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Das Rosenhaus

Ein Jahr später, zur Rosenzeit war's. Wo fand man in der norddeutschen Großstadt mit ihrem rastlosen Getriebe, mit ihren eng aneinandergeschlossenen Häuserfronten wohl noch Rosen? Und doch gab es sie in den Vorstädten in üppiger Fülle; am meisten aber rankten sie an einem Hause hoch, das, weiter zurückgelegen als die andern, nicht gleich von jedem Vorübergehenden bemerkt wurde. Es war von einem großen Garten umgeben, den ein schmiedeisernes Gitter von der Straße trennte. Das Haus konnte sich nicht messen mit den feinen, zum Teil schloßartigen Villen zur Rechten und zur Linken. Wer es aber im Vorübergehen bemerkte, blieb stehen und sah mit Bewunderung den Rosenflor am Hause. Wie der Name »Rosenhaus« entstanden war, wußte niemand. Aber fast jeder kannte das Rosenhaus, das zur Sommerzeit so festlich geschmückt dastand, inmitten des geschmackvoll angelegten Gartens. Im oberen Stockwerk waren zu dieser Zeit die Fenster geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Unten schien es bewohnt zu sein. Eben wurde die Haustür geöffnet und zwei ältere Damen traten heraus.

»Siehst du, Charlotte«, sagte die kleinere, »kaum kann ich den Gedanken fassen, aber seit die Erbschaftsangelegenheit geordnet ist, kommt es mir immer mehr zum Bewußtsein, daß Haus und Garten wirklich mir gehören.«

»Du bist ein Glückspilz, Julia, während wir auf unser kleines Ruhegehalt angewiesen sind und mit unseren beschränkten Räumen zufrieden sein müssen, ist dir dies alles ungeahnt in den Schoß gefallen. Du kannst hier leben wie eine Königin.«

»Sage das nicht, Charlotte. Ich möchte auf keinen Fall wie der reiche Mann im Evangelium leben«, erwiderte Julia, den Arm der Freundin ergreifend. »Es überwältigt mich so, daß ich nun selbst Besitzerin von Haus und Garten sein soll.«

»Du hast es verdient, Julia. Wir gönnen es dir alle. Du hast schwere Jahre hier durchmachen müssen. Da Frau von Hook keine näheren Verwandten hatte, finde ich es sehr einsichtsvoll, daß sie dir den schönen Besitz hinterlassen hat. Sag, hast du auch ihr ganzes Vermögen geerbt?«

»Frau von Hook hat größere Stiftungen gemacht. Aber ich habe noch reichlich bekommen, so viel, daß ich Haus und Garten in gutem Stand erhalten kann und gut zu leben habe«, fügte sie hinzu. »Ich kann sogar den Gärtner bezahlen. Der Garten soll bleiben wie er ist, das hat sie in ihrem Testament bestimmt.«

»Was wird deine Schwester nur dazu sagen?«

Bei Nennung der Schwester brach ein Strahl der Freude aus Julias Augen. »Sie wurde sofort davon in Kenntnis gesetzt; natürlich kommt sie zu mir. Ich würde nicht glücklich sein, wenn ich all das Gute hier allein genießen sollte. So wird der Wunsch unserer Jugend sich früher erfüllen als wir je gedacht.«

»Ihr habt euch lange nicht gesehen?«

»Seit zehn Jahren nicht. Zu mir konnte sie in den Ferien nicht kommen, und ich war hier angebunden.«

»Um so mehr werdet ihr in Zukunft voneinander haben.«

Während dieses Gespräches hatten sie den großen, hinter dem Haus gelegenen Garten betreten.

