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Ankunft der Schwester

Ika ließ sich gut an. Sie fühlte sich glücklich, daß sie den Dienst hier bekommen hatte, und pflegte allen Bekannten mit wichtiger Miene zu sagen: »Ich bin in Stellung bei dem Fräulein im Rosenhaus.« Sie ließ sich gern anleiten, denn sie sah ein, daß sie noch lange kein vollkommenes Mädchen sei und daß sie noch viel lernen müsse.

»Ika, morgen kommt meine Schwester, wir müssen fleißig sein, damit Haus und Garten sich im schönsten Licht zeigen«, sagte Julia eines Morgens.

Ika, die mit der Harke neben dem sich auf der Leiter befindenden Gärtner stand, der an den Rosen herumputzte, ging schleunigst an ihre Arbeit und säuberte die Wege mit solchem Eifer, daß ihr bald der Schweiß von der Stirn lief.

»Kennt das Fräulein, das morgen kommt, schon das Rosenhaus?« fragte der Gärtner Wolf von der Leiter herunter Fräulein Julia, die vor dem Haus stand und ihn auf einige dürre Ranken und verblühte Rosen aufmerksam machte. »Nein, sie kennt noch nichts von der Herrlichkeit hier.«

»Na, da wird sie sich aber wundern, besonders über den Park.«

»Den Sie schon seit Jahren so gut instand halten. Nicht wahr, Wolf, Sie werden das auch in Zukunft tun?«

»Das versteht sich doch, Fräulein Julia. Ich hab' ja das schöne Legat bekommen; und dann steht besonders im Testament, daß ich wie bisher für den Garten sorgen soll. Solang ich lebe, soll ihm nichts abgehen. – Seit die gnädige Frau tot ist, ist es recht still geworden«, fügte der Mann hinzu.

»Es war die letzten Jahre schon still, meine ich.«

»Ja, ja freilich«, kam die Antwort, während Julia Ika im Auge hatte und ihr zurief: »Kind, Kind, nur nicht so übereifrig. Jetzt höre auf und warte, bis Wolf fertig ist. Geh jetzt in die Küche; ich komme gleich nach.«

Man hatte viel zu tun, um nicht nur den Garten, sondern auch das Haus in Ordnung zu bringen. Alle Räume wurden durchgelüftet, auch in die oberen, in denen ein dumpfer, moderiger Geruch geherrscht, drang Luft und Sonnenschein.

»Fräulein Julia«, meinte am anderen Tage Ika, »es gibt ein Gewitter.« Sie sah besorgt nach dem Himmel und fügte hinzu:

»Wie wird's da mit dem Fräulein?«

»Sie kommt mit dem Fünfuhrzug«, gab Julia zur Antwort. »Wenn es sehr regnet, nehmen wir eine Droschke.«

»Aber der Garten, Fräulein!«

»Was ist's mit dem Garten?«

»Die Wege, die ich gestern so sauber geharkt habe, werden nicht gerade schön aussehen.«

»Sorge nicht vor der Zeit. Halte nur den Teetisch bis halb sechs bereit.«

Ika hatte recht, es kam ein tüchtiges Gewitter, aber als Julia zur Bahn ging, war es schon fast vorüber. So eilte sie, mit Galoschen und Regenschirm bewaffnet, davon, während Ika im Hause herumlief, hier und da noch etwas ordnete, Teewasser aufsetzte und dann nach oben ging, um sich zum Empfang der anderen Herrin umzuziehen. Denn daß sie nun eine zweite haben würde, hatte schon mehrere Tage ihre Gedanken beschäftigt.

»Zu sehr darf ich mich nicht putzen, das liebt Fräulein Julia nicht und die Schwester vielleicht auch nicht. Aber eine weiße Schürze umbinden und eine hellblaue Schleife anstecken, das wird an einem solchen Tage kein Unrecht sein.« Ziemlich lange währte Ikas Toilette. Wie erschrak sie, als sie von unten Julias Stimme hörte: »Ika, wo steckst du in aller Welt, komm schnell.«

Mit Donnergepolter stürzte das Mädchen die Treppe hinunter. »Ich – ich – hörte keinen Wagen kommen«, entschuldigte sie sich.

