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Der Fremde

Die Äste der Pflaumenbäumchen hingen fast zur Erde, die Apfel- und Birnbäume mußten gestützt werden, um die Zweige vor dem Brechen zu bewahren.

»Der liebe Gott weiß, daß wir das Obst gut gebrauchen können, Wolf, sagte Tante Julia.

Der Alte kratzte sich den Kopf. »Wenn wir nur erst alles heil herunter hätten!«

»Alle werden helfen, Wolf. Sagen Sie nur, welche Bäume zuerst dran sollen.«

Es war ein lustiges Leben für die Kinder und auch für Ika, die oft mit vollen Backen schmausend im Garten hin und her lief. Hanna und Erika, mitunter auch Ruth, trugen mit ihr die vollen Körbe ins Haus, wo Julia und Anna in den Bodenkammern das Obst auspackten und vorsichtig ausbreiteten. Den Kleinen aber mußte gewehrt werden, daß sie nicht zuviel des Guten taten, besonders dem Ludwig, der es sich sehr angelegen sein ließ, unter den Bäumen aufzulesen, was ihm gut dünkte. Dabei warnte er immer die kleinere Schwester: »Grete iß nicht zuviel, sonst wirst du krank.«

Es kamen aber auch Regentage, dann wurde es draußen im Garten still, desto mehr aber regte es sich im großen Kinderzimmer.

»Nun kommt der alte Saal auch zu seinem Recht«, sagte Julia dann mit Befriedigung, »es ist doch gut, wenn man ein großes Haus hat.«

An einem solchen Tag kam sie lachend zu Anna, die in ihrem Zimmer mit einer Flickarbeit saß. Die drei ältesten Kinder waren in der Schule, die beiden jüngsten saßen am großen Tisch und spielten miteinander. Die Tür nach dem Flur stand offen, so daß Julia, die gerade vorbeikam, folgendes Gespräch hören konnte.

»Du, Grete«, sagte Ludwig zu der Schwester, »in der Speisekammer darfst du nicht naschen, der liebe Gott kann durch die Mauern sehen.«

»Die Tante Julia tann auch durch Mauern sehen«, hatte die Kleine da erwidert.

Und Tante Julia erzählte den Vorgang, der in dem Mädchen diese Überzeugung wachgerufen hatte. Es sei in der Tür der Speisekammer ein kleines rundes Fensterchen. Durch dieses habe sie gesehen und bemerkt, daß die Kleine einige Birnen herausgeholt und in die Tasche gesteckt habe. Als Gretchen dann durch die Küche kam, habe sie gerade am Herd gestanden und drohend den Finger erhoben und gerufen: »Gretlein, nicht naschen. Gib gleich einmal die Birnen heraus, die du im Täschchen hast.« Da habe sie ganz erschrocken die Birnen aus der Tasche geholt, sie auf den Tisch geworfen und sei dann weggelaufen.

»Ich habe nicht mehr viel gesagt, da das kleine Gewissen schon erwacht war. Wenn sie aber denkt, daß ich durch Mauern sehen kann, wird der Respekt gewaltig zunehmen.«

»Das ist auch gut so.«

Julia beobachtete die Schwester bei der Arbeit. »Das ist ja eine arge Flickerei.«

Anna hob Karls Jacke in die Höhe. »Von oben bis unten geplatzt – das kommt vom Bäumeklettern.«

»Du bist solche Arbeit nicht gewöhnt.«

»Ich tue sie aber gern, weil sie zu meinen Pflichten gehört.«

Julia, die wußte, daß solche Arbeit der Schwester besonders schwer wurde, streichelte ihr die Wangen und sagte nur: »Meine liebe, gute Schwester, Gott wird dir die Treue an den Kindern lohnen.«

»Mein größter Lohn ist, wenn sie alle wohlgeraten. Daß du mir so gut dabei hilfst, das danke ich dir. Die Erziehung der Kinder ist ja bei weitem schwerer, als zerrissene Sachen zu flicken. Ich bin übrigens bald fertig; nachher gehen wir noch einmal mit unsern Kleinen zur Auffrischung durch den Garten.«

Die Tage begannen kürzer zu werden und das Wetter rauh und stürmisch. Im Rosenhaus ging das Leben seinen geregelten Gang. Ika bewältigte die Mehrarbeit gut; ihr gefiel nicht nur die Lohnerhöhung, sondern auch das ganze Treiben in dem früher so stillen Haus.

