Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Notizen über die Literatur, die Zeitung, das Theater

Der Literatur und dem Theater bin ich in Amerika auf Pfaden des öffentlichen Lebens nachgegangen. Da habe ich gesehen, daß in diesem intensiv und bewußt lebenden Lande eine ungleich stärkere Wechselwirkung zwischen den Problemen der Umwelt und dem Schaffen und Trachten des Schriftstellers existiert als wo anders immer in kultivierten Ländern.

Der amerikanische Romantiker, der dem Alltag entfliehen möchte, zieht sich lieber in die unerforschten Gebiete seines ungeheuren Kontinents zurück als in die unerforschten Gebiete seiner Seele. Bei den harten Knaben in Alaska, in den Wäldern um die nördlichen kanadischen Seen, bei den Indianern auf den Prärien, bei den zügellosen Gebirgsbewohnern in den südlichen Zentralstaaten findet er ursprüngliche Instinkte, unbiegsame Naturen, bei denen er sich wohler fühlt als bei den vom Erwerbskampf und Zukunftsdrang verbogenen Städtern.

Der Zusammenhang mit jenen Primitiven erklärt ihm sein Verhältnis zur Weltseele deutlicher, als es das Los des europäischen Schmerzensmannes ist, den ein gleicher Hang durch alle Epochen der Weltgeschichte, Kulturen und Stile jagt.

Daß dieser Zug, diese leicht zu befriedigende Sehnsucht nach Romantik ihre Gefahren birgt, ist evident, und man kann dies in jedem Eisenbahnwaggon bestätigt finden, wenn der Zeitungsjunge mit seinem Armvoll best-sellers, d. h. gangbaren Büchern daherkommt. Da tummeln sich edle cowgirls, papieren redende Goldgräber, Indianerhäuptlinge aus Karton auf Kitschprärien, zumeist von Frauen zusammengeschustert – wie es ja drüben auch die Frauen oder weibischen Autoren sind, die die mehr europäischen Ansprüchen genügenden Hofkreise und Adelsmilieus verarbeiten. Die Lebensdauer dieser best sellers ist eine Station, ihr Grab das offene Kupeefenster.

403 Der Leser darf nicht erstaunt sein, wenn ich in diesem Aufsatz nur sehr wenige Namen nenne, außer den schon früher betonten Frank Norris, Jack London und Upton Sinclair. Ich habe mich in Amerika meist mit Zeitunglesen begnügt und habe aus dem großen offenen Buch des Volkes in freier Luft mehr über den Geist der Neuen Welt erfahren als aus den kleinen gedruckten Büchern hinter Ziegelmauern.

Als ein außerordentlicher Sittenschilderer ist mir Robert Herrick aufgefallen, allerdings fehlt ihm das typisch Amerikanische. Ein kultivierter Brite könnte die Charaktere des Americanos betrachten, wie er es tut, und zwar kritisch; doch stellt ihn ein starkes Können gewiß in die Reihe der Meister des heutigen Romans aller Länder. Man hat mir Edith Wharton und David Graham Phillips als die besten Vertreter der jungen amerikanischen Belletristik neben Herrick genannt, zu meiner Schande muß ich gestehen, ich habe nichts von ihnen gelesen. Starken Eindruck machten mir einige Bücher von Hutchins Hapgood, die auf der Grenzscheide von Erlebnis und Fiktion stehen und in ihrer brüsken Stellungnahme zu radikalen Problemen diese Legierung von Tendenz und Kunstwerk zeigen, wie sie am vollendetsten in Sinclairs »The Jungle« zum Ausdruck gekommen ist.