»Wir haben auch keine Droschke genommen und sind zu Fuß gegangen. Hilf meiner Schwester aus dem Mantel.«

»Dazu brauche ich keine Hilfe«, rief fröhlich lachend eine helle Stimme. Fräulein Anna hatte sich bereits des Mantels entledigt und hängte ihn an die Garderobe, jetzt beugte sie sich zu der Schwester, umarmte sie immer wieder und rief: »Ach Julia, warst du immer so klein?«

»Immer und immer«, erwiderte Julia, »ich müßte denn in den letzten Jahren etwas zusammengeschrumpft sein. Doch nun willkommen in unserem Heim.« Sie öffnete eine Tür, die in ein großes, zweifenstriges Zimmer führte, während Ika von der Bildfläche verschwand und leise vor sich hin murmelte: »Die ist ja mächtig groß, und so schön noch! Die hatte ich mir ganz, ganz anders vorgestellt.« Die Schwestern durchschritten das erste Zimmer. Anna sah sich interessiert die wertvollen Kupferstiche an den Wänden an. Julia meinte aber: »Wir sehen uns später alles gründlich an, erst wollen wir Tee trinken.« Sie machte eine Handbewegung und ließ Anna in ein kleineres Zimmer treten, wo der Teetisch bereits gedeckt war.

»Oh, hier ist's behaglich«, rief Anna, indem sie sich in dem kleinen, gut ausgestatteten Zimmer umsah. Sie setzte sich neben Julia auf das Sofa und sagte: »Ach Schwesterchen, dies ist ja wie in einem Märchen; wir beide sollen hier immer zusammen leben?«

»Mir ist's auch oft, als müßte ich aus einem Traum erwachen zur nüchternen Wirklichkeit. Es ist fast zu schön.«

Die nüchterne Wirklichkeit kam schon, als Ika anpolterte, die Augen mehr auf die Anna gerichtet als aufs Teebrett, und zwei hübsche Porzellanteller fallen ließ. »Ika, du bist zu schnell und ungestüm, ich habe es dir schon oft gesagt.« Julia nahm ihr das Teebrett ab, während Ika mit schuldbeladenem Gesicht die Scherben zusammenlas und davonschlich. Nach einigen Minuten kam sie ganz leise wieder herein, schob neue Teller auf den Tisch und entfernte sich ebenso leise wieder.

»Wie heißt das Mädchen?« fragte Anna, und auf Julias Antwort ertönte ein so herzliches, fröhliches Lachen, daß die Schwester angeregt sagte: »Wie mir das wohltut, dich lachen zu hören. Ich denke, mit dir wird viel Frohsinn einkehren.«

Die beiden Schwestern sagten es sich immer wieder, wie glücklich und dankbar sie seien, endlich das Ziel ihrer Jugendwünsche erreicht zu haben. Trat mal in der Unterhaltung eine Pause ein, so maß wohl eine die andere verstohlen mit ihren Blicken.

Wie sieht sie noch gut aus, welch einen Wuchs, welche Haltung! Man sieht ihr die Siebenunddreißig noch nicht an, dachte Julia, während Anna ein wenig bedrückt war: Wie ist sie alt geworden, und die Nase hatte ich nicht so groß in Erinnerung.

Anna ließ ihre Gedanken laut werden. »Du hast gewiß schwere Jahre hinter dir, Julia.«

»Ganz leicht war's nicht; aber ich hatte Frau von Hook lieb und sie mich auch. Es war in den letzten Jahren ein sehr freundschaftliches Verhältnis zwischen uns, das – « »Fräulein, es leckt.« Ika stand in der Tür mit dieser Meldung und unterbrach jäh die Unterhaltung.

»Was ist?« fragte Julia.

»Es leckt, Fräulein!«

»Was leckt denn, hast du wieder etwas entzweigemacht?«

»Es hat durchgeregnet, oben in meiner Kammer, es wird wohl ein Loch im Dach sein.«

»Da muß ich gleich mal nachsehen. Einen Augenblick, Anna.«

Die Sonne schien nach dem Gewitter wieder so freundlich, daß Anna die Abwesenheit der Schwester benutzte und vor die Haustür trat. Ganz überrascht und überwältigt blieb sie stehen. Von den vielen Rosen tropfte der Regen; bis hinauf ans Dach blühte und duftete es, und vor ihr lagen die Rasenplätze mit den Blumenbeeten.

