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Doktor Müller kommt wieder

Im Rosenhaus herrschte stets großer Jubel, wenn ein Brief von Hanna eintraf. Sie und Erika führten außerdem ihre eigene Korrespondenz, durch die sie sich innerlich immer näherkamen. Erika und Julius verstanden sich sehr gut; sie nahm lebhaften Anteil an seinen Arbeiten und sprach auch gern ihre Aufsätze mit ihm durch. Erikas Augen vertrugen jetzt besser als früher das Lesen und Schreiben.

Eines Tages, es war einige Wochen nach Neujahr, erinnerte sich die Mutter, daß der Augenarzt noch keine Rechnung geschickt hatte. So schrieb sie einige höfliche Worte und unterzeichnete Anna Böckel, geb. Golf.

Doktor Müller saß am nächsten Morgen vor seinem Schreibtisch und öffnete die Post. Da fiel ihm das kleine Billet in die Hände. Er überflog die Zeilen und las die Unterschrift.

Unwillkürlich entfiel das Billet seinen Händen. »Also doch!« murmelte er. »Wie ist das möglich! Diese Frau Amtsrichter mit all den erwachsenen Kindern sollte die gute Tante Anna sein?« Jedenfalls mußte die Sache schnellstens geprüft werden, und diesmal gründlich. Seit kurzem war er so weit, daß er die geliehenen Gelder abtragen konnte, nun wollte er alles daransetzen, die Tante aufzufinden.

Gegen Abend betrat er nun zum zweitenmal das Rosenhaus. Schon als er den Garten durchschritt, hörte er musizieren. Das gleiche Mädchen, das er damals angetroffen hatte, öffnete ihm die Haustür. Auf seine Frage: »Kann ich Frau Böckel sprecken?« sagte sie:

»Ich hab Ihnen schon einmal gesehen. Damals war die Herrschaft nicht zu Hause, und heute machen sie Musik, immer einmal in der Woche mit die Bekannten. Frau Amtsrichter sitzt gerade am Klavier und spielt, da darf ich ihr nicht dazwischenkommen. Darf ich vielleicht um Ihren Namen bitten?«

»Ich komme lieber noch einmal wieder. Sagen Sie, ein Herr hätte Frau Böckel sprechen wollen; er würde sich erlauben, morgen mittag wieder vorzusprechen.«

Der Doktor machte ein unzufriedenes Gesicht. Als Ika das bemerkte, meinte sie: »Wenn Sie etwas Dringendes mit Frau Amtsrichter zu besprechen haben, kommen Sie nur. Es wird sich wohl einrichten lassen.«

»Das denke ich auch«, dann murmelte er etwas, das Ika nicht verstand, und machte kehrt.

Ein Weilchen stand er noch draußen und lauschte der Musik. Er wäre am liebsten unter den Gästen im Musikzimmer gewesen, aber dieses Mädchen! Ika aber trat sehr wichtig zu den beiden Schwestern, als der Musikabend beendet war und die Gäste sich verabschiedet hatten.

»Ika hat noch etwas auf dem Herzen«, meinte Anna. »Nun, was ist es, Ika?«

»Frau Amtsrichter, er will Ihnen durchaus sprechen.«

»Wer denn?«

»Nun, der Herr, der im Sommer schon einmal hier war mit die Proben. Fräulein Julia meinte, er wäre wohl ein Reisender oder so etwas.«

»Hättest ihn nur ein für allemal abweisen sollen. Wenn ich etwas kaufen will, habe ich in der Stadt Gelegenheit genug.«

»Zum Abweisen sah er mich doch ein bißchen zu fein aus. Ich glaub doch, es is ein ganz vornehmer Herr. Ich hab ihm deswegen auch gesagt, er soll nur morgen mittag wiederkommen.«

Julia schüttelte den Kopf und sagte, nachdem Ika gegangen war: »Wenn das Mädchen nur nicht wieder eine rechte Dummheit gemacht hat. Mit Fremden umzugehen lernt sie nie.«

Am andern Tag läutete Doktor Müller wieder im Rosenhaus. Diesmal bat das Mädchen höflich, wie Fräulein Julia befohlen, näherzutreten, öffnete das vordere Zimmer und bat, Platz zu nehmen.