Neben dem Pragmatiker James hat Henry Bergson gegenwärtig wohl den stärksten Einfluß auf die Geistesströmungen des modernen Amerikas. Es scheint, als dienten Bergsons Evolutionsphilosophie, seine Anatomie des Lebenstriebes und die Jamesschen Experimente zur Erforschung der Instinkte auf physiologischer Grundlage dem modernen Amerikaner irgendwie zur Bestätigung seiner Mission im Vorwärtsbringen der Absichten der heutigen Menschheit. Es ist mir ein Buch untergekommen, eine Essaysammlung des scharfsichtigen jungen schwedisch-amerikanischen Kritikers Björckmann, in der aus jenen Elementen so etwas wie ein neues amerikanisches Glaubensbekenntnis destilliert wurde. In 404 zahlreichen wertvollen Aufsätzen, die ich in fortschrittlichen Zeitschriften las, ließen sich die Einflüsse Bergsons verfolgen, deckte sich der Verfasser mit Bergsons Autorität. Eugeniker, Utopisten, Reformatoren der Nahrungsweise, Back-to-nature-Schwärmer, Zivilisationszerstörer, Atmungsfanatiker tummeln sich auf dem weiten Feld der zeitgenössischen Literatur Amerikas – und dann die Legion, die unübersehbare Zahl der Nachfolger und Verpopularisierer von Emerson und Thoreau, um nur die in Europa bekannten zu nennen: Trine, O. S. Marden, Prentice Mulford. Immerhin muß ich bemerken, daß diese letzteren, wie mir's schien, in Europa viel mehr als Repräsentanten des Amerikanismus angesehen und überschätzt sind wie hier herüben.

 

Daß dem abseitigen, keinem Volke angehörenden, sublimen Phänomen Edgar Allan Poe kein Nachfolger, in Amerika so wenig wie anderswo, herangewachsen ist, erklärt sich von selber. (Wenn ich auch gestehe, daß mir dabei der außerordentliche Schilderer von Kriegsszenen Ambrose Bierce einfällt; sein Buch: »In the midst of life« ist in der Tauchnitz-Collection zu haben.) Die Spekulanten, die seine esoterische Kunst aus Mathematik und Seelenkunde brutalisiert haben, Conan Doyle an ihrer Spitze, sind in Europa zu Hause, das legt ja ein gutes Zeugnis für das amerikanische Schrifttum ab.

Wie steht es aber um die Nachfolge Walt Whitmans?

Walt Whitman

Walt, das chaotische Sinnbild seines ungeheuren, unerforschten Kontinents, die Feuersäule am Eingang eines rätselhaften neuen Zeitalters des Menschengeschlechts, der wilde Seher und besessene Johannes, diese aus der Natur über alle Zivilisation hinweg schlagende Flut, dieser wahrhaftige Tornado von einem Menschen, um sich blickendes Auge weit und sicher wie das Auge des Leuchtturms, offene Hand, in deren Höhlung die Elemente sich begatten, aufwärtshörendes Ohr, schlagendes 405 Herz, darin das Weltgeschehn pulst, warme Riesenstirne milde niedergeneigt zur letzten Kreatur, Walt, der nie Geborene, der Unvergängliche, Anfang und Ausgang, erschütternder Ausblick in Zeiten, die kommen werden, hinaus und hinauf!

Einen wahrhaften und echten Sohn hat er, der sein Erbe nicht nur getreulich verwaltet, sondern in dem der Geist des Ahnen das Leben unsres heutigen Tages treibt, die Sprache des Sehers auf der Prärie zur Sprache des Streiters an der Straßenkreuzung sich gewandelt hat. Walts Gott glich dem Großen Häuptling und seine Geburtsinsel nannte er mit dem Indianernamen Paumanok. Horace Traubel aber bekennt sich zum Christus des Zöllners, der Hure, zum Gott der Vergeltung, der den niedergeschmetterten Proletarier aufrichtet, und er scheut sich nicht, ihn in der downtown, inmitten des Zügegerassels über der Hölle Allenstreets, inmitten der Kehrichthaufen aus verfaultem Zeitungspapier, Bananenschalen und Abfällen alles Elends anzurufen.

Traubel hat nicht die übermenschliche Phantasie Whitmans geerbt, der aus seinen Trieben Götter geformt hat, wie die Indianer. Hätte er sie, er wäre Der, auf den der Finger Whitmans zeigte, wie auf Grünewalds 406 Isenheimer Altarbild der Finger des Täufers auf den Gekreuzigten zeigt. So klammert er sich mit aller Glut eines Menschengewissens an das Heutige, an den großen Vorgang, dem wir gequälte Glückliche zuschauen dürfen.