»Wie wunderschön«, rief Anna entzückt, nachdem sie sich eine Weile umgesehen hatte. »Dies ist ja ein wahres Paradies.«

»Aber neben der Poesie gibt's auch Prosa«, rief Julia, die eben von oben kam. »Mein Dach ist leider undicht. Ika soll gleich die Handwerker bestellen, die den Schaden ausbessern. Nun will ich dir gleich unser Haus zeigen.«

Sie gingen durch die vorderen beiden Zimmer. Von dem kleinen führte eine Tür nach hinten in ein großes Eßzimmer. »Eigentlich zu groß für uns beide«, meinte Julia. »Nun kommen zwei kleinere Räume, die ich als unsere Schlafzimmer ausgesucht habe, so hat jede von uns ihr Reich für sich.«

Anna fand alles großartig und kam noch mehr ins Staunen, als sie an der anderen Seite des Hauses einen großen Saal entdeckte. »Hier«, erklärte Julia, »sind in früheren Jahren die Feste gefeiert worden. Jetzt ist es eine Rumpelkammer, besonders im Winter, da wird viel aus dem Garten hineingesetzt.«

»War der Saal denn nie möbliert?«

»Doch, aber die Möbel sind längst verkauft.« Julia öffnete eine Tür, die vom Saal nach hinten führte, dort gab es noch einige kleinere Zimmer, dann Speisekammer und Küche.

Schließlich wurden die oberen Räume besichtigt. Zum Schluß meinte Anna: »Welch ein Platz! Du könntest wirklich den oberen Stock vermieten.«

»Darf ich nicht; es ist ausdrücklich im Testament vermerkt, daß ich das Haus weder verkaufen noch vermieten darf.«

»Wunderlicher Einfall! Aber vererben darfst du es doch?«

»Das wird mir wohl freistehen. Auch ist es mir nicht verboten, jemand umsonst ins Haus zu nehmen, doch vorderhand bleibt alles wie es ist.«

Die Schwestern saßen an diesem Abend noch lange beieinander. Anna erzählte von ihrer Schule, von den verschiedenen Familien, auch von der Freundin Margarete, die sie durch den Tod verloren hatte. »Du weißt, Julia, wir stammten aus derselben Heimat, sie war allerdings älter als ich, wir fühlten uns aber sehr zueinander hingezogen, da wir gleiche Interessen hatten.«

Eins nur verschwieg Anna der Schwester, das Erlebnis mit dem Sohn ihrer Margarete, und das, was sie für ihn getan hatte. Sie hatte sich fest vorgenommen, dies gegen niemand zu erwähnen, auch der Schwester gegenüber nicht, eingedenk des Wortes, daß die linke Hand nicht wissen soll, was die rechte tut. Und war sie nicht herrlich belohnt für ihre Freigebigkeit, brauchte sie noch zu sorgen? Lag nicht das Leben sonnenhell vor ihr? Sie fühlte sich frei und glücklich! Was konnte sie alles Schönes von dem Leben in der Großstadt haben, sie, die sich für Kunst und Wissenschaft begeisterte, die am Verkehr mit gebildeten, geistreichen Menschen große Freude hatte! Oh, die Zukunft würde sie für manches entschädigen, was sie entbehrt hatte.

Unter diesen Gedanken legte sie sich schlafen. Liebliche Träume umgaukelten sie in der ersten Nacht, die sie im Rosenhaus verbrachte.

Die ersten Tage glichen Fest- und Feiertagen. Bei dem herrlichen Sommerwetter war man fast nur im Garten. Anna genoß in vollen Zügen die Freiheit. Das Gefühl, eine Heimat zu haben, war köstlich; sie hatte dies seit der Eltern Tod nie wieder so empfunden. Julia war immer darauf bedacht, für die jüngere Schwester zu sorgen, obwohl sie bald merkte, daß Anna eine große Selbständigkeit besaß und in manchen Dingen verschiedener Ansicht war, ja, daß sie auch manch anderem huldigte. So hatte Julia am Tage nach Annas Ankunft, als ihr Gepäck eintraf, wahrgenommen, daß ein Rad mitkam. Sie ging mißtrauisch näher und sagte, nachdem sie es von allen Seiten betrachtet hatte: »Gehört das Rad dir? Radelst du, Anna?«

