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Der Schwager

Auf Julia hatten Charlottes Worte großen Eindruck gemacht. Ja, sie hatte recht, die Selbstsucht hatte sie in der letzten Zeit beherrscht. Wie schwer hatte sie es der lieben Schwester gemacht! Nun, da sie getrennt waren, erwachte die Liebe in doppeltem Maß; sie hätte hineilen mögen und ihre Anna um Verzeihung bitten wegen vieler kränkender Worte und mancher Sticheleien. Oh, sie hatte sich selbst nicht mehr gekannt!

Sie suchte in der Arbeit Ablenkung, sie besuchte all ihre Bekannten. Wenn sie sie dann bemitleideten, daß sie wieder so allein sei, glaubte sie wieder, sie sei im Recht gewesen. Kam sie aber nach Hause, wo sie alles an die Schwester erinnerte, so war es zugleich eine Erinnerung an alles, was sie getan und gesprochen hatte, und die quälenden Gedanken kamen wieder.

Und auch der nun folgende Briefwechsel brachte nicht das, was die Herzen wieder ganz hätte zusammenschließen können. Anna hatte zu deutlich gemerkt, daß Julia sich weder für ihren Mann noch für seine und jetzt auch ihre Kinder interessierte. So wagte sie nicht, viel von diesen Menschen, die nun ihr ganzes Leben in Anspruch nahmen und ihr Glück ausmachten, zu erzählen. Doch waren die Briefe voll Dankbarkeit für alles, was die Schwester für sie getan und geleistet hatte. Julia empfand den Mangel an persönlichen Mitteilungen und war traurig darüber, doch konnte sie sich noch immer nicht entschließen, darum zu bitten. So war das Miteinanderfortleben abgerissen; es lag ein gewisses Etwas dazwischen, was das alte, unbefangene und rückhaltlose Vertrauen nicht aufkommen ließ.

Der Herbst kam mit seinem reichen Segen. Die Obsternte brachte viel Arbeit mit sich und der Student half, wenn es seine Zeit erlaubte. Ja, er brachte sogar einmal einige Freunde mit, da schlechtes Wetter im Anzug war und der alte Gärtner jammerte, daß noch so viel Obst auf den Bäumen sei. Das war ein fröhlicher Nachmittag gewesen, und als Julia dann die ganze Schar zum Abendbrot einlud und Ika bei lustig prasselndem Feuer Eierkuchen buk und Julia einmal wieder in mütterlicher Fürsorge wirken konnte, da tauchte ein Gedanke in ihr auf, den sie den jungen Herren beim Abendessen auch gleich mitteilte. Sie schlug ihnen vor, einen Tag in der Woche zu Mittag bei ihr zu essen, was mit großem Jubel aufgenommen wurde.

Nach diesem Abend trug Julia sich einige Tage mit dem Gedanken, das ganze obere Stockwerk für unbemittelte Studenten einzurichten, doch bei näherer Überlegung wurde dieser Plan verworfen. Sie empfand jetzt mitunter, daß die Erbschaft eines Hauses mit dem großen Garten und unter Bedingungen, wie es hier der Fall war, oft mehr Last als Freude sein konnte. Da beschloß sie, sich einmal im Pfarrhaus Rat zu holen.

Eines Tages, sie kam gerade von Ikas Großmutter, lenkte sie ihre Schritte nach dem Pfarrhaus. Sie dachte an die Kranke, die in inniger Gemeinschaft mit dem Herrn lebte. Es war eine herzerhebende Stunde gewesen. Wie gering dünkte Julia jetzt alles Irdische, doppelt schmerzlich empfand sie, daß leider nicht alles so war, wie es sein sollte.

In dieser Stimmung betrat sie das Pfarrhaus, aber sie traf nur den Hausherrn an, der sich schon bald nach der verheirateten Schwester erkundigte. Da lief Julia das Herz über. Sie sprach sich endlich einmal über alles aus, was sie so lange bedrückt und gequält hatte, beschönigte in keiner Weise ihr Tun, sondern gab zu, daß sie in selbstsüchtiger Weise beinahe das Glück der Schwester zerstört habe.

»Als Anna zu mir ins Haus kam«, sagte sie, »kannten wir uns zu wenig. Wir hatten uns aber lieb, obwohl wir sehr verschiedene Naturen sind. Bald sorgte ich, daß sie mehr der Welt angehörte, wie –«

»Ihre Anna?« unterbrach der Pfarrer sie. »Hielten Sie das für möglich?«

»Eine Zeitlang fürchtete ich es. Sie ging viel aus, liebte die Geselligkeit, kurz, ich meinte – ich dachte –«

