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Liebe und Fürsorge

Der andere Tag brachte Sonnenschein und mildes Wetter. Was gestern abend im Regen und in der Dunkelheit geschehen, sah jetzt, im hellen Licht des Tages, ganz anders aus.

Julia bemerkte, daß der neue Neffe, der sauber und frisch heruntergekommen war, nicht nur ein kluges, sondern auch ein anziehendes Gesicht hatte. Es trug allerdings Spuren schwerer Erlebnisse; ein wehmütiger Zug lag um den Mund; die Augen, die an die des Vaters erinnerten, sahen übernächtigt aus. Als Julia ihn fragte: »Nun, hast du gut geschlafen in der neuen Heimat?« war die Antwort: »Das Bett war herrlich, daran hat es nicht gelegen, daß ich nicht schlafen konnte. Es gab so viel zu verarbeiten. Den Tod meines Vaters kann ich immer noch nicht verwinden, ich hätte ihn so gern wiedergesehen, ihm so vieles sagen mögen.«

Allmählich kamen auch die andern Geschwister zum Vorschein; man versammelte sich immer um sieben Uhr zum Kaffee in der großen Eßstube, und als zuletzt die Mutter mit den beiden Kleinen erschien, wurde Milch und Kaffee eingeschenkt und ein großer Korb mit Semmeln herumgereicht.

Julia blickte mit herzlichem Mitleid auf den langaufgeschossenen Jungen, der neben ihr saß. Er sah in der geborgten Kleidung komisch aus, alles war zu eng und zu kurz. Er merkte, daß die Tante seinen Anzug musterte und begann, an den Ärmeln zu zupfen, aber sie wollten nicht länger werden, und er wurde ganz verlegen. Julia war froh, daß der Dicke ihm nicht gegenübersaß, der würde unzweifelhaft eine Bemerkung gemacht haben. Rat und Hilfe mußte bald geschaffen werden, aber wie? Anna hatte wohl dieselben Gedanken, denn sie sah ihren armen Jungen voll Bedauern an.

Nach dem Frühstück las Anna eine kurze Morgenandacht, dann wurden die Schulkinder mit einem »Behüt' euch Gott« entlassen. »So, Julius«, sagte Anna, »nun wollen wir erst einmal an deine leiblichen Bedürfnisse denken, so kannst du dich ja nirgends sehen lassen. Es sind noch Sachen vom Vater da, die müssen aber erst noch geändert werden –«

»Und so lange soll der junge Mann hier gefangen sitzen, bis es Meister Ollendorf gefällt, die Sachen fertigzumachen? Nein, Anna, das geht nicht«, warf Julia eifrig dazwischen. »Wir wollen aus dem Konfektionshaus Bauer eine Auswahl kommen lassen. Julius probiert an, und was uns und ihm am besten gefällt, wird gekauft.«

Schon nach einer Stunde kam ein junger Verkäufer mit einem großen Karton, aus dem bald ein passender Anzug gefunden wurde. Es waren noch kleine Änderungen nötig, aber am Abend war der junge Mann frisch eingekleidet.

Das Recht des Bezahlens nahm Julia für sich in Anspruch. »Ich habe noch eine besondere Kasse, zudem habe ich in diesem Jahr mehr Obst verkauft als sonst«, meinte sie. »Du hast in letzter Zeit viel für die Kinder ausgegeben, dies überläßt du mir. Jetzt kannst du aus dem Nachlaß deines Mannes noch etwas herrichten lassen, an einem Anzug hat er doch nicht genug.«

Dies veranlaßte Anna zu dem Ausruf: »Du bist immer die Gebende, ich die Nehmende. Werde ich es dir je vergelten können?«

»Denke nur, wie du und deine Kinder mein sonst freudloses Dasein durch eure Gegenwart erhellen, das ist mir Dank genug.«

Die Sorge für die leiblichen Bedürfnisse des Heimgekehrten war wohl groß, aber bei weitem nicht die größte. Was sollte aus ihm werden, welchen Beruf sollte der achtzehnjährige junge Mann ergreifen? Als Anna darüber mit ihm sprach, merkte sie bald, daß es Julius' größter Wunsch war, noch das Abitur zu machen und zu studieren.

