nahm ihn in sein Haus, pflegte ihn und riet ihm anschließend, zu seinem Vater zurückzukehren; er gab ihm das Reisegeld und kleidete ihn auch ein.

Als Julius an einem Abend spät in Neuenburg ankam, ging er mit Bangen in das väterliche Haus. Ein fremdes Mädchen öffnete und starrte den Unbekannten an. Aus ihrem Munde hörte er, daß sein Vater bei einem Eisenbahnunglück umgekommen und seine Witwe mit ihren Kindern nach hier gezogen war. Darauf wurde die Tür geschlossen und Julius hat, am ganzen Leibe zitternd, das Haus verlassen.

Es ist eine mondhelle Nacht gewesen, er hat sich unter einen Baum geworfen und laut geweint und geschluchzt. Was nun? Vor Bekannten wollte er sich nicht sehen lassen, das Geld war fast aufgebraucht, er ist der Verzweiflung nahe gewesen. Da ist er auf seine Knie gesunken und hat zu Gott dem Herrn gefleht, er möge ihm helfen, seine Geschwister wiederzufinden. Er möge das Herz der zweiten Mutter lenken, daß sie ihn nicht von sich stoße.

Julius hat unter dem Sternenhimmel Gott gelobt, ein anderer Mensch zu werden. Dann hat er sich aufgemacht, ist von Ort zu Ort gewandert, hier ein wenig arbeitend, dort ein wenig bettelnd. Oft hat er die Nächte in einem Schuppen zugebracht, bis er endlich hier ankam. Das in den letzten Tage anhaltende Regenwetter durchweichte seine Kleider, die Stiefel waren zerrissen. Nun, er kam zufällig von dieser Seite in die Stadt und fragte den ersten besten, ob er eine Familie Böckel kenne. Der hat den Kopf geschüttelt und ein Mädchen herbeigerufen. Das wußte gleich Bescheid: ›Da drüben im Rosenhaus ist eine Frau Amtsrichter Böckel mit Kindern eingezogen, aber zu der wollen Sie doch wohl nicht?‹

Natürlich ist er sehr froh gewesen, uns so bald gefunden zu haben. Das andere weißt du, Julia, nun sage, müssen wir uns seiner nicht annehmen?«

Julia antwortete leise: »Gott hat ihn uns vor die Tür gelegt; ich habe dir schon vorhin gesagt: Deine Sorgen sind meine Sorgen, wir tragen alles zusammen, Freude und Leid.«

Dann erhob sie sich energisch und sagte: »Es muß nun zunächst für den jungen Mann Platz gesucht werden.«

Anna meinte, die beiden Brüder könnten doch ein Zimmer zusammen haben. Dem widersprach Julia energisch: »Wir kennen Julius nicht; Karl ist ein stiller, fleißiger Knabe, es ist besser, jeder hat sein Reich für sich.«

Anna gab der Schwester recht. Sie wußte bis jetzt nicht, was aus Julius werden sollte. Vielleicht war sein Hiersein nur von kurzer Dauer.

Nun überlegten die Schwestern, wo sie den Ältesten unterbringen könnten. Oben war noch ein Raum unbelegt. Die Tapeten hingen allerdings zum Teil von der Wand. Aber eine Bettstelle war da, und das war vorderhand die Hauptsache.

»Ich werde selbst ein wenig Ordnung schaffen«, rief Anna eifrig. »Ich glaube, Ika ist schon zu Bett, sie braucht auch nichts zu merken.«

Julia lächelte. Als ob Ika nicht längst alles gemerkt hätte! Anna eilte in gewohnter Schnelligkeit hinunter, um Besen und Eimer zu holen. Doch in der Küche brannte noch Licht, und Ika stand mit Scheuereimer und Besen bereit und fragte: »Soll ich kommen, Frau Amtsrichter?«

»Was willst du denn?«

»Ich kann mir doch denken, daß ich noch etwas in Ordnung bringen muß. Ich hab ihn ja hereingelassen, und wer bei uns hereinkommt, den läßt das Fräulein nicht wieder hinaus.«

Anna legte die Hand auf Ikas Schulter. »Ika, du bist ein treues und verständiges Mädchen. Trage nicht alles aus dem Haus, was du gesehen hast. Der junge Mann ist mein ältester Stiefsohn. Er ist eine Zeitlang Irrwege gegangen, aber Gott hat ihn nicht verlassen, so wollen wir ihn nun auch nicht verlassen.«

»Das würde die Großmutter auch gesagt haben«, versicherte Ika treuherzig. »Und darauf können Sie sich verlassen, ich trage nichts aus dem Haus, was nicht hinaus soll.«

»Das ist brav, Ika. Nun komm, wenn du einmal noch auf bist.«

Julia stand schon erwartungsvoll an der Tür und ordnete das Notwendigste an, das Einrichten sollte am folgenden Tag geschehen.

Dann ging man in Karls Zimmer. Es herrschte völlige Dunkelheit und ein lautes Atmen verriet, daß der Knabe bereits schlief.

»Es war auch höchste Zeit«, sagte Anna ruhig, »wo ist aber der Junge?«

Julia, die bei Herrn Maß sprechen hörte, betrat das Zimmer des Studenten, der mit Julius an seinem Arbeitstisch saß. – Als sie Geräusche an der Tür vernahmen, sprangen beide auf. Julius blieb verlegen am Tisch stehen, während der Student auf die Schwester zukam und um Entschuldigung bat, daß er den jungen Mann in sein Zimmer genommen hatte.

Die Tante winkte ab und ging auf Julius zu.

»Seien Sie uns willkommen. Ich hoffe, Sie werden ein würdiger Bewohner des Rosenhauses sein, ein guter Sohn meiner Schwester und ein Vorbild Ihrer jüngeren Geschwister«, worauf Julius der ihm fremden Dame eine Verbeugung machte und leise sagte: »Ich hoffe es.«

Da ergriff Anna das Wort. »Julius, dies ist meine Schwester, die Wohltäterin unserer Familie. Sie hat Anspruch auf deine Verehrung –«

»Anspruch«, fiel Julia ein, »nur auf Tantenrechte, junger Mann. Um Ihrer Eltern willen nehme ich sie alle bei mir auf. Sie sind fortan Neffe Julius für mich, und ich bin Tante Julia für Sie.« Sie streckte ihm die Hand hin.


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