»Ihre Schwester ist alles andere, mein liebes Fräulein. Sie ist ein Charakter, ein geistig bedeutendes Mädchen. Sie meinen, weil sie Geselligkeit liebte, weil sie für alles Edle und Gute begeistert war! Das, Fräulein Julia, soll ein Christ getrost tun! Sie war auch in Vereinen tätig. Wo etwas Großes geschaffen werden soll, muß man sich zusammenschließen, da ist eine Kraft wie Ihre liebe Schwester viel wert. Die Menschen sind eben verschieden veranlagt. Einem ist es mehr gegeben, in der Stille zu wirken, wie Ihnen.« Hier machte Julia, die gespannt zuhörte, eine abwehrende Bewegung. »Einem andern ist es Bedürfnis, sich mehr am öffentlichen Leben zu beteiligen. Welche Kraft ist der Vorsteherin der Schule an ihrer Schwester verlorengegangen! Mit welchem Eifer hat sich Ihre liebe Schwester an dem jetzt bestehenden Kampf um den Religionsunterricht in den Schulen beteiligt! Gott gebe uns viele solche Lehrer und Lehrerinnen!«

Julia war ganz ergriffen von der Rede des Pfarrers. »Ich ahnte ja gar nicht, daß Sie meine Schwester so genau gekannt haben.«

»Ich habe stets geglaubt, daß Sie sie ebenso gekannt und geschätzt haben. Erst in der letzten Zeit munkelte man allerlei von Mißstimmungen, die zwischen Ihnen vorgekommen sein sollen. Ich gebe nichts auf das Gerede der Leute, nun aber, da Sie es mir selbst geklagt haben, muß ich meine Freundin verteidigen. Aber Sie, mein liebes Fräulein Julia, bleiben deshalb für mich doch, was Sie sind. Wie ich schon sagte, wir Menschen sind verschieden, auch der Beruf, den der Herr den Menschen zuteilt, ist gar verschiedener Art. Es kommt bei allem auf die Treue an. Einer wirkt im Großen, der andere im Kleinen. Gott aber sieht nach dem Glauben, nicht nach den Werken. Wer nimmt sich meiner Armen an, wer sorgt für meine Kranken, die nicht in Heimen untergebracht werden können, wer geht zu den Traurigen und Bekümmerten und tröstet sie? Das sind Sie! Wer endlich sorgt für meinen armen Studenten, der immer des Lobes voll ist für seine Wohltäterin?«

Julia wehrte energisch ab. Sie habe sich nie so arm und leer wie gerade jetzt gefühlt; sie wolle kein Lob hören, sondern habe sich auf Schelte gefaßt gemacht.

Der Pfarrer lächelte. »Nun, wenn es so ist, gehen Sie und schreiben Sie Ihrer lieben Schwester einen herzlichen Brief und lassen Sie sich von Mann und Kindern erzählen, es fällt gewiß auf guten Boden.«

Sie redeten noch lange zusammen. Es gab so vieles, in das Julia sich schwer hineinfinden konnte. Der Pfarrer suchte Altes und Neues zu vergleichen, er zeigte, wie beides seine Licht- und Schattenseiten habe, und daß man aus beidem das Gute herausfinden müsse. »Allein«, fuhr er fort, »wo es sich um unser Evangelium, um Gottes Wort oder die Bibel handelt, da halten wir am Alten fest und lassen es uns nicht nehmen.«

Julia eilte herzlich getröstet heim und mit dem festen Entschluß, in diesen Tagen einen ausführlichen Brief an Anna zu schreiben. Sie wollte darin ihr Herz befreien von allem, was sie bedrückte und quälte; sie wollte der jüngeren Schwester gegenüber ihr Unrecht eingestehen, mit Interesse nach Mann und Kindern fragen und die herzliche Bitte aussprechen, ihr künftig in gleicher Weise zu antworten.

Der Brief wurde sofort noch geschrieben. »Ich denke, sie wird sich freuen«, sagte Julia, als sie ihn beendet hatte. Ika mußte ihn noch am späten Abend in den Briefkasten werfen, und Julia legte sich mit dem befriedigenden Gefühl zur Ruhe, endlich wieder einmal richtig gehandelt zu haben.

Ehe sie aber die Antwort der Schwester in Händen hatte, ereignete sich etwas Unerwartetes.

Der nächste Tag war ein rauher, kalter Herbsttag. Ika hatte schon heizen müssen. Julia aber stand hinten im Garten und sprach mit Wolf über das Fällen einiger alter Bäume. Da erschien Ika auf der Bildfläche und winkte mit beiden Händen.

Julia rief, sie komme gleich. Ihre Stimme verhallte im Wind, und Ika, die nichts gehört hatte, zog ihr buntes Taschentuch heraus und schwenkte damit unaufhörlich.

»Das dumme Mädchen, was hat es nun wieder«, sagte Julia ärgerlich und ging nun eilig dem Haus zu.

»Was hast du nur, Ika, warum kommst du nicht, wie sich's gehört, zu deiner Herrin und sagst, um was es sich handelt.«

»O Fräulein Julia, da drinne ist Besuch.«

Julia zog ihr Taschenkämmchen und glättete die vom Wind zerzausten Haare.

»Wer ist es denn?«

»Ganz feiner Besuch. Gehen Sie nur hinein.«

Dabei machte sie ein so pfiffiges Gesicht, daß Julia ungeduldig fragte: »Kennst du den Besuch?«

Ika nickte und verschwand durch die Küchentür.

