Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In der Fremde

Es war an einem Spätnachmittag Mitte Oktober; ein D-Zug hielt auf dem Bahnhof einer thüringischen Stadt. Eine junge Dame entstieg eben dem Abteil, als ein Mädchen auf sie zukam, mit der Frage, ob sie Fräulein Hanna Böckel sei. Die Reisende bejahte die Frage, worauf das Mädchen ihr die Sachen abnahm und sagte, daß Frau Bogelius sie schicke, um sie nach Villa Auguste zu bringen.

Hanna war fast den ganzen Tag gefahren. Nun brannten schon die Lampen, und sie konnte von der Stadt und ihrer Umgebung nicht viel sehen. Es war ihr etwas eigentümlich zumute, so das erstemal in der Fremde zu sein, denn die vier Wochen im Badeort hatte sie mit lieben Freunden aus der Heimat verlebt. Frau Bogelius kannte sie zwar schon, aber wie würde sie sich sonst einleben, ohne die Mutter und die Geschwister? Sie hatten ein gutes Stück zu gehen, da der Bahnhof etwas außerhalb der Stadt lag, und mußten bald quer durch das ganze Städtchen. Jetzt kamen einige hübsche Villen, von Gärten umgeben.

Vor dem letzten Haus machte das Mädchen halt, zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloß das eiserne Gartentor auf. Sie betraten einen Kiesweg und gelangten bald in einen hell erleuchteten Hausflur.

»Seid ihr endlich da, Lina? Willkommen, liebes Fräulein Hanna!« sagte eine bekannte Stimme, und Frau Bogelius streckte ihr die Hand entgegen.

»Es tut mir leid, Frau Bogelius«, begann Hanna schüchtern, »daß Sie meinetwegen so lange warten mußten.«

»Ich liebe das Langeaufbleiben«, war die Antwort. »Mein Vater geht schon früh zur Ruhe; ich schreibe gern noch Briefe oder lese noch etwas.« Hanna schien es, als ob Frau Bogelius etwas Bedrücktes an sich habe. Nun ja, sie hatte auch viel Trauriges erlebt. Auch Hanna wußte von einer Zeit, wo es wie ein Druck auf ihrem jungen Herzen gelegen hatte. Das war, als ihr Vater so plötzlich ums Leben kam, und dann die Geschichte mit dem Bruder. Aber nun war sie glücklich, so glücklich, wie nur ein Menschenkind sein konnte. Sie dankte Gott täglich für das große Geschenk, das er ihr in ihrem Verlobten gemacht hatte. Wie fühlten sie immer mehr, daß ihre Herzen im innersten Einverständnis zueinander standen.

Dieses Glück gab ihr Mut und Freudigkeit, alles, was ihr nun neu und fremd entgegentreten mochte, willig auf sich zu nehmen, ihre Pflichten treu zu erfüllen und möglichst viel aus dieser Zeit hier zu lernen.

An diesem Abend freilich wollte das Heimweh nach dem Rosenhaus mit den geliebten Bewohnern immer wieder hervorbrechen.

Lina, das Stubenmädchen, hatte sie nach oben in ihr sehr hübsch eingerichtetes Zimmer geführt. Als sie dann gute Nacht gewünscht und Hanna allein gelassen hatte, dachte sie an ihre Schwester Erika, mit der sie immer einen Raum geteilt hatte. Wie viele fröhliche Abende hatte sie gemeinsam mit der Schwester in ihrem eigenen Zimmer verlebt. Wie waren sich die Schwestern in den letzten Jahren trotz ihrer Verschiedenheit doch nahegekommen! Erika und Ruth waren die Vertrauten ihres Herzens gewesen, ihre besten Freundinnen.

Unter dem Gedanken an das Rosenhaus schlief sie ein und erwachte erst ziemlich spät. Sie erhob sich schnell und kleidete sich sorgfältig an. Dann sah sie aus dem Fenster. Ein dichter Nebel verhüllte die Gegend. Da Frau Bogelius ihr die Weisung gegeben, nach dem Aufstehen ins Eßzimmer hinunterzugehen, klopfte sie dort an. Ein kräftiges Herein forderte zum Eintreten auf. Ein alter Herr saß allein am Kaffeetisch und rief ihr schon von seinem Stuhl aus ein freundliches »Guten Morgen« zu. Dann fügte er hinzu: »Da ist wohl das kleine Fräulein, das mir vorlesen soll, wenn ich Langeweile habe. Setzen Sie sich, Kind, und bedienen Sie sich. Meine Tochter kann erst später erscheinen, mir müssen Sie es nicht übelnehmen, daß ich Sie im Sitzen begrüßt habe. Ich habe ein steifes Bein, das Aufstehen wird mir schwer. Ich heiße übrigens Arend.«

Kurz und knapp kamen die Worte heraus, doch fühlte Hanna sich sofort zu dem alten Herrn hingezogen.

