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Frau Maß

Am Nachmittag des letzten Prüfungstages ging Julia allein fort. Man achtete nicht weiter darauf, da man es gewohnt war, daß sie oft ihre eigenen Wege ging. Als sie aber mit einer kleinen fremden Dame am Arm wiederkam, wurden die älteren Brüder doch neugierig.

»Nun ratet«, riefen die beiden Mädchen, »wir wissen es schon lange.«

»Mädchen können nicht schweigen«, fiel Julius neckend ein. »Ich müßte euch nicht kennen; wenn ihr es gewußt hättet, würdet ihr es gewiß längst ausgeplaudert haben.«

Die Fremde saß obenan am Kaffeetisch zwischen der Mutter und Tante Julia und sah von Zeit zu Zeit besorgt nach der Uhr.

»Noch kann er nicht hier sein, liebe Frau Maß«, sagte Julia freundlich, »aber gegen sechs Uhr dürfen wir ihn erwarten.«

Jetzt merkten die Brüder, wer der Besuch war. Julius flüsterte Karl zu: »Das ist die Mutter von Herrn Maß.«

Julia, die es hörte, hob warnend den Finger und sagte: »Daß nur niemand Herrn Maß etwas davon sagt; es soll eine Überraschung für ihn sein.«

Sie führte dann Frau Maß in das Zimmer ihres Sohnes. Die kleine Frau war von dem Anblick ganz überwältigt und rief immer wieder aus: »Mein Sohn hat mir oft beschrieben, wie schön er bei Ihnen wohnt, mein liebes Fräulein Golf. Aber so hübsch habe ich es mir doch nicht vorgestellt.« Und nun ergoß sie einen Dankesstrom über Julia, die versicherte, daß sie den jungen Mann schmerzlich vermissen werde.

»Aber nun, liebe Frau Maß, setzen Sie sich in den Lehnstuhl und warten Sie, bis Ihr Sohn kommt. Wenn wir ihm unsere Glückwünsche ausgesprochen haben, wird er gleich in sein Zimmer eilen und sich, wie ich denke, freuen, wenn er seine Mutter vorfindet.«

Gegen halb sechs Uhr hörte man die Gartenpforte gehen. Ein eiliger Schritt näherte sich. Die Kinder liefen an die Haustür, bald gab es Jubel und Getümmel. Die beiden Brüder faßten ihn unter dem Arm, die übrigen folgten und alle riefen: »Bestanden, bestanden; glänzend bestanden!«

»Das habe ich nicht gesagt«, wehrte der glückliche Kandidat ab; aber man merkte es seinem ganzen Wesen an, daß er kein schlechtes Examen gemacht hatte.

»Heute wird nichts mehr gemacht«, rief er fröhlich.

»Das wollte ich meinen«, sagte Tante Julia. »Nun tragen Sie nur Ihre Bücher nach oben und ruhen dort etwas aus. Für den Abend legen wir Beschlag auf Sie.«

»Ich komme gleich wieder«, gab er zurück, sprang mit einigen Sätzen die Treppe hinauf, öffnete die Tür und stieß einen Ruf des größten Erstaunens aus.

»Mutter, du hier! Wenn ich mir etwas hätte wünschen können, so wäre es dies gewesen, dir noch heute die frohe Botschaft, daß ich meine Studien soweit beendet habe, selber zu bringen.«

»Gott sei Dank, es ist mir, als könnte ich nun ruhig sterben!«

»Nein, jetzt sollst du weiter leben und sehen, daß dein Sohn für alle Opfer, die du ihm gebracht hast, dankbar ist.«

Mutter und Sohn verlebten eine köstliche Stunde des Alleinseins dort oben, während man unten sehr beschäftigt war. Die jungen Mädchen deckten den Tisch, Frau Maß sollte obenan neben dem Sohn sitzen, ihre Plätze waren mit Blumen geschmückt. Ein Punsch wurde unter dem Beistand der jungen Herren, die sehr sachverständig taten, in der Küche gebraut. Ika versorgte geschäftig den Braten, der im Küchenofen schmorte, und sagte von Zeit zu Zeit »Er hat's verdient, Fräulein Julia, er war so sehr gut.«

»Er ist es noch«, verbesserte Julia.