Julia war wirklich böse auf das Mädchen. Sie hatte schon alles versucht, ihr Manieren beizubringen, und immer wieder fiel sie in die alten Fehler. Diesmal sollte sie tüchtige Schelte bekommen. Doch zum Nachdenken war nicht Zeit, der Besuch hatte schon zu lange warten müssen.

Julia öffnete die Tür. Da wandte sich ein großer, schlanker Herr um, und Julia erblickte – Annas Mann, Amtsrichter Böckel!

Ein Ausruf des Erstaunens kam von ihren Lippen. Herr Böckel aber eilte herzlich auf sie zu, streckte ihr beide Hände entgegen und sagte: »Ich bin ein sehr unwillkommener Gast, liebe Schwägerin.«

»Aber nein, Herr Böckel, durchaus nicht. Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Julia in großer Verlegenheit.

»Da ich eine Dienstreise zu machen hatte, die mich ganz in die Nähe dieser Stadt brachte, konnte ich es mir nicht versagen, bei Ihnen vorzusprechen, um Ihnen persönliche Grüße von meiner Frau zu bringen.«

»Es freut mich – es freut mich gar sehr, daß Sie kommen, lieber – Schwager.«

»Nun, ich wußte es ja gleich«, sagte er mit schelmischem Lachen, »daß Sie nicht böse sind.«

»Wie ich mitunter aussehe.«

»Allerdings, ich habe oft bitterböse Gesichter bekommen. Aber darum keine Feindschaft, liebe Schwägerin. Ich wollte nur herzlich bitten, mir und meinen Kindern ein Plätzchen in Ihrem Herzen einzuräumen und nicht länger zu zürnen, daß wir Ihnen die Schwester geraubt haben. Nicht wahr? Sie zürnen nicht mehr?«

»Nein und nein. Ein langer Brief von mir ist unterwegs. Er sagt Anna alles. Jetzt wird sie ihn haben. Welch ein Zusammentreffen!«

Der Schwager erzählte nun, wie es seine Anna immer bedrückt habe, daß der Friede zwischen ihnen noch nicht völlig hergestellt sei. Da habe er gedacht, er wolle der Sache ein Ende machen und sich selbst mit der Schwester verständigen.

»So leicht habe ich mir die Geschichte nicht vorgestellt«, meinte er lächelnd, »denn ein bißchen habe ich mich doch vor Ihnen gefürchtet.«

»Vor mir?« rief Julia erschrocken. »Vielleicht nur vor meiner großen Nase.«

Der Amtsrichter schwieg. Er dachte aber, wenn die Schwägerin freundlich aussehe, daß dann die Nase gar nicht so groß sei, wie sie ihm anfangs erschienen war.

»Nun, liebes Fräulein Julia.«

»Bitte, nicht mehr Fräulein, wir sind ja Verwandte.«

»Also noch eine Bitte, liebe – Julia. Sie müssen –«

»Auch nicht mehr Sie. Wir wollen nun heute ganze Freundschaft schließen.«

»Gut, also noch eine Bitte, liebe Julia. Sie, oder vielmehr du mußt endlich unsere Häuslichkeit und unsere Kinder kennenlernen. Willst du nicht das Weihnachtsfest in unserer Familie verleben?«

»Ich kann aber mein Haus nicht verlassen.«

»Doch, es wird zugeschlossen. Oder gibt es nicht da ein altes Faktotum, das hier schlafen könnte?«

»Wolf, der Gärtner, das ginge schon«, meinte Julia, in der plötzlich eine große Reiselust erwachte. »Wenn ihr mich alte Person haben mögt, so komme ich gern.«

»Abgemacht«, rief der Amtsrichter. »Das wird das schönste Geschenk sein, das ich meiner Frau von der Reise mitbringe. Also Tante Julia ist zu Weihnachten unser Gast.«

Damit erhob er sich, aber Julia wehrte mit den Worten: »Noch nicht gehen. Ohne Essen lasse ich dich nicht fort.«

»Es tut mir herzlich leid, ablehnen zu müssen, aber ich habe nur kurzen Aufenthalt. In den Weihnachtsferien wollen wir uns gründlich kennenlernen, und alle, will's Gott, recht vergnügt miteinander sein.«

»Ja, das gebe Gott«, fügte Julia herzlich hinzu.

»Und nun, liebe Schwägerin, ewige Freundschaft für mich und meine Kinder.«

Julia schlug in die dargebotene Rechte und sagte: »Ich will euch alle von nun an herzlich liebhaben.«

Es war Julia, als möchte sie alle Welt umarmen, so glücklich, so frei fühlte sie sich. Sie vergaß die Schelte, die sie Ika zugedacht hatte, und als diese am Abend die fünfte Bitte aufsagte, da traten unwillkürlich Tränen in Julias Augen.

Herrn Maß bat sie, ihr doch das Lied: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren«, zu spielen. Ihr Herz war voll Lob, Dank und Preis zu Gott, der ihr den Sieg über ihr törichtes Herz geschenkt hatte.


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