Whitman, der die Kriege um 1860 durchgemacht hat, stand in Ehrfurcht und Schauern vor dem Wunder des sich einenden Staatenverbandes, dieser Junge aber sieht die ganze Menschheit in einer ähnlichen Zersplitterung, der ein ähnliches Zusammenschmelzen folgen wird. Sein Camerado heißt Genosse, und im Sezessionskrieg seiner eigenen Zeit sieht er sich, als Heerrufer bei einer größeren Armee stehen als der legendäre Krankenpfleger von Gettysburgh.

Ihm bleibt der Vorwurf nicht erspart, daß sein innerer Rhythmus vom Metronom Walts bestimmt worden ist, daß etwas Sonntagspredigerhaftes hervorschlägt, zumal in den Prosaschriften, den Collects, sobald die Begeisterung nachgelassen hat in seinem Blut. Dies ist in Amerika kein Vorwurf; ich habe es ja früher betont, daß der Mann, der hier zu den Seelen sprechen will, den Mann von der Kanzel nachzuahmen liebt, um dem naiven Zuhörer begreiflich zu machen, daß er an sein Inneres rühren will. Wollte sich Traubel bloß an den Gebildeten wenden, hätte er's leichter, oder er müßte verstummen, da das anspruchsvolle Ohr die ewige Bergpredigtweise nicht allzu lange verträgt. Aber seine Strophen aus »Optimos« (bei B. W. Huebsch in Newyork erschienen) haben sich in Volksversammlungen gut bewährt, seine »Chants communal« (die O. E. Lessing übersetzt und der Verlag R. Piper & Co. in München unter dem Titel: »Weckrufe« verlegt hat) sprechen ihre Sprache zu jedem von uns, jedem Menschenkind aus dem großen, herrlichen Mob, von dem Gouverneur Johnson spricht.

Viele Bedenken ästhetischer Art verblassen vor dem Wichtigen, das in Traubels Kunst getan erscheint. Es ist immer mißlich, der Nachkomme und nicht der Christus 407 eines Johannes zu sein. Daß der Ruf nicht verhalle, bis der Erwartete, der große Dichter der großen Neuen Welt erscheint, das wirkt Traubel und die um ihn pietätvoll und voll Aufopferung in der Zeitschrift »The Conservator«, die die Whitman-Tradition hochhält und immerhin eine kleine lebende Opferflamme vorstellt in dem einzigen heiligen Hain, der heute in Amerikas Literatur zu finden ist.

 

Es gibt sauberere, vornehmere, besser informierte und von gewissenhafteren Schriftstellern geschriebene Tagesblätter in Amerika – aber es gibt keines, das es an Verbreitung, an origineller, charakteristisch amerikanischer Bewegtheit und Beweglichkeit mit den Blättern von William Randolph Hearst aufnehmen könnte. Sie erscheinen in Newyork, Chicago, Boston, San Franzisko, Los Angeles und Atlanta in einer Gesamtauflage von etwa sechsthalb Millionen Exemplaren, und man kann getrost annehmen, daß sie von einer größeren Zahl Americanos gelesen werden, als welches andere Blatt immer.

Ihr direkter politischer Einfluß ist (wie der der meisten großen populären Tagesblätter Amerikas) gering, wenn nicht gleich Null. In einem Leitartikel des Chefredakteurs des »Newyork American«, Arthur Brisbane, las ich den bemerkenswerten Stoßseufzer: »Wir, die wir in diesem Lande nicht einmal die Wahl eines städtischen Hundefängers durchsetzen können –« und wirklich, man erzählte mir, daß zuweilen staatliche oder städtische Funktionäre trotz der vereinten Opposition der Tagesblätter einstimmig gewählt worden sind.