»Fräulein Julia«, sagte sie eines Tages, »es ist doch jetzt mit die Kinder viel lustiger, als früher mit Ihnen allein. Ich hab mir immer so gegrault, wenn ich oft so allein war.«

»Ich habe eine gekannt,« lachte Julia, »die sich vor all den Kindern graulte und vor der vielen Arbeit.«

»Ich wußte nicht, daß die kleinen Fräuleins so helfen. Und dann Wolf, Fräulein Julia, wenn wir den nicht hätten!«

»Ja, Wolf ist ein Segen fürs Haus.«

Darin hatte Julia recht. Wolf verstand alles, er war geschickt und hatte einen praktischen Blick. »Wolf« hieß es hier und »Wolf« rief man da. Zerbrochenes Spielzeug machte er ganz, war etwas an den Möbeln verdorben, so brachte er es in Ordnung. Sollten Vorhänge aufgemacht oder Nägel und Haken eingeschlagen werden, so mußte Wolf kommen; besonders jetzt, wo die Gartenarbeit ruhte, ließ er sich's angelegen sein, allerlei Schäden im Hause auszubessern. Auch die Kleinen besuchten ihn gern, wenn er abends in seinem gemütlichen Zimmer saß und sein Pfeifchen rauchte. Er konnte so schön aus der Zeit erzählen, da er ein kleiner Bube gewesen war.

Eines Abends hatten Ludwig und sein Schwesterchen wieder mal bei ihm angeklopft. Ludwig mit einem dreibeinigen Pferd, das zerbrochene vierte Bein in der Hand, Gretlein mit einem kranken Püppchen, das den Arm verloren hatte. Sie verfolgten mit Spannung jeden Handgriff, vom Aufsetzen des Leimtiegels auf den warmen Ofen bis zur Genesung des Heilungsbedürftigen.

Karl war zu einem Freund gegangen, Erika begleitete Tante Julia und die Mutter, die Besorgungen in der Stadt machten. Hanna war zur Beaufsichtigung der Kleinen daheim geblieben und benutzte die Zeit, die sie bei Wolf zubrachten, um ihre Schularbeiten zu erledigen.

Es war schon dunkel. Nur die Hängelampe brannte im Kinderzimmer, da klingelte es an der Haustür. Ika eilte aus der Küche herbei. Hanna hörte wohl gedämpftes Sprechen draußen, achtete aber nicht weiter darauf, bis es klopfte.

»Es ist draußen ein recht sonderbarer Mensch. Er sieht wie ein Bettler aus, will aber nichts annehmen. Er will Frau Amtsrichter sprechen.«

»Mutter ist nicht da. Haben Sie ihm das nicht gesagt, Ika?«

»Gewiß, Fräulein Hanna, er will aber nicht gehen, er will warten, bis sie kommt.«

Da sagte eine Stimme hinter Ika:

»Wenn Fräulein Hanna Böckel hier ist, so ist es noch besser.«

Eine ziemlich große, schlanke Jünglingsgestalt drängte Ika, die sich breit in die offene Tür gestellt hatte, zur Seite und schob sich in die Stube.

Hanna, die erschrocken auf die Gestalt gesehen hatte, rief erstaunt: »Julius, wo kommst du her?«

Dann machte sie ein Zeichen zu Ika, daß sie gehen solle, die dann kopfschüttelnd in die Küche zurückging: »Was nur der schäbige Mensch bei Fräulein Hanna will. ›Du‹ hat sie zu ihm gesagt! Na, was dazu wohl Fräulein Julia meint?«

Hanna wiederholte mit einem schmerzlichen Ausdruck: »Julius, wo kommst du her? Wie siehst du aus?«

»Ja, zerrissen und schmutzig und hungrig und frierend.«

Sie schob ihm einen Stuhl hin und blickte ihn von oben bis unten entsetzt an. War das ihr Bruder? Konnte das der zarte Junge sein, den sie zuletzt vor zwei Jahren gesehen hatte? Was würde Mutter sagen, die ihn noch gar nicht kannte. Er durfte sich ihr so nicht zeigen, Hanna würde sich seinetwegen in die Erde schämen. Was nur tun? Plötzlich fiel ihr Herr Maß ein.