Doktor Müller betrachtete inzwischen die schönen Kupferstiche an der Wand. Er war gerade in den Anblick einer Landschaft versunken, als sich die Tür öffnete. Als er sich umwandte, erkannte er sofort die langjährige Freundin seiner Mutter. Die stutzte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich weiß nicht, mein Herr, ob ich mich täusche – ich glaube –«

»Ich bin Wolfgang Müller. Ich freue mich, Sie endlich gefunden zu haben. Aber ich war, solange ich denken kann, Wolfgang für Sie, ist denn die Freundschaft nun aus?«

»Gewiß nicht«, sagte sie nun herzlich. »Also, willkommen, Wolfgang, nach vielen Jahren. Ich glaubte, du habest mich vergessen, da ich außer einem Brief nichts mehr von dir hörte.«

»Doch, ich habe noch einmal geschrieben. Doch der Brief kam als unbestellbar zurück, ich hatte keinen Anhaltspunkt, wohin ich mich nun wenden sollte. Das Studium nahm mich ganz in Anspruch, und ich glaubte, es sei vernünftiger, fleißig zu sein und zu sparen und erst dann nach meiner Gönnerin zu forschen.«

Dann erzählte er ausführlich von seinem Leben, daß er sich zuerst in einer süddeutschen Stadt als Arzt niedergelassen und dort viel Erfolg gehabt habe. Zum Schluß sagte er, daß er durch ihren gestrigen Brief endlich auf die rechte Spur gekommen sei.

»Durch meinen Brief?« sagte sie ungläubig. »Ich habe doch nicht geschrieben?«

»An den Augenarzt Doktor Müller. Dieser Arzt bin ich.«

»Sie – du bist der Augenarzt, der meine Erika behandelt hat?«

Er machte lächelnd eine Verbeugung. »Nicht du, liebe Tante Anna, bist mein Schuldner, sondern ich bin deiner. Ich bin gekommen, endlich meine Schulden abzutragen. Verzeih, daß es so lange gedauert hat.«

Sie drückte ihre Verwunderung aus, daß er überhaupt schon die Summe hatte sparen können und verhehlte ihm auch nicht, daß sie unter den jetzigen Verhältnissen öfters den Wunsch gehegt habe, wenigstens etwas von dem Geld zurückzuerhalten. Jetzt eben sei der Zeitpunkt da, wo sie es für die Kinder, besonders für den ältesten Sohn, der auch Medizin studiere, nötig brauche.

»Was ich dir sonst schulde, Tante Anna, kann ich dir nie vergelten. Du hast mir nicht nur das Leben gerettet, sondern ihm eine andere Wendung gegeben. Ich habe deinen Rat befolgt und habe gelernt, daß das Leben nur Wert hat, wenn man an Gott glaubt und an seinen Sohn, der uns zur Erlösung gegeben ist.«

»Wie würde sich deine selige Mutter freuen, wenn sie dies Bekenntnis gehört hätte.«

Sie besprachen noch manches miteinander und Anna berichtete kurz ihren weiteren Lebensweg.

Zum Schluß sprach Dr. Müller die Bitte aus, ob es ihm erlaubt sei, im Rosenhaus zu verkehren, worauf Anna ihn bat, bald ihrer Schwester einen Besuch zu machen. Julia würde ihn sicher als Freund des Hauses aufnehmen.

Dann erfolgte die Rückzahlung des Geldes und eine sehr herzliche Verabschiedung. Anna geleitete ihren ehemaligen Schützling bis an die Haustür und ging dann in die Küche, wo Erika mit Tante Julia in eifriger Unterhaltung stand.

»Gewiß, Tante, du kannst es glauben, es war mein Augenarzt. Ich stand auf der Treppe und habe deutlich gehört, daß Mutter ihn Wolfgang nannte, und er sagte: ›Tante Anna‹.«

»Du hast ganz recht, Erika«, unterbrach die Mutter, »dein Doktor Müller ist der Sohn meiner Freundin Margarete, von der ich euch öfters erzählt habe. Julia, dich bitte ich, komm einen Augenblick mit mir. Du kannst hier bleiben, Erika, nein, rufe die Geschwister und geh mit ihnen ins Eßzimmer, wir kommen gleich.«

»Ja, es ist höchste Zeit zum Essen«, fügte die Schwester hinzu. »Was hast du mir noch Wichtiges zu sagen, Anna?«

Anna zog das Kuvert aus der Tasche und legte die blauen Geldscheine vor Julia hin. »Sieh her, Schwester, nun kann ich meinen Julius leichten Herzens studieren lassen. Hier sind meine Ersparnisse.«

Die Schwester schlug vor Erstaunen die Hände zusammen. »Wo kommt das viele Geld her?«

»Redlich erworben, liebe Julia.« Und nun erzählte sie, wie sie diese Ersparnisse angewandt und wie heute Doktor Müller alles zurückbezahlt habe.

»Und das hast du mir verschwiegen? Ich habe dich für verschwenderisch gehalten, habe mich oft im stillen gewundert, daß du gar nichts gespart hattest.«

»Weil man nicht gern von Wohltaten spricht, die man andern erweist, und weil ich es Wolfgang versprochen hatte.«

»Du bist viel zu gut, Anna.«

»Nun laß uns gehen, die Kinder warten.«


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