»Siehst du, Charlotte, hier gibt's zu tun. Wenn auch der Gärtner alles instand hält, bleibt noch viel für mich übrig. Auf diese Arbeit freue ich mich besonders.«

Das Hühnervolk eilte gackernd herbei. Julia holte eine Schüssel mit Gerste und streute davon hin, da kamen auch die Tauben angeflattert. Eine von ihnen flog auf Julias Schulter und pickte ihr die Körner aus der Hand. »Dies ist mein Liebling«, sagte sie, »sie hatte sich den Fuß verletzt, da habe ich sie ein paar Tage bei mir im Zimmer gehabt.«

Charlotte lachte. »Dies alles ist mir untertänig, begann er zu Ägyptens König, gestehe daß ich glücklich bin.«

»Glücklich und dankbar, Charlotte. Aber vollkommen glücklich werde ich erst sein, wenn meine Schwester hier ist.«

Julia führte den Gast noch zu dem unteren Teil des Gartens. Dort, wo die Gemüsebeete aufhörten, begann ein Wäldchen mit Birken, Tannen, jungen Buchen und Erlen, deren verschiedenartiges Grün eine hübsche Farbwirkung hervorzauberte. Ein kleiner Abhang führte hinunter zu dem Fluß, an dem die Stadt lag.

»Idyllisch«, schwärmte Charlotte. Wer sucht so etwas in der großen Stadt!«

Ja, erst in den letzten Jahren sind die meisten Villen hier gebaut worden. Unser Rosenhaus lag früher etwas abseits von der Stadt. An seiner alten Bauart siehst du, daß es schon lange steht.«

»Immer neue Wunder tun sich vor meinen Augen auf. Laß uns umkehren, sonst bin ich heute abend noch hier.«

»Jetzt ist das Reich auch zu Ende«, lachte Julia.

»Komm nur oft, mich zu besuchen. Ich möchte, daß mein Heim ein Zufluchtsort für alle wird, die ich liebhabe.«

Die Freundinnen kehrten um, und Charlotte verabschiedete sich mit dem Versprechen, bald einmal wiederzukommen.

Sie konnte es nicht lassen, sie mußte noch zu einigen Bekannten und ihnen erzählen, daß sie bei Julia, der reichen Erbin, gewesen sei, und daß sie ihr als erste das Rosenhaus mit dem Park gezeigt habe; und Julia sei noch genau so wie immer.

Julia, das einfache Mädchen mit dem treuen Herzen, wanderte langsam zurück und setzte sich in einen der hübschen Gartenstühle, die auf der Terrasse standen. Sie sah an sich herunter. »Ich kleines Persönchen, ich unbedeutendes Wesen bin auf einmal Besitzerin dieses Palastes.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es selber noch gar nicht glauben. Sie hatte nie viel aus sich machen können, hübsch war sie gar nicht – eine große gebogene Nase hätte leicht das Gesicht verunstaltet, wären nicht die guten dunklen Augen so anziehend gewesen: In dem schwarzen vollen Haar glänzten schon Silberfäden. Sie hatten sich wohl etwas zu früh eingestellt.

Sie war stets unauffällig gekleidet. Für Putz und Staat hatte sie nie etwas übrig gehabt. Aber von gediegenem Stoff mußte alles sein, das liebte sie. Das Haar war einfach gescheitelt, und wenn die Freundinnen mahnten: »Julia, du bist unmodern«, lachte sie und sagte: »Laßt mich nur, ich komme schon wieder in Mode.«

Julia Golf erhob sich aus ihrem Stuhl. Sie wollte noch schnell einen Krankenbesuch machen. Sie eilte die Villenstraße entlang, bog dann in eine Nebenstraße ein, wo in einem kleinen Haus die Kranke lag. Sie klopfte und betrat gleichzeitig die Wohnung.

Heute aber war die Tochter der Kranken, die als Zugehfrau viel unterwegs war, da. Sie begrüßte Fräulein Golf, von der sie so viel Gutes empfingen, so ganz besonders, daß Julia meinte, sie müsse etwas auf dem Herzen haben. Auf ihr Befragen, wie es der Mutter gehe, meinte Frau Blank, die Mutter sei heute recht frisch und habe guten Appetit, dabei sah sie auf die große Tasche, die Fräulein Golf in der Hand hielt, und aus der auch für sie oft etwas Gutes hervorkam.

Mit leisem Schritt betrat Julia das Krankenzimmer. Die Abendsonne warf ihre Strahlen auf das Bett und beleuchtete das alte Gesicht der Kranken.