»Schon lange, Julia, es ist sehr praktisch und bequem.«

»So, so, ich konnte die Dinger nie leiden, jetzt habe ich mich allmählich daran gewöhnt. Ja, die Zeit ist leider vorbei, da die Postillione ihre hübschen Weisen bliesen, die gelben Postwagen herangerasselt kamen, und wir voll hoher Erwartung vor dem Postgebäude standen, um einen lieben Gast zu empfangen. Jetzt rast alles nur so herum, daß einem Hören und Sehen vergeht.«

Anna hatte fröhlich dazu gelacht und gemeint, man müsse mit der Zeit gehen und das Neue nicht einfach verdammen. »Sieh, Julia«, hatte sie gesagt, »ich habe mit meinen älteren Schülerinnen wunderschöne Touren gemacht, die wir zu Fuß nie hätten ausführen können.«

»Ja – aber –«, hatte Julia gemeint, »wenn wir nun gemeinsame Spaziergänge machen wollen, wo bleibe ich denn da?«

»Natürlich bleibt dann das Rad zu Hause«, hatte Anna gerufen. Da sie aber merkte, daß der Anblick des Fahrzeuges der Schwester Unbehagen bereitete, sorgte sie dafür, daß es bald von der Bildfläche verschwand. Sie und Ika hatten es in dem großen Saal untergebracht, wo es bis auf weiteres bleiben sollte.

Es hatte sich bald herumgesprochen, daß Julias Schwester gekommen war, um mit ihr im Rosenhaus zu leben. Da fand sich denn bald dieser, bald jener Grund, bei Julia Golf vorzusprechen. Annas frisches natürliches Wesen und ihre Art, sich zu geben, gefiel allgemein. Man war sich bald darin einig, daß sie ein nettes und liebenswürdiges Menschenkind sei. Es gab einige Familien in der Stadt, die Julia in den langen Jahren ihres Hierseins hatte schätzen gelernt. Mit ihnen machte sie die Schwester bekannt, besonders aber führte sie sie in das nahegelegene Pfarrhaus ein, wo Julia ein gern gesehener Gast war.

So war ein Monat im Nu vergangen. Anna begann, sich nach einer Tätigkeit zu sehnen. Sie half wohl im Haus und vor allem im Garten. Sie spielte auf dem großen Bechsteinflügel und erfreute damit besonders die Schwester, aber das war ihr doch zuwenig. Als nun eines Tages eine Bekannte fragte: »Wollen Sie denn gar nicht mehr unterrichten, es herrscht hier ein Mangel an guten Kräften«, da überkam sie auf einmal ein großer Drang, wieder im Lehrfach tätig zu sein. So glaubte sie auch Gelegenheit zu finden, mehr mit wissenschaftlich interessierten Menschen zu verkehren, denn so schön es hier war, ihr lebhafter Geist bedurfte starker Anregung. Nicht als ob Julia zu hausbacken gewesen wäre, um nicht höhere Interessen zu haben, nein, sie lasen gute Bücher und hatten schon für den Winter ein literarisches Kränzchen im Auge, aber Anna füllte dies alles nicht aus. Dann kam noch eins hinzu: die Schwester, die sie schon in ihr Haus aufgenommen hatte, konnte doch nicht auch noch für ihre Kleidung und ihre sonstigen Bedürfnisse sorgen!

Als Anna eines Abends mit ihrem Vorschlag herausrückte, wollte Julia zunächst nichts davon wissen. »Ich habe für uns beide genug, du brauchst nicht noch zu arbeiten.« Anna aber stellte ihr vor, daß sie zu wenig zu tun habe, daß es ihr Freude mache zu unterrichten, daß ihr etwas fehle, wenn sie es nicht tue, da streckte Julia die Waffen:

»Ich will dir nicht im Weg sein, du sollst tun, was dir gefällt, nur«, fügte sie hinzu und ein leiser Schatten ging über ihre Züge, »nur darfst du nicht zuviel Stunden übernehmen, nicht eingespannt sein von morgens bis abends, damit wir auch etwas voneinander haben.«

»Natürlich, liebste Schwester, werden deine Wünsche berücksichtigt. Ich bin dir ja so viel Dank schuldig.«

»Sage das nicht, Anna. Es ist für mich genauso von Wert, dich bei mir zu haben. Du sprichst vom Verdienen. Sage mal, du schriebst früher einmal, daß du monatlich etwas zurücklegtest, du hast dir doch sicher in den langen Jahren einiges erspart?«

Anna wußte im Augenblick nichts darauf zu antworten.