Sie ging hinein und prüfte den festlich gedeckten Tisch. Nun konnte Herr Maß mit der Mutter kommen. Lautes Sprechen im Nebenraum verriet ihr, daß sie bereits unten waren und sich mit ihrer Schwester unterhielten. Als Julia die Türe öffnete, eilte Herr Maß auf sie zu, und mit einem aus tiefstem Herzen kommenden: »Ich danke Ihnen, Fräulein Julia, danke Ihnen tausendmal«, schüttelte er ihr so kräftig die Hand, daß sie lächelnd sagte: »Reißen Sie mir doch nicht den Arm aus, mein Freund. Wir freuen uns heute mit Ihnen, und Sie wissen, das Rosenhaus feiert gern Feste. Nun nehmen Sie ihre liebe Mutter und führen Sie sie ins Eßzimmer.«

Herr Maß gab Julius einen Wink, seine Mutter aufzufordern, und bot Julia den Arm: »Heute nehme ich mir die Ehre, meine Wohltäterin zu Tisch zu führen.« Anna winkte lächelnd ihrem Karl, und die jungen Mädchen folgten mit den Kleinen.

Es herrschte eine angeregte Stimmung. Herr Maß und Julius brachten hübsch gefaßte Trinksprüche aus, alle stießen mit Herrn Maß auf eine glückliche Zukunft an. Als wieder einmal Tante Julias Lob ertönte, rief sie:

»Das muß ich entschieden ablehnen. Ich muß gestehen, es hat mich jemand von den Kindern auf den Gedanken gebracht. War es nicht eins von den Mädchen?«

»Ich war's nicht«, sagte Erika.

Hanna aber errötete.

Da sagte Tante Julia: »Du brauchst dich deswegen nicht zu schämen, mein Kind, du hast uns allen damit eine Freude gemacht.«

»Und mir die größte, Fräulein Hanna«, rief Herr Maß, während seine Mutter zum erstenmal ihre Blicke auf Hanna ruhen ließ.

Herr Maß hatte eine Hauslehrerstelle angenommen. Ein Gutsbesitzer hatte ihn für seine beiden Söhne verpflichtet; er lebte nicht weit von Berlin und machte oft mit seiner Familie größere Reisen ins In- und Ausland. Herr Maß, der noch nicht viel in die Welt hinausgekommen war, freute sich und war dankbar, daß die Wahl auf ihn gefallen war.

Er hatte noch viele Abschiedsbesuche zu machen, und es gab manche fröhliche Feiern mit den Kommilitonen, die mit ihm die Prüfung gemacht hatten. Außerdem wollte Herr Maß die kurze Zeit des Beisammenseins mit der Mutter möglichst genießen.

Frau Maß ließ es sich wohl sein im Rosenhaus. Sie ruhte sich aus und wurde von allen Insassen des Hauses mit solcher Liebe und Fürsorge umgeben, daß sie oft meinte: »Ich werde hier derart verwöhnt, daß es mir zu Hause nicht mehr gefallen wird.«

Wenn dann gesagt wurde, sie solle doch ganz herziehen und das Zimmer des Sohnes übernehmen, erwiderte sie wohl, daß sie ihre Verpflichtungen, die sie einmal in Lindenbeck übernommen habe, nicht so schnell aufgeben könne. Sie fühlte sich auch noch zu jung, um ein Leben ohne Arbeit zu führen.

Arbeit würde sich wohl auch hier finden, aber Frau Maß hatte schon entschieden.

 

»Das Zimmer bleibt seines, solang er will. Er soll stets hier wohnen können, wenn er in die Stadt kommt. Dies gilt auch für Sie, Frau Maß«, sagte Julia eines Tages, als sie im Garten auf und ab gingen.