»Ich habe bitter bereut, was ich in meinem Unverstand damals tat.«

»Das ist alles gut und schön, aber das Studieren kostet Geld. Du hast viele Geschwister, die etwas lernen sollen. Die Tante tut ja alles für uns, aber zum Studium reicht es wohl nicht.«

»Ich verdiene es auch nicht – sonst – Mühe wollte ich mir wohl geben«, versetzte Julius traurig.

»Wenn doch dein Vater noch lebte«, seufzte Anna, »er würde Rat wissen, aber ich will noch heute ins Pastorat und dort die Sache einmal durchsprechen. Wie weit bist du eigentlich gekommen?«

»Ich besuchte noch ein halbes Jahr die Unterprima.«

 

Anna begab sich um die Mittagszeit ins Pfarrhaus. Mit bedrückter Miene betrat sie die Studierstube des Hausherrn, der gleich merkte, daß eine Sorge auf ihrem Herzen lastete. Anna erzählte ihm ausführlich die Erlebnisse der letzten Tage.

»Sie haben mir nie gesagt, daß noch ein Sohn da ist.«

»Mein Mann sprach nicht gern davon, zumal er diesen großen Kummer kurz vor unserer Verlobung erleben mußte. Ich glaubte, Julius sei verschollen, und wir würden nie wieder von ihm hören.«

»Hat Ihr Gatte keine Nachforschungen anstellen lassen?«

»Gewiß, aber ohne Erfolg. Da der Junge mir ganz fremd war, habe ich wenig an ihn gedacht.«

»Ich begreife das. Doch nun wollen wir überlegen, was geschehen kann; es ist wichtig, daß der junge Mann gleich eine Aufgabe sieht.«

Nach längerem Beraten machte der Pfarrer das Anerbieten, ihn zunächst in den Hauptfächern zu unterrichten.

»Wenn es sein ernster Wille ist, die Schule durchzumachen, muß er den Winter hindurch tüchtig arbeiten, so daß er Ostern in Oberprima aufgenommen werden kann«, war sein Vorschlag. »Jedenfalls muß ich den jungen Mann aber sehen und prüfen, erst dann läßt sich sagen, ob er noch fürs Gymnasium taugt. Bestimmt wird er in den letzten zwei Jahren viel vergessen haben.«

»Es ist eine schwere Aufgabe. Aber ich habe Mut, sie mit Gottes Hilfe zu erfüllen. Es ist eine Arbeit, die mir im Andenken des seligen Vaters der Kinder nie schwerfallen soll!« Bei diesen Worten blitzten in ihren Augen wieder die alte Tatkraft und Entschlossenheit auf, die der Pfarrer in letzter Zeit so sehr an ihr vermißt hatte.

Am Abend schickte Anna ihren Ältesten ins Pfarrhaus; mit Spannung erwartete sie seine Rückkehr. Endlich kam er, freudig erregt.

»Mutter«, rief er, es war das erstemal, daß er sie bei diesem Namen nannte, »man war mit meinem Wissen zufrieden und hofft, mich zu Ostern bis zur Oberprima zu bringen.«

Als er dies sagte, glänzten seine Augen, und Anna fand, daß er in diesem Augenblick große Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte. »Ich werde arbeiten, Mutter, arbeiten und arbeiten.«

Und er hielt Wort.

»Der junge Herr«, so nannte Ika ihn von dem Tage an, da er in dem neuen Anzug steckte, »der junge Herr arbeitet so, daß ihm die Haare kerzengerade in die Höhe stehen.«

Hanna, deren Lieblingsbruder er früher gewesen, war immer noch zurückhaltend; sie konnte den ersten Eindruck nicht verwinden. Auch hatte sie damals mehr von den bösen Geschichten gehört als die anderen.

Erika dagegen schien sehr beglückt, daß der große Bruder wieder da war. Seine stattliche Erscheinung zog sie an, sie ging gern mit ihm durch den Garten, wobei sie sich über alles mögliche unterhielten.

Eines Tages mußte der Pfarrer eine Stunde, die er Julius erteilte, verlegen, und bat Hanna, dies ihrem Bruder zu bestellen. Sie richtete ihm die Nachricht kurz aus und wollte schon wieder gehen, da hielt er sie zurück.

»Hanna«, sagte er, »wir waren doch früher gute Freunde. Jetzt fliehst du meine Nähe, und bist du einmal mit mir zusammen, sprichst du fast gar nichts. Mußt du mir deine Verachtung immer noch zeigen?«

Da fiel sie ihm um den Hals.