Julia sah sie fragend an. Hatte die Schwester sie nicht verstanden oder wollte sie nicht verstehen? Noch einmal mochte sie nicht fragen; sie wartete noch eine Weile, dann sagte sie: »Hooks haben mir zwar lange nicht alles vermacht, aber es reicht. Unvernünftig darf ich trotzdem nicht wirtschaften, da die Erhaltung des Hauses ziemlich viel kostet.«

Wenn sie gehofft hatte, durch diese Mitteilung Annas Vertrauen zu gewinnen, so irrte sie. Die Schwester rief nur erstaunt aus: »Nun, da stehst du allerdings glänzend, das dachte ich nicht.«

»Nicht wahr? Es ist fast des Guten zuviel. Doch ist es etwas anderes, wenn man für sich selbst zu sorgen hat, als wenn man Eigentümerin eines größeren Besitzes ist, der in Ordnung gehalten werden muß. Doch nun genug.«

»Ja, du hast recht, wir wollen das Thema lassen; ich spiele dir lieber etwas vor.«

Anna öffnete den Flügel und spielte einige Sonaten. Sie hatte einen weichen Anschlag und trug mit viel Verständnis vor. Dann sang sie noch und erntete von der Schwester viel Lob.

In Julias Herz aber setzte sich an diesem Abend ein ganz leises Mißtrauen fest. Warum hatte Anna ihr nicht geantwortet, als sie nach ihren Ersparnissen gefragt hatte? Sie, als ältere Schwester, konnte doch volles Vertrauen beanspruchen. Es war unmöglich, daß Anna in achtzehn Jahren – so lange unterrichtete sie schon – sich nichts sollte erspart haben. Nun, dachte sie, einer gibt das Geld leichter aus als der andere, vielleicht hat ihre Garderobe viel gekostet, sie hat sich das teure Rad angeschafft und andere größere Ausgaben gehabt. Ganz gleich, in ihr Vertrauen hineindrängen mag ich mich nicht.

Anna aber dachte, als sie später allein war: Wie gern hätte ich Julia alles gesagt, aber mein dem jungen Mann gegebenes Versprechen bindet mich.

Sie wunderte sich im übrigen, daß sie von Wolfgang Müller – außer dem einen Brief, den sie bald nach dem ereignisvollen Tag bekommen – nichts wieder gehört hatte.

 

Bald segelte Anna wieder im alten Fahrwasser. Sie fand unter den Lehrerinnen gleichgesinnte Altersgenossinnen, die sich für Kunst und Musik interessierten, aber auch dem Sport huldigten. Ehe sie sich's versah, wurde Anna gebeten, in diese und jene Gesellschaft einzutreten, ein Musikabend wurde eingerichtet, der abwechselnd in den verschiedenen Häusern stattfinden sollte. Als Anna der Schwester davon Mitteilung machte, war sie sofort bereit, ihre Räume dazu herzugeben, sie liebte Musik und freute sich auf diese Abende. Die Damen fanden es reizend im Rosenhaus bei dem liebenswürdigen Fräulein Julia, die ganz in ihrem Element war, wenn sie bewirten oder es den Gästen angenehm machen konnte.

Wenn dann solche Abende bei den andern stattfanden und Julia einsam daheimblieb, da machte sie wohl ein etwas trübseliges Gesicht.

Da schlug Anna vor, sie doch zu begleiten, man würde sich sehr freuen, in ihr ein neues Mitglied zu bekommen; doch Julia wehrte ab. Sie meinte, sie würde ein sehr unwillkommenes Mitglied sein, da sie sich nicht betätigen könne. Sie machte sich später Vorwürfe, daß sie Anna ein verstimmtes Gesicht gezeigt hatte und nahm sich vor, diese Abende zu Besuchen bei guten Bekannten zu benutzen oder die Freundin Charlotte aufzufordern, ihr an den einsamen Abenden Gesellschaft zu leisten.

