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Die beiden Schwestern

»Anna, meine arme Anna!« rief Julia ein über das andere Mal, »wie habe ich mit dir gelitten!«

Anna, die bis zur Ankunft der Schwester noch keine Träne hatte vergießen können, die noch wie betäubt gewesen war von dem jähen Schlag, konnte sich endlich in den Armen der Schwester ausweinen.

Julia strich ihr sanft über das weiche blonde Haar, über die blassen Wangen und flüsterte ihr Worte der Liebe und des Mitleids zu.

Es war eine schwere Stunde, die die beiden Schwestern miteinander verbrachten, und die ihre Herzen fester denn je verband. Die Liebe zueinander wurde zu einer Macht, die nichts mehr zu erschüttern vermochte.

Als Anna den Versuch machte, Julia das erschütternde Ereignis näher zu berichten, gebot sie ihr mit den Worten Einhalt: »Ich weiß es, Anna. Durch Zeitungsberichte habe ich alles erfahren, obwohl man mir sie am ersten Tag vorenthielt, um mich nicht zu sehr zu erschrecken.«

»Wie hat er sich auf deinen Besuch zum Weihnachtsfest gefreut!«

»Wie prächtig, daß er mich noch besuchte, die ich ihm so wenig Freundlichkeit und Liebe gezeigt hatte. Anna, ich habe in diesen Tagen schwer darunter gelitten, daß ich –«

»Still, liebe Schwester«, unterbrach Anna sie, »mein Verhalten gegen dich war manchmal falsch. Gott mag uns beiden vergeben. Der Verstorbene hat durch seine Herzensgüte alles zurechtgebracht. Welche Freude hat er in der letzten Zeit an unserm Briefwechsel gehabt, an der Hoffnung, dich nun bald näher kennenzulernen.

»Hat er das?« fragte Julia gespannt. »Seine letzten Worte an mich waren: ›Fortan erbitte ich mir ewige Freundschaft für mich und meine Kinder.‹ Ihm kann ich keine Liebe mehr erweisen, aber seine Kinder sollen fortan meine Kinder auch sein. Du mußt mir gestatten, sie liebzuhaben, habe ich sie doch bei meiner Ankunft schon ganz ins Herz geschlossen.«

»Ja, die Kinder«, fuhr Anna sinnend fort. »Bevor Gott ihnen den Vater nahm, den armen Waisen, hat er ihnen eine Mutter wiedergegeben.«

»Jetzt sehe ich auch ein, warum alles so kommen mußte«, unterbrach Julia die Schwester, ihre Hand fest drückend. »Gottes Gedanken sind höher als die unsern, wir armen kurzsichtigen Menschen sehen immer nur, was vor Augen liegt.«

»Ich habe nun eine große Verantwortung. Gott helfe mir, daß ich ihr getreulich nachkomme –«

Da steckte Hanna den Kopf zur Tür herein und sagte: »Mutter, der Tee ist fertig.«

Die Bücher waren vom Eßtisch verschwunden, statt dessen war ein weißes Tischtuch aufgelegt. Am oberen Ende war für die Schwestern gedeckt, Tee und Aufschnitt standen bereit, während für die Kinder eine kräftige Suppe aufgetragen war.

Anna und Julia aßen wenig, aber den Kindern schmeckte ihr Abendbrot. Es war ein schöner Anblick für die Tante, mit welchem Behagen die kleine Schar ihre Suppe auslöffelte und die Mutter noch um mehr bat.

Julia war am Abend herzlich müde. Die Schwester begleitete sie ins Gastzimmer. Das erstemal unter des Schwagers Dach! Wie ganz anders hatte sie sich das vorgestellt!

Trotz der großen Müdigkeit vermochte sie nicht einzuschlafen; es ging ihr so manches durch den Kopf. Jetzt mußte sie der Schwester etwas sein, jetzt war der Zeitpunkt da, wo sie ihrer bedurfte. Aber wie? Endlich kam sie zu dem Schluß, abzuwarten, was die Schwester für Pläne habe. In der Amtswohnung würde sie nicht lange bleiben können, da für den Nachfolger Platz geschaffen werden mußte. –

Als am andern Morgen die größeren Kinder in der Schule waren und die Kleinen sich mit ihren Spielsachen beschäftigten, fing Anna an:

»Meine Kinder liegen mir sehr am Herzen. Karl müßte eigentlich in eine größere Stadt auf ein Gymnasium, die beiden Mädchen auch, da sie später in ein Seminar sollen, um als Lehrerinnen auf eigenen Füßen zu stehen.«

»Wie ist es mit dem Vermögen der Kinder? Bekommst du eine gute Pension, daß du alles, was für ihre Erziehung erforderlich ist, bestreiten kannst?« fragte Julia klopfenden Herzens. Noch wagte sie nicht, mit dem Gedanken hervorzutreten, der ihr schon in der Nacht gekommen war, und der immer festere Gestalt annahm.

Anna legte offen ihre Verhältnisse dar. Vermögen sei keins da, weder von Seiten der ersten Mutter noch des Mannes. Pension erhalte sie natürlich, aber sie werde Mühe haben, damit auszukommen, da das Leben teuer sei und die Erziehung der Kinder viel kosten würde.

