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Erika

Die acht Tage, die Frau Maß bleiben wollte, verflogen schnell. Sie kostete jede freie Minute aus, um mit ihrem Sohn zusammen zu sein. Am gleichen Tag, da er seine Hauslehrerstelle antreten mußte, reiste auch sie ab. Es war ein trauriger Abschied. Tante Julia hatte eine Droschke bestellt, da viel Gepäck mitgehen mußte. Die ganze Familie war beim Abschied versammelt, und es gab ein langes Händedrücken. Herr Maß sah noch einmal auf das ihm liebgewordene Haus. »Unter dem Dach des Rosenhauses habe ich meine schönsten Jahre verlebt. Dank, tausend Dank für alles, besonders Ihnen –«

»Sie wissen, ich mag keinen Dank«, sagte Julia und wehrte mit beiden Händen ab, als Frau Maß auch noch anfangen wollte. »Kommen Sie bald wieder, Frau Maß, und«, fügte sie leise hinzu, »versuchen Sie, sich mit den Ihren auszusöhnen.« Frau Maß schwieg. Dann stiegen sie in den bereitstehenden Wagen, noch ein Grüßen und Winken, und bald entschwanden sie den Blicken der Zurückbleibenden.

»Kinder, nun sind die Herbstferien bald zu Ende«, sagte Anna zu ihrer Schar, »kommt mit nach oben. Tante Julia braucht nach diesen anstrengenden Tagen etwas Ruhe.«

Alle folgten der Mutter nach oben. Auch Karl, der der Mutter zur Zeit besondere Sorgen machte; er hatte keine guten Noten in Latein und Griechisch, und wenn die Arbeiten nicht besser würden, bestand keine Aussicht auf Versetzung.

»Es wäre schlimm, lieber Junge, du mußt denken, ein Jahr sitzenbleiben kostet der Mutter viel Geld.«

Karl machte ein verlegenes Gesicht.

»Mutter«, nahm Julius das Wort, »Karl liegen die alten Sprachen wenig, ich will ihm Privatstunden geben.«

»Du hast aber selbst reichlich zu tun, wenn du Ostern dein Abitur machen willst.«

»Das bring ich schon noch fertig«, sagte er fröhlich. »Wenn Not am Mann ist, da werde ich doch meinem Bruder helfen können!«

Karl sah ihn dankbar an und meinte: »Er hat es schon immer getan, aber wenn er mir richtige Nachhilfestunden gibt, da werd' ich schon durchkommen.«

»Ja, Kinder, versucht es; die Schule kostet viel Geld, und ich muß alles zusammenhalten, um durchzukommen.«

Gretchen sagte da glücklich: »Meine Schule kostet gar nichts, ich habe bei der Mutter Stunde.«

»Aber meine kostet viel«, prahlte der Ludwig.

»Ein schlechter Rechenmeister«, rief Karl. »Sei du nur stille, deine Grundschule kostet nichts.«

»Aber wir haben schon drei ganz große Lehrer«, wandte Ludwig wichtig ein.

Alles lachte. Sie kannten ihren Ludwig; er mußte immer ein bißchen angeben.

»Und nun, ich möchte mit Hanna und Erika etwas beraten. Ihr könntet einmal bei euren Freundinnen anfragen, ob eine oder die andere Lust hat, Malstunden bei mir zu nehmen. Ich möchte gern einen Kursus eröffnen, vorausgesetzt, daß sich genügend Teilnehmerinnen finden.«

Es fanden sich übergenug. Als die Mädchen hörten, daß ihre frühere Lehrerin Malstunden erteilen wolle, da meldeten sich mehr als Anna angenommen hatte. »Aber je mehr, desto besser«, meinte sie. »Raum ist in dem großen Saal genug.«

Julius hatte der Mutter vor einiger Zeit anvertraut, daß er große Lust habe, Medizin zu studieren. Es war ein teures Studium, aber konnte sie es ihm wehren? Vielleicht erhält er ein Stipendium? Es gab an der hiesigen Universität tüchtige Professoren, die ersten Jahre würde sie ihn im Hause behalten können, wie aber, wenn er auswärts studieren mußte?