»Siehst du, Julia«, sagte die immer sehr weise und vernünftige Charlotte, »Anna ist zwölf Jahre jünger als du. Sie erwartet vom Leben noch mehr. Du kannst nicht verlangen, daß sie sich hier, es mag noch so schön im Rosenhaus sein, einspinnt. Du bist nun schon jahrelang an ein ruhiges Leben gewöhnt, kannst das gleiche aber nicht von ihr verlangen.«

»Du hast recht, wie immer«, sagte Julia überzeugt.

 

Eines Tages, es war ein schöner Septembertag, kam Anna froh nach Hause und verkündete, daß am Nachmittag ein Radausflug geplant sei. Es würden viele Damen, auch einige Herren, teilnehmen, auch sie sei aufgefordert.

»Ja – aber –« meinte Julia, »die Tage sind kurz; wann wollt ihr denn zurückkommen?«

»Das kann ich nicht sagen. Doch sorge dich nicht, Julia. Wenn ich dich nur mitnehmen könnte!«

»Auf dem Rad?« Julia warf ihr einen entsetzten Blick zu, der Anna verstummen ließ. Aber dann, als sie sich Julia auf dem Rad vorstellte, ertönte ihr helles Lachen, dem die Schwester nicht widerstehen konnte. Sie mußte mitlachen und rief aus: »Hole nur das Ungetüm endlich einmal hinter dem Bettschirm hervor, die beiden passen ja doch nicht zusammen.«

Ika mußte helfen, und sie kam nur zu gern. Mit Fräulein Anna gab es ja auch immer Spaß. Unter vielem Lachen und Vergnügen wurde das Rad ans Tageslicht gefördert, endlich, nach langem Warten. Anna hatte den Zeitpunkt schon längst herbeigesehnt. Es wurde blank geputzt, und dann schwang sie sich gewandt hinauf und radelte mit solcher Anmut zum Tor hinaus, daß Julia kopfschüttelnd sagte: »Hätte nie geglaubt, daß Anna so etwas fertigbrächte.«

Ika aber, die das Tor geöffnet hatte und ihr mit Verwunderung nachsah, rief: »Fräulein Anna sieht aber mal gut aus.«

Julia machte sich in Haus und Garten zu schaffen, so daß ihr die Zeit schnell verging. Als sie am Spätnachmittag ihren Tee getrunken hatte, wartete sie vergeblich, daß Ika kommen sollte, um abzuräumen. Sie klingelte, nichts regte sich in dem großen Haus. Endlich ging sie, das Mädchen zu suchen. In der Küche brannte die Lampe, von Ika war nichts zu sehen. Julia ging aus der Hintertür um das Haus herum. Am Tor stand Ika, ein männliches Wesen neben ihr.

»Dies ist eine hübsche Entdeckung! Ika! Ludovika!« Zum erstenmal entfuhr der ganze Name dem kleinen Fräulein mit einer Kraft und Donnergewalt, daß der Mann sich umdrehte und verschwand, als habe die Erde ihn verschluckt.

Julia ging ohne weiteren Kommentar ins Haus zurück. Später, als das Mädchen bis über die Ohren rot ins Zimmer kam, sagte sie nur: »Wegräumen«.

Sanft und leise, wie das Fräulein es gern hatte, machte sich Ika an die Arbeit, von Zeit zu Zeit nach dem Gesicht Julias blickend.

»Sie sieht an der Nase herunter«, sagte sie halblaut zu sich selber, als sie das Geschirr nach draußen trug. »Das gibt heute noch etwas.«

Und richtig, nach dem Abendessen fragte Julia: »Welche Bitte kommt heute dran?«

Ika dachte ein Weilchen nach; sie stotterte und wurde wieder rot: »Die sechste«.

Sie haspelte sie herunter und wollte schnell zur Tür hinaus.