»Julius, wußtest du eigentlich, daß der Vater wieder geheiratet hat, daß – der gute, liebe Vater bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen ist?«

»Das habe ich alles erst jetzt erfahren. Ich war in Neuenburg, wollte den Vater aufsuchen und seine Verzeihung erflehen, da hörte ich, daß er verunglückt und daß seine zweite Frau mit allen Kindern hierher gezogen war. Nach langem Suchen habe ich euch gefunden.«

Hanna, die ängstlich nach draußen horchte, dachte wieder, daß sie den Bruder in diesem verwahrlosten Zustand unmöglich der Mutter vorstellen könne. Wenn doch Karl wenigstens zu Hause wäre!

»Unsere zweite Mutter ist sehr gut«, begann Hanna wieder, »aber sie würde entsetzt sein, dich so zu sehen.«

»Das glaube ich gern«, versetzte der Junge mit bitterem Lachen. »Hast du denn nichts zum Anziehen für mich? Hier, die Knie sind durch, die Ellbogen auch, saubere Wäsche habe ich seit Wochen nicht gesehen. Meinst du, daß es mir ein Vergnügen sei, mich so vor Menschen sehen zu lassen. Wenn man aber keinen Pfennig in der Tasche hat und keinen Menschen –«

»Ich bin da«, unterbrach ihn Hanna, »komm mit!«

Als sie über den hellen Hausflur gingen, wurde die Küchentür leise geöffnet und Ika guckte ihr nach. »Nun geht sie mit dem Menschen nach oben, was das wohl wird? Wenn doch bloß erst die Schwestern kämen! Was auch mit die Kinder allens ins Haus kommt.«

Oben öffnete Hanna die Tür zu Karls Zimmer und ließ Julius dort eintreten: »Setz dich dorthin, ich will sehen, ob ich einige Sachen für dich bekommen kann.«

Dann klopfte sie zögernd an Herrn Maß' Tür. Auf sein Herein blieb sie draußen und klopfte noch einmal. Nun kam er selbst und öffnete.

Das Mädchen stand ganz verwirrt da. Das Gesicht, das sonst so freundlich strahlte, war unendlich traurig.

»Fräulein Hanna«, rief der Student erschrocken, »es ist Ihnen doch nichts passiert?«

»Sie sprachen heute nach Tisch mit meiner Tante von einem Anzug, den Sie verschenken möchten, darf ich ihn haben?«

Herr Maß sah sie verständnislos an. Da erzählte Hanna ihm in Kürze, daß sie einen unglücklichen Bruder habe, der nun in sehr schlechter Verfassung heimgekehrt sei.

Herr Maß, ganz beglückt, diesem jungen Mädchen, das er in der Stille verehrte, einen Dienst erweisen zu können, und erfreut, daß es ihm Vertrauen schenkte, reichte ihm die Hand. »Von Herzen gern sollen Sie alles haben, was Sie wünschen. Wo ist er?«

Sie betraten Karls Zimmer. »Hier ist mein Bruder.«

Auf Herrn Maß' Gesicht zeigte sich Mitleid. »Sie Ärmster«, sagte er, »da müssen wir schon ein bißchen aushelfen.« Er zündete die Lampe auf Karls Arbeitstisch an und sagte zu Hanna: »Seien Sie unbesorgt, Fräulein Hanna, ich werd's schon machen. Ich hole alles, was wir brauchen, gehen Sie ruhig hinunter. Ich bin ja froh, wenn ich Ihnen einen Gefallen tun kann.«

Sich der Kleinen erinnernd, eilte Hanna schnell nach unten. Es war höchste Zeit. Die beiden waren mit ihren geleimten Spielsachen bereits zurück. Ludwig, der gern irgendeine Dummheit ausheckte, war auf den Tisch geklettert und dachte, dem Schwesterchen einen großen Spaß zu bereiten, wenn er die Petroleumlampe ausdrehte. Statt aber nach links zu drehen, drehte er nach rechts, so daß die Flamme immer höher brannte und ein dichter Qualm die Luft erfüllte.