Plötzlich stand ihr das Bild der verstorbenen Freundin lebhaft vor Augen; sie dachte an das Erlebnis mit ihrem Sohn Wolfgang. Es war nun mehrere Jahre her, seit sie ihm alle ihre Ersparnisse gegeben hatte. Wenn sie nur das Geld für das Studium ihrer Söhne hätte! Doch nein, sie wollte den damaligen Schritt nicht bereuen. Sie wollte tun, was in ihren Kräften stand, und sich an Frau Maß ein Vorbild nehmen, die auch rastlos tätig gewesen, um für ihren Sohn zu sorgen.

Die Töchter hatten zu Annas Freude musikalisches Talent. Außer den Stunden, die sie selbst gab, wurden nach Beendigung des Trauerjahres einmal wöchentlich musikalische Abende durchgeführt. Früher hatte Herr Maß mit seiner Geige mitgemacht und einer seiner Freunde nahm das Anerbieten, sich statt dessen an diesen Abenden zu beteiligen, mit Freude an. Auch Charlotte, Julias alte Freundin, stellte sich ein, um mit Anna vierhändig zu spielen. Die Pfarrersfamilie, Amtsgerichtsrat Weber und Frau, Annas besondere Freunde, und noch einige Bekannte aus der Stadt versammelten sich nun jeden Dienstagabend im Rosenhaus. Alle freuten sich darauf, sogar Ika erklärte: »Das Musikmachen mit das Klavier und mit die Fiedel ist der schönste Abend in der ganzen Woche.«

Julius' Abitur rückte heran. Die schriftlichen Arbeiten waren recht befriedigend, auch die mündliche Prüfung fiel gut aus. So herrschte große Freude in der ganzen Familie.

»Du hast gehalten, was du mir versprochen hast«, sagte die Mutter zu ihrem Ältesten. »Ich wollte nur, dein Vater hätte den heutigen Tag erlebt.«

»Ich kann nie im Leben gutmachen, was ich ihm angetan habe, aber es soll mein eifrigstes Bestreben sein, dir, Mutter, Freude zu machen und meinen Geschwistern ein gutes Beispiel zu geben.«

So durfte Anna neben vielen Mühen und Sorgen, die die Kinder des allzu früh verstorbenen Mannes ihr machten, auch die Freude kosten, die sie durch Fleiß und Aufmerksamkeit bereiteten.

Erika jedoch, die reich begabte, machte ihr im stillen in anderer Art Sorge. Es merkte wohl niemand, aber das Mutterauge sah scharf. Es gab unter den Malschülerinnen einige, die Anna lieber nicht darunter gesehen hätte, aber das Abweisen war schwierig. In der Nachbarsvilla wohnten zwei Mädchen, die mit Erika befreundet waren. Auch ein Sohn war da. Die Mädchen hatten bei all ihrem freundlichen, liebenswürdigen Benehmen eine etwas oberflächliche Art. Zu ihnen fühlte Erika sich besonders hingezogen, besonders im Sommer hatte diese Nachbarschaft etwas Verführerisches. Wenn Ruth und Hanna unten am Fluß unter der Linde saßen, spähte Erika schon nach Alida und Cäcilia oder Cilly, wie sie genannt wurde. Sie strahlte, wenn ihre Köpfe über der Mauer sichtbar wurden und der Ruf ertönte: »Erika, komm doch ein bißchen herüber zu uns in den Garten.«

Erika schob dann wohl ihre Arbeiten vor, aber Entschuldigungen wurden nicht angenommen. »Ach, das viele Lernen, laß das doch, Erika. Du bist so klug, komm nur ein Viertelstündchen herüber.«

Und Erika konnte diesen Bitten nie widerstehen. Man hörte sie drüben bald lachen und scherzen. Oder sie ging mit ins Haus und mußte die Sachen der Mädchen bewundern, bei denen die Kleidung eine Hauptrolle spielte. Wer konnte es Erika da verdenken, daß sie es ihnen gerne gleichtun wollte, daß sie anfing, großes Gewicht auf Garderobe zu legen, daß sie oft unzufrieden mit ihrer Lage war und Alida und Cilly beneidete? Dazu kam, daß der Sohn des Hauses an der hübschen Blondine Gefallen fand, gern mit ihr schäkerte und ihr allerlei Dinge sagte, die eine willige Aufnahme in Erikas törichtem Herzen fanden.