Wenn ihr direkter Einfluß solcher Art paralysiert ist, so können sie doch durch Unterschlagung bedeutsamer Nachrichten, Totschweigen von ihnen unliebsamen Persönlichkeiten um so mehr Unheil anrichten. Oft habe ich, wenn ich in einem großen Newyorker Tagesblatt, dem »Newyork Herald«, der »Evening Post«, der »World« 408 oder »Times« eine verhängnisvolle, gar nicht zu übersehende politische Aktion verzeichnet fand, andere Blätter durchgesehen und keine Zeile in ihnen gefunden, die über dieses Ereignis berichtet hätte.

(Die deutschen Blätter, die »Newyorker Staatszeitung« an der Spitze, bilden dabei eine rühmliche Ausnahme.)

Eine andere bewährte Methode, Ereignisse zu fälschen, ist: das Schwergewicht wird auf Nebensächliches gelegt und die Hauptsache, die zu berichten dem Blatt unangenehm ist, auf irgend eine Art in den Text unauffällig hineingeschmuggelt.

In einem sehr gelesenen Blatt Newyorks fand ich den Sieg der deutschen Sozialisten bei den jüngsten Reichstagswahlen unter der Überschrift:

»Chauffeur des deutschen Reichskanzlers wegen Schnellfahrens verhaftet«

in fünf Worten ganz beiläufig erwähnt. Das Hauptinteresse des Lesers sollte auf das Faktum konzentriert werden, daß der erwähnte Funktionär verhaftet wurde, als er seinen Herrn nach dem Schloß führte, wo der Kaiser auf Rapport über den Ausfall der Wahlen wartete!

Am selben Tag, an dem spaltenlange Berichte über das Auftreten eines Synagogensängers sich in den Hearst-Blättern breit machen, verschweigen diese selben Blätter die Mordtaten der »Schtarkes«, der jüdischen Kamorra, die die Ostseite im Atem halten. In derselben Nummer, in der Hearst den triumphalen Einzug des irländischen Kardinals Farley in Newyork schildern läßt, sucht man vergeblich nach einer kleinen Bemerkung über die Gefahr des hereindringenden Katholizismus für die demokratischen Grundprinzipien Amerikas, mit deren Verherrlichung die Hearstblätter den Mund sonst gewaltig voll zu nehmen pflegen.

Wenn man diesem oder jenem großen Tagesblatt Amerikas den Vorwurf machen kann, daß es im Dienste der großen investierten Interessen, der Truste, Eisenbahnen, arbeitet, so kann man den Hearst-Blättern 409 nachsagen, daß sie von dem maßlosen Ehrgeiz ihres Besitzers bestochen sind. Ihre Taktik ist es, dem Italiener, Iren, Juden als wichtigen Faktoren der amerikanischen Politik zu schmeicheln, um ihrem Besitzer zu der sehnlich erhofften Standeserhöhung innerhalb der gegebenen Stufenleiter der Republik zu verhelfen. Dieser breitschulterige Amerikaner, mit dem außerordentlichen, von fanatischem Ehrgeiz versteinerten Imperatorenkopf hat es jedenfalls erreicht, einer der meistgenannten, blindest gehaßten Männer Amerikas zu sein. Es ist einerlei, ob seine ephemeren Ambitionen nach dem Weißen Haus je in Erfüllung gehen werden oder nicht, für den Europäer ist dieser amerikanische Zeitungsimperator jedenfalls eine der interessantesten Erscheinungen von geradezu monumentaler Unerquicklichkeit. Die Truste haben an ihm keinen Freund, aber der Hearst-Trust führt hier an einem typischen Beispiel die ganze moderne Zivilisation, die es erlaubt, daß der Ehrgeiz eines einzelnen Mannes in einem demokratischen Staatenverband täglich sechsthalb Millionen Menschen in die Ohren geblasen werde, wieder einmal glänzend ad absurdum! –

Im Dienste Hearsts steht der genialste Journalist, den das heutige Amerika besitzt, Arthur Brisbane. Er macht aus seiner Not seine hervorragendste Tugend, indem er stolz auf seinen Titel, ein gelber Journalist zu sein, pocht. Dieser Titel ist alles, nur kein Geusenruf.