Nun fingen sie beide an zu schreien, worauf Ika aus der Küche stürzte. Als sie sah, daß Hanna schon im Kinderzimmer war, kehrte sie um. Im gleichen Augenblick kam Herr Maß die Treppe herunter und bat Ika um einen großen Topf warmen Wassers. Sie beeilte sich, seinen Wunsch zu erfüllen und fragte etwas zu bereitwillig, ob sie das Wasser auch hinauftragen sollte. Aber er lehnte ihre Hilfe zu ihrem großen Leidwesen ab.

Hanna hatte unterdes die Lampe in Ordnung gebracht und die Fenster geöffnet. Nun wartete sie sehnsüchtig auf das Kommen der Mutter. Nach einer geraumen Zeit hörte sie Schritte.

»Ika, kam da jemand?« rief sie in die Küche.

»Es kam niemand, nur Herr Maß ist mit einem Paket aus dem Haus gegangen.«

Da wußte Hanna, daß er die alten Lumpen beseitigte.

Schon bald kam Herr Maß zurück. Was er heute abend für ihren Bruder getan, das würde sie ihm so schnell nicht wieder vergessen.

Endlich hörte sie draußen bekannte Stimmen und eilte in den Flur. »Erika, sieh doch nach den Kleinen, ich muß Mutter etwas sagen.«

Nun wandte sie sich an die Mutter:

»Ich möchte dich allein sprechen.«

»Gern, mein Kind. Komm, wir gehen nach oben.«

Julia war schon in die Küche geeilt.

Als sie oben waren, zog Anna die Tochter an sich, deren betrübtes Gesicht ihr Sorge machte. »Nun, mein Kind, was bedrückt dich?«

Da schluchzte Hanna auf: »Mutter, unser Bruder Julius ist plötzlich zurückgekehrt!«

Anna erblaßte. Nie hat sie mit den Kindern von diesem Bruder gesprochen. Sie wußte von ihrem Mann, daß er seinem Vater Kummer bereitet hatte. Der Vater hatte damals vergebliche Nachforschungen angestellt und angenommen, daß er über den Ozean gegangen sei auf Nimmerwiederkehr. Nun war er auf einmal da, der fremde Sohn einer ihm fremden Mutter.

»Wo ist er denn?«

»Er ist ins Karls Zimmer. Gekommen ist er wie ein Bettler, zerrissen und schmutzig. Herr Maß hat mir geholfen, er hat ihm einen Anzug abgetreten, ich glaube auch Wäsche. Soll ich den Bruder holen?«

Die Mutter nickte stumm.

Jetzt erschien ein junger Mann mit mächtigem Haarwuchs und einem klugen Gesicht, in Sachen, die der Student ihm gegeben hatte, die ihm aber viel zu klein waren.

Anna streckte ihm die Hand entgegen. »Wir sind uns fremd und gehören doch zusammen, Julius. Deines Vaters Kinder sind jetzt alle meine Kinder. Sieh mich bitte auch als deine Mutter an.«

Julius ergriff ihre Hand, murmelte ein »Ich danke Ihnen« und setzte sich auf den dargebotenen Stuhl. Anna ließ sich aufs Sofa nieder und bat Hanna, sie jetzt allein zu lassen.

»Sorge dafür, daß uns etwas zu essen gebracht wird, wir werden heute abend nicht hinunterkommen, mein liebes Kind.«

Hanna sah die Mutter dankbar an.

»Meine Schwester ist recht gewachsen«, murmelte Julius verlegen.

»Das ist sie«, war Annas Antwort. »Sie ist aber auch für ihre Jahre sehr gereift. Das Schwere, was wir erlebt haben, hat großen Einfluß auf ihre innere Entwicklung gehabt. Nun, fasse Vertrauen zu mir, erzähle mir von deinen Irrfahrten und wie du zu dem Entschluß gekommen bist, zurückzukehren.«


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