»Ich habe so viel deinetwegen gelitten, Julius, ich habe immer und immer an dich gedacht, am allermeisten, als unser Vater so plötzlich von uns genommen wurde. Ich habe auch jeden Abend zu Gott gebetet, er solle dich wieder zu uns bringen. Aber daß du so kommen würdest, habe ich nicht erwartet.«

»Laß dir mal von Mutter erzählen, was ich alles durchgemacht habe. Sie, die mir bis jetzt fremd war, hat mehr Vertrauen zu mir als meine leibliche Schwester; sie glaubt, daß meine Reue aufrichtig ist, aber du scheinst mich für einen Heuchler zu halten.«

»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Ich will's ja gern glauben, daß du anders geworden bist. Aber ich hatte so große Angst, du könntest die neue Mutter und die Tante Julia wieder betrüben. Aber ich will nun anders denken. Ich will fest auf dich vertrauen.«

»Nun, du wirst es sehen. Es wäre erbärmlich von mir, wollte ich meinen Geschwistern abermals ein schlechtes Beispiel geben. Meine Strafe ist hart genug gewesen. Ich leide mehr darunter, als ihr alle ahnt. Was ich durchgemacht habe, als ich Vaters Tod erfuhr, das kann niemand ermessen. Ich wollte dich schon immer bitten, mir von ihm zu erzählen, aber du warst so unnahbar –«

Die Geschwister, die sich früher so nahestanden, hatten sich wiedergefunden, niemand war froher darüber als die Mutter, die sehr wohl bemerkt hatte, daß da etwas nicht stimmte. Hanna hatte ein feines Gefühl und trug an allem viel schwerer als Erika, die die Dinge leichter nahm und nach der Mutter Ansicht einmal besser durch die Welt kommen würde als Hanna.

 

So wuchs die Familie wieder fest zusammen, und Frohsinn und Heiterkeit herrschte im Geschwisterkreis. Gemütlich gestalteten sich die Winterabende, wenn sich alles im Saal, dem jetzigen Kinderzimmer, zusammenfand. Eine Stunde vor dem Abendessen, so hatte die Mutter gewünscht, wollte sie mit allen Kindern dort sein. Dann besprach sie mit den größeren die Schulaufgaben, ließ sich die Hefte zeigen, gab hier und da Ratschläge, oder sie spielte mit den Kindern. Julius machte sich im ganzen Hause durch ein freundliches, gefälliges Wesen beliebt, was Tante Julia oft rühmend anerkannte.

Herr Maß verkehrte frei und ungezwungen mit den Söhnen des Hauses. Karl konnte ohne ihn gar nicht fertig werden, und für Julius wurde er ein guter Halt.

Der Junge, der jetzt das Gute wollte, konnte sich im Verkehr mit dem gereiften Studenten innerlich festigen und stärken. So wurde der arme Student, den Julia damals in ihr leeres Haus nahm, den Kindern zum Segen und trug viel dazu bei, den beiden Schwestern ihre Aufgabe zu erleichtern.

Daß Julius bis Ostern täglich im Pfarrhaus aus und ein gehen konnte, war für ihn eine treffliche Vorbereitung für die oberste Klasse des Gymnasiums. Nicht nur, daß er ihn in den wissenschaftlichen Fächern unterrichtete, der Pfarrer gab ihm auch manche gute Hinweise für die Zeit, da er in die Prima eintreten würde. »Es ist ganz anders, als wenn Sie mit denselben Schülern alle Klassen durchgemacht haben, junger Freund. Man wird Ihnen anfangs mit Mißtrauen begegnen. Da gilt es, sich von vornherein nicht beirren zu lassen.«

Für Hanna und Erika war der Winter, da sie beide auf die Konfirmation vorbereitet wurden, sehr still.

So ging alles im Rosenhaus seinen guten Gang. Es herrschte Fleiß und Ordnung, jeder bemühte sich, seinen Pflichten treu nachzukommen. Julia hatte die Befriedigung, daß sie ihr Haus gefüllt hatte, ohne die Bedingungen des Testaments zu verletzen. Freilich mußte sie manche Unruhe ertragen, an die sie nicht gewöhnt war, aber das Interesse, das sie an den Fortschritten und kleinen Erlebnissen der Kinder nahm, die Liebe zur Schwester, der sie ihre Lage wesentlich erleichterte, ließ sie alle Unruhe freudig ertragen.


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