»Bleibe noch ein wenig, mein Kind. Mit wem standest du am Gartentor?«

»Och, das war der Gärtner aus der Villa drüben, wir erzählten uns nur ein bißchen.«

»Das Erzählen ist an und für sich kein Unrecht, aber ich wünsche, daß das nicht wieder vorkommt. Ein ordentliches Mädchen gibt abends jungen Männern kein Stelldichein. Es ist auch nicht beim Erzählen geblieben, Ika.«

Ika senkte den Kopf. »Denke an die Bitte, die du mir eben aufgesagt hast, und an deine Großmutter. Laß dir nichts zuschulden kommen, worüber Großmutter und Mutter sich betrüben würden. Nun hole deine Arbeit, wir wollen zusammenbleiben, bis Fräulein Anna kommt.«

Ika holte ihre Handarbeit und setzte sich mit an den Tisch. Julia war wieder freundlich, erkundigte sich nach den Ihrigen und holte dann ein Buch hervor, aus dem sie vorlas. Von Zeit zu Zeit horchte sie, ob wohl Anna kommen würde.

Es war zehn Uhr geworden, kein Ton ließ sich hören. Julia wurde ängstlich. »Es wird doch nichts passiert sein?« Ika, die die Szene von vorhin schon vergessen hatte, meinte vertraulich: »Ja, Fräulein, das Rad wird wohl hin sein. Mit die Räder passiert immer was. Vorige Woche ist ein Mann mit sein Rad gegen einen Baum gerast, da hat er sich den Kopf eingeschlagen.« Diesem Bericht folgten weitere, die Ika in den stärksten Farben vorzutragen verstand, bis Julia aufgeregt rief:

»Höre auf mit deinen Geschichten!«

Sie warteten noch eine Stunde, endlich um elf Uhr meinte Julia, sie wollten miteinander an das Gartentor gehen. Sie traten in den vom Mondschein beleuchteten Garten. Das Haus lag in tiefem Frieden; die Rosen waren längst verblüht, es war Julia, als sei mit ihrem Duft und ihrer Schönheit, die sie dem ganzen Haus verliehen hatten, auch in ihr etwas verlorengegangen; sie hätte weinen können. Doch in diese trübe Stimmung rief Ika: »Jetzt kommt sie!« Bevor Anna sich vom Rad geschwungen, hatte Ika schon das Tor geöffnet, und mit einem fröhlichen »Guten Abend, guten Abend« begrüßte Anna die Schwester.

»Gott sei Dank, daß du da bist«, rief Julia erleichtert, »ich habe mich so um dich gesorgt.«

»Es ist später geworden als wir dachten. Jemand hatte mit dem Rad Pech –«

»Sehen Sie, Fräulein Julia«, unterbrach Ika die Rede. »Ist er tot, Fräulein Anna?«

»Dummes Zeug. Es war eine Kleinigkeit zerbrochen, was im Dorf gemacht werden mußte. Aber wir konnten die Betroffene nicht allein zurücklassen und haben uns unterdes im Gasthof nett unterhalten.«

»Und ich habe mich geängstigt.«

»Arme, liebe Schwester, um mich brauchst du dich nicht zu sorgen. Ich habe ja so viele Jahre selbständig gelebt und mich überall durchgeschlagen, das bedenke nur.« Sie erzählte beim Zubettgehen noch von dem wunderschönen Ausflug, und bedauerte immer wieder, daß Julia nicht dabeigewesen war.

Bald aber hörte Julia das regelmäßige Atmen der Schwester. Sie war durch das lange Fahren im Freien ermüdet, kein Wunder. Doch Julia konnte nicht so schnell einschlafen. Sie hatte allerlei erlebt, was ihr zu denken gab. Ika stand in Gefahr, leichtsinnig zu werden. Befaßte sie sich nicht genügend mit ihr? Da saß das Mädchen nun Abend für Abend allein, sie war jung, man konnte nicht verlangen, daß sie das auf die Dauer aushielt, und sie würde, das hatte Julia heute gemerkt, sich selbst einen Ausweg suchen. Nein, Ika sollte gute Bücher zum Lesen bekommen, öfters mal bei ihr bleiben oder ihre Mutter besuchen. Und sie wollte es sich zur besonderen Aufgabe machen, wenn Anna nicht da war, sich Ikas anzunehmen; sie war doch verantwortlich für das Mädchen.

Dann dachte sie viel an die Schwester und wie sie sich das Leben mit ihr doch ein klein wenig anders gedacht habe. Aber in ihrer Freiheit beschränken wollte sie die Schwester nicht, das nahm sie sich aufs neue vor. »Du, lieber Gott, mußt mir in allem raten«, betete sie.


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