Als einmal die Mutter die jungen Leute im Nachbargarten hörte – es waren mehrere junge Herren da, Freunde von Alidas Bruder – wie sie lachten und allerlei leichte Redensarten führten, und dazwischen das helle Lachen ihrer Erika, da redete sie ernst mit ihr und warnte sie, nicht zu weit zu gehen, sonst müsse sie den Umgang verbieten. Da klagte Erika, daß sie sich, wenn Hanna und Ruth zusammen seien, so überflüssig vorkomme, sie wolle auch Freundinnen haben. Die Mutter erwiderte, daß sie dies in keiner Weise hindern wolle, im Gegenteil, daß sie sich freuen würde, wenn sie sich an andere junge Mädchen, sie nannte einige aus dem Seminar, anschließen werde.

»Ja«, meinte Erika, »zum Lernen habe ich einige nette Mädchen, aber zum Plaudern sind mir die Nachbarsmädchen lieber. Sie sind so lustig, Mutterchen, laß mich doch. Wenn ich angestrengt gearbeitet habe, muß ich mich noch ein bißchen vergnügen, ich bin ja noch so jung!«

Erika war ein kleines Schmeichelkätzchen, so daß die Mutter ihr nicht die Tatkraft entgegensetzte, die ihr sonst eigen war. Sie warnte sie jedoch, besonders im Verkehr mit den Nachbarsleuten auf der Hut zu sein.

Erika versprach es, und die Freundschaft ging weiter, obwohl sie im Herbst hören mußte, daß sie in ihren Leistungen zurückgegangen war. Sie versprach der Mutter, im Winter angestrengter zu arbeiten, aber die Nachbarschaft forderte sie immer wieder zu Gesellschaften und Zerstreuungen auf.

Die stille Hanna konnte nicht begreifen, daß die Schwester so viel Freude daran fand, und doch war sie es, die oft bei der Mutter ein gutes Wort für die Schwester einlegte, weil sie sie liebhatte und ihr gerne das gönnte, was Erika »Erholung von den Mühen des Lernens« nannte.

Doch eines Tages platzte die Freundschaft.

Alida hatte Geburtstag, natürlich sollte Erika mit dabei sein. Es gab eine ziemlich große Gesellschaft. Anna hätte es gern gesehen, wenn Erika freiwillig abgesagt hätte, da sie schon seit einiger Zeit merkte, daß sie zerstreut und gedankenlos war. Es machte ihr Sorge, wenn Erika still vor sich hin lächelte und in sich selbst versunken war.

»Kind, was hast du nur?« fragte einmal die Mutter, worauf Erika sehr rot wurde und davonlief.

Nun also sollte Alidas Geburtstag festlich begangen werden. Erika kleidete sich mit besonderer Sorgfalt an. Unter vielen Ermahnungen der Mutter, nicht zu lange zu bleiben, verabschiedete sie sich, laut bewundert von sämtlichen Geschwistern.

Es war spät am Abend. Julia war schon schlafen gegangen. Anna saß in ihrem Zimmer und wartete. Bis um zwölf Uhr hatte Erika Urlaub. Der alte Wolf war beauftragt, sie abzuholen.

Da – es war kurz nach elf Uhr, hörte sie jemand die Treppe heraufkommen. Ihre Tür wurde stürmisch aufgerissen. Erika war es. Schluchzend warf sie sich der Mutter an die Brust.