»Sie könnten mir eigentlich gleich etwas vorlesen, liebes Fräulein«, sagte er, nachdem Hanna das Frühstück beendet hatte. »Ich höre dann gleich, wie Sie lesen, und kann Ihnen meine Wünsche sagen, bin nämlich etwas eigen damit.«

»Soll ich vielleicht den Morgensegen lesen?« fragte Hanna schüchtern, die sich nicht denken konnte, daß man zu Beginn des Tages etwas anderes als Gottes Wort hören wolle.

»Meinetwegen lesen Sie, was Sie wollen«, sagte er. Sie sah sich im Zimmer um. Da sie kein Buch entdeckte, lief sie schnell nach oben, holte ihr Neues Testament, worin der Bibellesezettel lag, sah nach dem Tagestext und las mit klarer, andächtiger Stimme vor.

Der alte Herr, der an alles andere gedacht hätte, als etwas aus der Bibel zu hören, hatte sie gutmütig gewähren lassen. Er wollte sie am ersten Morgen nicht noch mehr einschüchtern, außerdem fand er großes Wohlgefallen an Hannas Natürlichkeit. Er sagte nur: »Sie lesen gut, nur ein klein wenig lauter ein andermal. Nun kommt aber die Zeitung dran.«

Jetzt erst bemerkte Hanna, daß er neben seiner Kaffeetasse die Zeitung liegen hatte. Sie solle nur den politischen Teil lesen, das andere habe Zeit bis zum Nachmittag.

»Wir werden wohl oft den Kaffee allein einnehmen müssen«, meinte der Major. »Meine Tochter soll lange ruhen, sie muß sich sehr nach den Vorschriften des Arztes richten. Sie wird aber bald erscheinen und Sie mit Ihren Pflichten bekannt machen.« Der alte Herr drückte auf eine Klingel, die er neben sich stehen hatte, worauf ein junger Mann erschien, an dessen Arm er das Zimmer verließ.

Bald erschien auch Frau Bogelius. Sie nickte Hanna zu, ging dann zu ihrem Vater, ihn zu begrüßen und sagte, als sie wiederkam: »Sie werden also von morgen an um sieben Uhr unten sein, meinem Vater den Kaffee einschenken und ihm etwas vorlesen. Er liebt das Frühaufstehen und sitzt nicht gern allein am Kaffeetisch. Dann sollen Sie aber auch, wie ich Ihnen versprochen habe, etwas lernen. Sie gehen jeden Morgen mit in die Küche, wir haben eine sehr gute Köchin. Mein Vater liebt ein gutes Essen. Sie werden manches kennenlernen, was Sie vielleicht noch nicht wußten.«

»Aber«, wandte Hanna bescheiden ein, »ich werde später sehr sparsam und bescheiden leben müssen.«

»Das können Sie deshalb doch, liebes Kind. Man kann dazutun und weglassen, wenn man die Speisen zubereitet. Die Hauptsache ist, daß man es richtig macht.«

Das Leben zeigte sich von einer sehr angenehmen Seite. Je bekannter Hanna mit allen wurde, desto weniger steif und vornehm kam es ihr hier vor. Sie wußte nicht, daß sie sich durch ihre Lieblichkeit und Freundlichkeit die Herzen erobert hatte. Der alte Major beobachtete sie im stillen, mit welcher Geschicklichkeit sie ihm das Frühstück bereitete, wie offen sie alle seine Fragen beantwortete, wie sie, wenn sie ihren Kaffee getrunken hatte, ihm so selbstverständlich und ausdrucksvoll den Morgensegen vorlas und dann zur Zeitung griff. Was in des alten Mannes Herz vorging, als sie las: »Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch untereinander liebet«, das ahnte sie nicht.

Einmal kam Frau Bogelius dazu, als Hanna gerade die Morgenandacht las, und schüttelte verwundert den Kopf. Als der Vater in seinem Zimmer war, fragte sie, auf das Buch zeigend: »Lesen Sie meinem Vater jeden Morgen daraus vor?«

Sie bejahte es und meinte auf die Frage von Frau Bogelius, wieso sie dazu komme: »Ich glaubte, es gehöre zur Hausordnung.«

»Tun Sie es nur weiter, liebe Hanna, wenn mein Vater nichts dagegen hat. Wir haben früher ohne Gottes Wort gelebt, und ich habe erst später darin Trost gefunden und Kraft zum Tragen aller Widerwärtigkeiten. Mein Vater hat sich bis jetzt ablehnend verhalten; ich freue mich, daß er zuhört, wenn Sie ihm daraus vorlesen.«

Hanna sah erschrocken aus. »Soll ich es lieber nicht mehr tun?«

»Gewiß sollen Sie es. Ich wünschte nur, es hätte von Anfang an ein christlicher Sinn in unserem Hause geherrscht, dann hätte sich wohl manches nicht ereignet.«


 << zurück weiter >>