»Sie sind sehr liebenswürdig, Fräulein Golf. Gern möchte ich wohl Ihr Haus sehen, wenn die Rosen in Blüte stehen. Mein Sohn hat mir oft beschrieben, wie schön es dann hier ist.«

»Es ist besonders schön, einen eigenen Besitz zu haben, wenn man auch anderen damit etwas bedeuten kann.«

»In meiner Kindheit habe ich das auch gekannt. Seit meiner Verheiratung aber mußte ich stets mit Not und Armut kämpfen.«

Julia sah die kleine Frau mitleidig an. »Sie scheinen viel durchgemacht zu haben.«

»Das habe ich, wollen Sie meine Geschichte hören?«

»Wir gehen ins Haus, dort sind wir ungestört. Darf ich Anna rufen?«

Doch die Schwester ließ noch etwas auf sich warten. »Ich war oben in meinem Zimmer und sprach mit Julius über ein Aufsatzthema, das etwas schwierig ist.«

»Aber jetzt hast du doch ein wenig Zeit? Frau Maß will uns von ihren Erlebnissen erzählen; ich glaubte, sie würden dich interessieren.«

Da klopfte es. Ika trat ein mit den Worten:

»Wolf ist da mit die Kartoffel.«

»Er soll sie in den Keller schütten, nimm den Schlüssel hier mit.«

Ika blieb stehen.

»Was ist denn noch?«

»Der Schlosser ist da mit die Schlösser.«

»Kind, du weißt ja, welche gemacht werden sollen.«

Anna sagte lachend: »Jedesmal, wenn Julia und ich uns zu einem ruhigen Stündchen hinsetzen, kommt Ika mit irgendeiner Botschaft, die meine Schwester aus der Ruhe bringt.«

»Aber sie scheint ein gutes Mädchen zu sein!«

»Gewiß, und sie gibt sich ganz wie sie ist: ihr naives Wesen belustigt uns oft.«

Julia kam lachend wieder. »Nein, die Ika! Ich stand beim Schlosser, da kam sie an, legte mir vertraulich die Hand auf die Schulter und sagte: ›Gehen Sie nur ruhig, Fräulein, ich werde schon aufpassen. Herr Wehner ist aber auch ein ganz ehrlicher Mann, er nimmt Sie nichts nich.‹ Da mußten wir lachen, Wehner und ich. Wir beide kannten uns schon, ehe Ika lebte. Ich sagte nur: ›Nun Wehner, ich gehe: ich denke, wenn Ika aufpaßt, werden Sie mich nicht um mein Eigentum bringen.‹«

»Nun aber, liebe Frau Maß, entschuldigen Sie die Störung und beginnen Sie bitte.«

Die kleine blasse Frau lehnte sich im Stuhl zurück:

»Meine Kindheit steht wie ein lieber Traum in meinem Gedächtnis. Wir bewohnten in einer mittelgroßen Stadt den ersten Stock eines schönen Hauses. Mein Vater war Offizier und lebte in guten Verhältnissen. Meine Mutter war von zarter Gesundheit. Ich glaube, ich wurde von ihr etwas verzogen, denn ich bekam stets meinen Willen und konnte alles haben, was ich mir wünschte. Ihr früher Tod war mein Unglück. Der Vater, der durch seinen Dienst sehr in Anspruch genommen war, konnte sich nicht viel um uns kümmern. Meine Schwester und ich waren den Erzieherinnen überlassen, die oft wechselten. Meine Schwester war stolz und bildete sich viel auf die Stellung des Vaters ein, während ich nicht viel darüber nachdachte, ob die Menschen, mit denen ich verkehrte, zu uns paßten.

Als wir etwas älter waren, führte er uns in die Gesellschaft ein. Meine Schwester liebte den Tanz über alles, ich machte mir wenig daraus, ging oft nur gezwungen und widerwillig mit und musizierte lieber.

In unserer Stadt hatte sich damals ein junger Musiklehrer niedergelassen. Er hatte eine ausgezeichnete Lehrmethode und spielte selbst vorzüglich. Ich bekam auf meine Bitten bei Herrn Maß Unterricht. Daß seine Persönlichkeit etwas Anziehendes für mich hatte, daß unsere Herzen sich fanden – war es ein so großes Unrecht? Unrecht freilich, daß wir uns ohne das Wissen des Vaters verlobten.