»Kind, um alles in der Welt, was ist geschehen?«

»Sie sind alle falsch drüben, nie gehe ich wieder in das Haus. Ich war dumm, daß ich alles glaubte, was man sagte! Hätte ich nur früher auf dich gehört!«

Anna beschwichtigte das junge Mädchen, strich ihr sanft über die erhitzten Wangen und ermutigte sie, alles zu erzählen.

»Du weißt, Mutter«, begann sie schluchzend, »daß Alida und Cilly mir immer versicherten, daß sie mich sehr liebhätten. Ihr Bruder sagte mir stets Schmeicheleien über mein gutes Aussehen, über meine Klugheit und so. Das gefiel mir.«

»Deiner Mutter, liebe Erika, die es mitunter hörte, gefiel es gar nicht. Weißt du, daß ich dich oft fortrief, wenn du unten im Garten über die Mauer mit den jungen Leuten lachtest und scherztest. Erinnerst du dich noch des Tages, da ich ernstlich böse sein mußte, als der junge Mann unpassende Worte zu dir sprach? Und was tat mein Töchterchen, als die Mutter ihr wohlmeinend riet, den Umgang abzubrechen? Erika schmollte; ich hörte sie zu Hanna sagen: ›So ist es, wenn man eine Stiefmutter hat, wenn doch unsere eigene Mutter noch lebte, sie würde es mir nicht verbieten.‹«

»O Mutter, das hast du gehört?« rief Erika tief errötend. »Es war unrecht von mir. Du bist die beste Mutter, du meinst es so gut mit uns, jetzt sehe ich es ein.«

»Nun, was hat dich denn heute Abend zu dieser Einsicht gebracht?«

»Ich hörte zufällig eine Bemerkung, die Cillys Bruder über mich machte.«

»Und die war?«

»Er sagte, nachdem er sich über mich lustig gemacht hatte: ›Und dabei glaubte das kleine Närrchen, ich werde sie eines Tages heiraten, das habe ich ihr kürzlich einmal gesagt. Sie sieht ganz niedlich aus und ist ein lustiger Käfer, ich werde sie mir gleich wieder zum Tanz holen und mich mit ihr vergnügen, aber heiraten werde ich doch nie ein so armes Mäuschen.‹ Da stand ich unbemerkt auf. Ich hatte mich in eine Blumennische gesetzt, weil ich Kopfschmerzen hatte, so daß mich niemand sah. Ich konnte unbemerkt zu meinem Mantel und zur Treppe gelangen und flüchtete aus dem Haus, das ich nie wieder betreten werde.«

»Ich habe es kommen sehen, daß meine Erika eines Tages eine Enttäuschung haben wird. Aber du hast meinen Rat mißachtet und hast nun diese Erfahrung machen müssen. Meine Erika wird nun wieder mit Ernst ihren Studien nachgehen, hoffe ich. Ein so junges Kind wie du muß sich überhaupt noch nicht mit solchen Dingen befassen. Deine erste Pflicht ist jetzt die Arbeit. Ihr Kinder wißt, daß ich euch gern ein Vergnügen gönne, ja am liebsten selbst mit euch fröhlich bin.«

»Wenn aber nun die Mädchen mich wieder auffordern –«

»Da laß mich nur sorgen. Sieh, daß du dich mit Martha Berend anfreunden kannst; sie ist ein so nettes Mädchen und, wie du, Seminaristin. Die gleichen Pflichten müßten euch verbinden, meine ich. Zudem ist mir die Familie bekannt, ich schätze Marthas Eltern sehr.«

Am anderen Tag kamen Alida und Cilly nicht, wie Erika geglaubt hatte, um sich wegen ihres Verschwindens Aufklärung zu holen. Hatten sie es gar nicht bemerkt? Oder war eine von ihnen dabeigewesen, als der Bruder die Äußerung tat, und hatte die hinter den Blumen verborgene Erika entdeckt?

Es blieb ungeklärt. Jedenfalls hatten sie etwas verlegene Gesichter, als sie das nächstemal zur Malstunde erschienen.

Und von Ihnen aufgefordert wurde Erika nie wieder.


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