»Immer noch Schmerzen?« fragte Julia und streckte ihr die Hand hin.

»Es geht heute leidlich, Fräulein Golf, man kann sich auch an Schmerzen gewöhnen.« Dann packte Julia ihre Schätze aus, die mit großer Freude angenommen wurden. Als sie gehen wollte, bemerkte die Kranke, daß ihre Tochter sie noch zu sprechen wünsche. Die hatte schon auf das Stichwort gewartet und stand in der Tür, drehte verlegen am Schürzenband und brachte ihre Bitte vor. Es betraf ihr einziges Kind, das ein Jahr auswärts gedient hatte und nun eine Stelle suchte.

»Sie bekommt ja gleich wieder etwas, meine Ludovika, denn sie ist kräftig und fleißig und versteht so manches, aber ich habe gehört, daß die alte Marie fortgeht und da – hätte ich das Mädchen am liebsten im Rosenhaus.« – »Ganz besonders, weil bei Ihnen Gottesfurcht herrscht«, fügte die Kranke hinzu und sagte mit bittendem Blick: »Liebes Fräulein Julia, helfen Sie mit, daß meine Enkelin Gott nicht vergißt.«

Frau Blanks Gesicht schien allerdings bei diesen Worten sagen zu wollen: »Das ist mir nicht gerade die Hauptsache.« Julia nickte der Kranken zu. Dann wandte sie sich an Frau Blank: »Wenn Ihre Tochter ein ordentliches, fleißiges Mädchen ist, wenn sie ihre Arbeit versteht, bin ich nicht abgeneigt, sie in mein Haus zu nehmen. Wann könnte sie eintreten?«

»Sofort, Fräulein. Schade, daß sie gerade nicht da ist; ich schicke Ludovika aber morgen zu ihnen.«

»Wie war doch der Name Ihrer Tochter?« fragte Julia Golf, die glaubte, nicht recht gehört zu haben.

»Ludovika«, kam es mit Betonung zurück. »Ich habe den Namen in einem Buch gelesen, und weil wir, mein Mann und ich, noch nie einen so schönen Namen gehört hatten, haben wir sie so taufen lassen.«

Julia schüttelte lächelnd den Kopf, dann verabschiedete sie sich.

Auf dem Heimweg kam ihr der Name des Mädchens immer wieder in den Sinn. »Ludovika, Lu-do-vi-ka! So kann ich doch das Mädchen unmöglich nennen! Ludo? Dovi? Vika? Nein, Ika, das wäre noch am passendsten.«

Sie teilte der alten Marie die Aussicht auf eine Hilfe mit, was bei dieser, wie jetzt so oft seit dem Tode der Herrin, ein Schluchzen hervorrief. »Ach du meine Güte, dann geht's nun doch fort aus dem Rosenhaus. Wie werde ich es noch vermissen, wenn ich die Schönheit hier nicht mehr sehe! Aber nun müssen Sie den Tee haben, im Eßzimmer steht schon alles bereit.«

Als es dunkelte, brachte Marie die Lampe und zog die Vorhänge zu. Julia liebte es, abends noch etwas allein zu sitzen. Sie sah sich in dem Zimmer um; nichts fehlte an Behaglichkeit und vornehmer Einfachheit. Was wird Anna wohl sagen? dachte sie.

Sie zog einen Brief aus der Tasche und las die eine Stelle immer wieder:

»Unbeschreiblich freue ich mich. Was könnte ich mir wohl Schöneres wünschen, als mit Dir zusammen zu leben? In acht Tagen hoffe ich bei Dir zu sein.«

Die acht Tage werden mir lang werden, dachte sie, indem sie den Brief zusammenfaltete und in die Tasche gleiten ließ. Wie wird sich unser Zusammenleben gestalten? Wir sind von Natur verschieden. Anna rasch, lebhaft, für äußere Eindrücke empfänglich, alles Neue mit Feuereifer aufnehmend. Ich kann mich dem Zug der Zeit nicht so anpassen, ich muß das Neue erst prüfen, es an mich herankommen lassen.