»Wie wär's«, begann Julia stockend, »wie wär's, wenn du mit deiner ganzen Schar zu mir zögest, wenn endlich mein schönes Rosenhaus mit seinen vielen Zimmern und Räumen gefüllt würde?«

»Julia!« rief Anna gerührt, »das darfst du nicht tun. Es wäre unrecht, wollte ich darauf eingehen. Du bist seit Jahren nicht mehr an Kinder gewöhnt, und nun willst du dir fünf fremde Kinder aufladen.«

»Fremd«, wiederholte Julchen fast beleidigt. »Sind es nicht die Kinder meiner Schwester, sind es nicht die Kinder eines Mannes, den ich habe schätzen lernen, dem ich Freundschaft für sich und seine Kinder versprochen? Dies letzte Wort, das ich aus seinem Munde vernommen habe, soll mir ein Vermächtnis sein, fortan treu mit dir für sie zu sorgen. In der Großstadt haben die Kinder Gelegenheit, etwas Tüchtiges zu lernen; mein Haus liegt in der Vorstadt, im Garten können sie sich tummeln nach Belieben. Also« – sie streckte der Schwester die Hand hin – »abgemacht, Anna! Du ziehst mit allen deinen Kindern zu mir ins Rosenhaus.«

Anna schlang den Arm um die Schwester: »Dann wäre eine große Sorge allerdings behoben. Es hat mir in den letzten Tagen schon viel Kopfzerbrechen gemacht, wie ich künftig alles einrichten soll. Im ganzen bin ich hier noch fremd, bis zum Frühjahr könnte ich die Amtswohnung behalten, dann müßte ich mich nach etwas anderem umsehen. Wenn wir zu dir kommen sollen, ist das nicht mehr nötig.«

»Abgemacht«, sagte Julia, und Tränen der Freude glänzten in ihren Augen, als sie hinzufügte: »Nun weiß ich, warum mein Haus so lange auf neue Bewohner warten mußte. Dies hat Gott mir vor die Tür gelegt.«

Manchmal schien Anna das Opfer zu groß, dann suchte sie nach Gründen, die es unmöglich machten, auf das großmütige Anerbieten einzugehen. Aber Julia blieb fest. »Du hast nun einmal zugestimmt, alles andere gilt nicht.«

Nach mehrtägigem Aufenthalt reiste Julia wieder nach Hause. Sie saß allein in ihrem Abteil und konnte den Gedanken freien Lauf lassen. Es schien ihr alles ein Traum, und doch war es Wirklichkeit, ernste Wirklichkeit, was sie erlebt hatte. Die Gestalt der Schwester stand ihr immer vor Augen; Julia hatte sie in ihrem tiefsten Schmerz erlebt und dann wieder als die liebende, sorgende und tröstende Mutter, die den Schmerz gewaltsam zurückdrängte und sich ganz ihren Pflichten hingab. Und die Kinder? Julia hatte selten so wohlerzogene und dabei doch lebhafte, aufgeschlossene Kinder gesehen. Hanna, die älteste, zeigte schon ein sehr gereiftes Wesen, war hilfreich bei den jüngeren Geschwistern und aufmerksam gegen die Mutter.

Erika, die zweite, vierzehnjährige und blond wie Hanna, war äußerst begabt, lernte spielend und entwickelte großes Interesse für Schule und Musik und wollte Lehrerin werden. Sie war auch praktisch veranlagt und griff alles beim rechten Ende an.

Karl, der Sohn, war ein stiller, fleißiger Schüler. Von den beiden Kleinen ließ sich noch nicht viel sagen. Sie richteten sich in ihrem Verhalten sehr nach den großen Geschwistern, wie das gewöhnlich der Fall ist. Ludwig ging erst ein Jahr zur Schule. Er war ein kräftiger Bub, der bei den Mahlzeiten seinen Mann stellte, sich schon früh zum Ritter und Beschützer der kleinen Schwester aufwarf und sie oft mit den Worten tröstete: »Sei nur stille, Grete, ich bin ja bei dir.« Das Nesthäkchen war ein anschmiegsames Ding, das sehr an der neuen Tante hing, und nicht von ihrer Seite wich.

Mit diesen Kindern sollte es sich wohl leben lassen, obwohl Anna gemeint hatte, sie seien nicht immer so brav, wie Julia sie gefunden hatte. Einesteils sei es ein wenig Scheu vor der neuen Tante, andernteils stünden sie noch unter dem Eindruck des traurigen Ereignisses, sie hatten auch ihre Fehler wie alle Kinder, Julia solle nur nicht glauben, daß sie vollkommen seien.

Es sei, wie es sei, der Plan war fertig. Nun konnte das große alte Haus seinen Zweck erfüllen, und sie selbst ihrer Schwester nun wirklich einen Dienst erweisen.

Unter diesen und ähnlichen Gedanken langte Julia in der Heimat an. Als der Zug hielt, sah sie zum Fenster hinaus. Da stand gerade ihrem Abteil gegenüber die treue Ika. Ihr ganzes Gesicht strahlte. Mit einem glücklichen »Fräulein Julia!« stürzte sie auf sie zu und reichte ihr beide Hände, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein und rief: »Wie schön, daß Sie wieder da sind, Fräulein Julia, es war so einsam im großen Hause.«

Das Fräulein lächelte. Was würde Ika sagen, wenn sie hörte, welch eine Bevölkerung dem Hause in Aussicht stand?

Und was sagte Ika wirklich? Sie riß, wie immer, wenn das Erstaunen bei ihr über das Begreifen ging, den Mund weit auf und starrte Julia an, bis das Fräulein lachend sagte:

»Nun schließe nur deinen Mund und sage, was du denkst.«

»Frau Amtsrichter mit all die Kinder?« rief Ika und schlug die Hände zusammen. »Das wird aber Arbeit geben.«

»Die wollen wir schon richtig verteilen.«

»Aber nun – nun ist da der Student auch noch da.«

»Herr Maß ist auch noch da und wird da bleiben.«


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