Mein Vater war außer sich, als er davon erfuhr. Er verlangte, ich solle die Verlobung auflösen, und ich, gewohnt meinen Willen durchzusetzen, tat es nicht. Meine Schwester unterstützte mich nicht, sie höhnte über meinen Geschmack, spottete über den einfachen Musiklehrer und sagte, sie würde ihn nie als Schwager anerkennen. Es war eine unglückliche Zeit. Endlich wagte ich, meinen Vater zu bitten, mir eine kleine Aussteuer zu geben und meine Trauung mit dem Verlobten zu gestatten. Da verbot er mir sein Haus, wenn ich es noch einmal wagte, von dieser Heirat zu reden.

Da nahm ich Zuflucht zu einer alten Tante. Sie hatte ein gutes Herz und konnte mir nichts abschlagen. Es wurde ausgemacht, er solle sich zunächst an einem anderen Ort um eine Stelle bemühen, und dann sollte die Hochzeit bei der Tante stattfinden.

Sie versuchte, dann noch einmal bei dem Vater für mich zu bitten. Er ließ mir sagen, ich könne tun was ich wolle, aber sein Haus brauche ich nicht mehr zu betreten. Hätte meine Mutter gelebt, es wäre gewiß vieles anders gekommen. Ich hatte keine Erfahrung und wußte nur, daß ich meinen Verlobten über alles liebte und nie von ihm lassen würde.

Ich bekam meinen Willen. Mein Vater schickte mir sogar Geld für die Aussteuer zu; ich habe ihn und meine Schwester nie wiedergesehen.

Wir richteten uns sehr bescheiden ein, denn weit reichte das vom Vater gegebene Geld nicht. Mein Mann bemühte sich um Stunden. Ich hatte keine Ahnung, was es heißt, Geld zu verdienen. Wir mußten sehr sparsam leben, wenn wir keine Schulden machen wollten. Noch schwerer wurde es, als mein Mann zu kränkeln begann, sich eine schwere Rippenfellentzündung zuzog und schon bald starb. Da stand ich nun allein. Da ich meinte, auf dem Land billiger zu wohnen, entschloß ich mich, mit meinem damals einjährigen Kinde in ein Dorf zu ziehen, das in der Nähe der Stadt lag. Was ich in dieser Zeit durchgemacht habe, können Sie kaum ahnen. In der ersten Not dachte ich daran, dem Vater zu schreiben, aber mein Stolz hielt mich zurück. Jetzt würde ich ihn doch gern noch einmal sehen und mich mit ihm aussöhnen.«

»Ist es nicht noch möglich?« fragte Julia.

»Ich weiß nicht, wo er jetzt ist und ob er überhaupt noch lebt. Leicht war das alles nicht, besonders wenn man bedenkt, daß ich früher alles ohne Mühe mit Geld erreichen konnte und jetzt mit großer Mühe fast ohne Geld durchkommen mußte. Der Pfarrer des Ortes hat sich meiner sehr angenommen; ich verdanke ihm viel. Ich habe in früheren Zeiten oft gegen Gottes Führungen gemurrt; ich hatte bittere Gefühle gegen Vater und Schwester im Herzen. Da hat er mir gezeigt, daß ich nicht Gottes Wege, sondern meine eigenen gegangen bin, daß ich nicht seinen Willen gesucht, sondern den meinen durchgesetzt habe. Nun bin ich bescheiden geworden, Gott hat allen Starrsinn in mir zerbrochen. Dann erst lernt man das Stillesein und auf die Hilfe des Herrn zu hoffen.«

»Ja, den Eigensinn muß Gott zerbrechen, sein Wille muß geschehen, dann gibt's Frieden im Herzen«, sagte Anna leise.

 

Julia konnte an diesem Abend lange nicht einschlafen. Sie dachte an die kleine Frau Maß mit dem Leidenszug im Gesicht, weich und verwöhnt in der Jugend, und nun seit Jahren arm und einsam. Wenn es ihr Vater wüßte, würde er sie nicht voll Mitleid zu sich holen? Und was war wohl aus der Schwester geworden?


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