»Gelb« nennt man in Amerika die Sensationspresse, die Sensation um der Sensation willen macht und ausposaunt und sie nicht als Werkzeug zur Unterstreichung einer Gesinnung benutzt. Empört eine riesige, offenkundige Ungerechtigkeit das Volksgewissen, so sondiert der Gelbe erst vorsichtig das Feld nach beiden Seiten, und bauscht, wenn er erst herausgebracht hat, auf welcher er mit besserem Profit stehen kann, die entgegengesetzte gehörig auf. (Ein keineswegs typisch amerikanischer Vorgang, allein die europäischen Gelben sind in dieser Kunst Waisenknaben gegen die Amerikaner zu nennen.)

410 Sympathisch berührt einen beim Zusehen, daß man bald merkt, im großen ganzen ist in Amerika immer noch die Freiheit populärer als das Niedertrampeln des Nächsten. In der amerikanischen Biblia Pauperum sehe ich sodann doch noch lieber mir das Bild des Astorschen Sommerbungalos und Roosevelts aufgesperrten Riesenrachen an als die ewigen, unerträglichen Uniformenbilder von Potentaten in den europäischen Blättern.

Wenn Amerika sentimental nach gekrönten Häuptern Europas hinüberschielt, erhält es seinen rügenden Klaps am wirkungsvollsten von Brisbane appliziert, worauf sich der verdrehte Hals mit hörbarem Knarren wieder in seine normale republikanische Lage zurückdreht. Unvergeßlich wird mir ein prachtvoller Zornschrei Brisbanes sein, gelegentlich des Empfangs ausgestoßen, den Newyorker Finanz- und politische Größen dem Herzog von Connaught, Onkel des englischen Königs und Statthalters von Kanada, bereitet haben.

Brisbanes Leitartikel sind Meisterwerke gemeinverständlicher Zwiesprache eines äußerst kultivierten und wohlmeinenden Kopfes mit sechsthalb Millionen Volks über seine vitalsten Interessen, mit einem kleinen, für den Kenner und Gourmand deutlich wahrnehmbaren Beigeschmack von augurenhafter Ironie gewürzt. Brisbane ist der Sohn eines hochbegabten sozialistischen Kämpfers und war wie sein Vater in seiner Jugend ein begeisterter Anhänger Fouriers. Hier einige Themen seiner Leitartikel:

Anweisungen an arme Massenquartiersbewohner, wie sie die Milch in ihren Behausungen aufbewahren sollen. – Was können wir anno 1912 mit dem Schalttag anfangen. – Das Perlenhalsband der Milliardärin, totes, aus der Zirkulation gezogenes Kapital. – Kinder sollen nicht geängstigt werden. – Über die Existenz Gottes; Parabel von den blinden Kätzchen. – Rat an den italienischen Schuhflicker, die Flicken künftig inwendig anzubringen. – Rat an Junggesellen, zwei übriggebliebene magere 411 Findelkinder zu adoptieren, die im Findelhause keinen Liebhaber gefunden haben; Goethe wie Voltaire seien auch mehr tot als lebendig zur Welt gekommen. –

Die gelbe Presse wird von jedermann gelesen in Amerika; Männer wie Brisbane wirken immerhin als Antidote gegen das Gift, den langsam wirkenden, demoralisierenden Einfluß, der in die Seele des Amerikaners aus solchem Tropfenglas träufelt. Die Methoden der amerikanischen Gelben aber werden von der Presse der ganzen Welt nachgeahmt werden. Zuerst wird man und man ahmt schon den Unfug der sensationellen Überschriften nach; da der Leser kaum Zeit mehr hat, die Artikel zu lesen, wird die Zeitung dickleibig, um mehr Überschriften produzieren zu können. Das Überhandnehmen der Klischees beweist, daß auch diese Überschriften kaum mehr gelesen werden. Das systematische Zusammenscharren von allem Skandal, allen Unglücksfällen der ganzen Welt zeigt den verzweifelten Todeskampf der Presse in ihrer heutigen Form an. Die amerikanische hat, wie erwähnt, ihren politischen Einfluß längst schon an die Periodicals, die Zeitschriften, abgegeben. Das Inserat bleibt der Sieger. Wenn die Klischees und die Überschriften nicht mehr genügende Lockspeise für das lesende Publikum bilden werden, um es zu den Inseraten herbeizulocken, dann kommt die Krise, dann muß ein Genie eine neue Form für die Zeitung erfinden.