Weitere Bilder aus der Vergangenheit zogen an Julia vorüber. Als sie vor vielen Jahren als Gesellschafterin der Frau von Hook hier einzog, welch Leben und Frohsinn herrschte da im Haus! Zwei vielversprechende Söhne, angehende Juristen, sorgten für Geselligkeit, Mittag- und Abendgesellschaften wechselten in den Wintermonaten ab; der Sommer wurde in Badeorten oder auf Reisen verlebt. Julia hatte so die Welt mit ihrem bunten Treiben kennengelernt. Aber es wurde dann bald anders. Die beiden Söhne starben kurz hintereinander, und die Eltern konnten sich von diesem harten Schlag nicht mehr erholen. Der Herr des Hauses wurde still und wortkarg und verfiel zuletzt in Trübsinn. Frau von Hook, die Julias Treue und Gewissenhaftigkeit schätzte, hatte sich immer mehr an sie angeschlossen. Als sie dann an Krebs erkrankte, hatte Julia sie in aufopfernder Weise gepflegt; nun durfte sie den Lohn genießen. Es war ihr oft, als hörte sie noch die klagende Stimme der Herrin, wenn die Schmerzen unerträglich wurden.

 

Am anderen Morgen erschien Ludovika. Sie hatte sich sehr zurechtgemacht, aber sonst gefiel sie dem Fräulein. Sie war für ihre vierzehn Jahre sehr kräftig, hatte offene Augen und einen gutmütigen Gesichtsausdruck. Nach einigen prüfenden Fragen wurde abgemacht, daß Ludovika Blank zu Fräulein Golf kommen sollte. »Und nun der Name. Offen gestanden, er ist mir etwas ungewohnt. Wie wär's, wenn wir ihn abkürzten?«

»Es ist mir recht; sie haben mich zu Hause auch anders gerufen.«

»Wie denn?« fragte Julia, sichtlich erfreut. Das Mädchen schwieg.

»Wollen Sie, oder vielmehr, willst du es mir nicht sagen?«

Ludovika schwieg beharrlich. Daß sie daheim »Lute« genannt wurde, mochte sie nicht preisgeben. »Nun«, sagte Julia etwas ungeduldig, »dann muß ich mir selbst helfen. Wie wär's mit den letzten Silben, wenn ich ›Ika‹ sagte?«

»Es ist mir recht so.«

»Nun denn, Ika, es ist abgemacht. Du kommst heute abend. Deine Sachen können vom Dienstmann gebracht werden.«

»Das wäre noch schöner, die bring' ich mit der Mutter, wir können schon zugreifen.«

Diese Antwort gefiel Julia.

Am Nachmittag gab es einen herzbewegenden Abschied von der alten Marie, die unter viel Schluchzen und Weinen nicht nur von Menschen und Tieren, sondern auch von dem leblosen Inventar des Hauses Abschied nahm, so daß Julia erleichtert aufatmete, als die rührseligen Szenen doch noch ein Ende nahmen.

Abends zog Ika ein, begleitet von der Mutter. »Mache der Großmutter und mir Ehre«, sagte sie beim Abschied, und Julia setzte hinzu: »und habe Gott vor Augen bei allem, was du tust«.

Ich bin nun verantwortlich für dies junge Mädchen, dachte Julia später. Die kranke Großmutter hat sie gern zu mir gegeben, weil hier Gottesfurcht herrscht. Das ist mir eine ernste Mahnung. Meine Pflicht soll deshalb sein, nicht nur für die leiblichen Bedürfnisse des Mädchens zu sorgen.

Als die Zeit zum Schlafengehen kam, rief sie Ika zu sich, las ihr eine kurze Betrachtung vor und forderte sie auf, laut mit ihr das Vaterunser zu beten. Dann fragte sie noch:

»Kennst du auch die Bedeutung der einzelnen Bitten?«

»Ja gut«, war die Antwort.

»Das freut mich. Aber auswendig wissen und darnach tun sind zweierlei Dinge. Und nun geh schlafen, Ika.«


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