Die gelbe Presse ist gar keine vereinzelte Erscheinung im Chorus der amerikanischen Dinge, sondern eines von den hier herüben so deutlich wahrnehmbaren Entwicklungsprodukten. Sie zeugt ebenfalls vom Tempo Amerikas, dem Europa, mit einigen großen Tagesblättern in Paris, London und Berlin, bereits nachhumpelt.

Einstweilen kann man sich in Europa kaum eine Vorstellung davon machen, auf was für einem Tiefstand das Gewerbe des amerikanischen Nachrichtenbeschaffers angelangt ist. Auf der letzten Seite der Hearst-Blätter predigt Brisbane, mit ihm zwei andere »Reverends«, 412 ein männlicher und ein weiblicher. Zwischen dem Annoncenteil und dieser letzten Seite aber findet eine Katzbalgerei von Photographen, Gesellschaftschnüfflern, Karikaturisten und gelegentlichen Mitarbeitern, wie da sind: Kokotten, Tanzlehrer, Fußballgrößen und Hotelköche, statt. –

 

Das amerikanische Theater, daß Gott erbarm! Sie haben das Schlagwort vom »tired businessman«, vom erschöpften Jobber, gefunden. Das Theater Amerikas soll also auf die geistige Spannkraft und Aufnahmefähigkeit des Kaufmanns zugestutzt werden, der nach 8–10stündiger angestrengter Arbeit das Schlafengehen gnädigst um einige Stunden hinausschiebt und auf solche Weise Mäzen und Protektor der dramatischen Kunst wird.

Das amerikanische Drama von heute hat wahrscheinlich die Devise mitbekommen: nur keine Aufregung, nur nichts, was die Ruhe stört; business und Politik am Tage, Politik und business am Abend, hinter der fehlenden vierten Wand. Tatsächlich habe ich in all diesen Monaten, in sechs, sieben Varianten immer und ewig das gleiche Stück auf dem Theater gesehen.

Die kreuzbrave und ehrbare businesswoman, einmal als Warenhausverkäuferin, einmal als Hoteltelephonistin, als Bahnhofskassiererin verkleidet, die einer Gesellschaft von korrupten Spekulanten oder Politikern die Stirne bietet und dafür von dem einzigen Idealisten der Rotte ehrbar geehelicht wird. –

Wie wenig es das Publikum Amerikas (vielleicht nur in dieser Saison 1911/12?) zu lieben scheint, durch komplizierte Charakterführung beunruhigt zu werden, das sah ich ganz deutlich aus der Bearbeitung von Hermann Bahrs geistreichem Lustspiel: »Das Konzert«, das ja dem Europäer keine gewaltigen Rätsel aufgibt, für Amerika aber eine noch immer zu harte Nuß zu sein scheint. Im »Konzert« ergibt sich, wie erinnerlich, der amüsante Konflikt daraus, daß der Künstler des Stückes 413 in seinen ärgsten Eskapaden noch Bourgeois bleibt, der Bourgeois des Stückes aber mit einer ganz unbürgerlich originellen Weltanschauung herumläuft; was der erstere scheinen muß, ist der andere wirklich, und die gütige und kluge Frau, die sich Torheit und Weisheit zu nutze macht, führt alles zum besten Ende. In der amerikanischen Bearbeitung ist der Konflikt umgedreht. Der Künstler ist so, wie sich der Amerikaner den Künstler eben vorstellt, ein kapriziöses Kind, und der andere, der bürgerliche Sonderling, ein pathetischer Mann des common sense. Das Aufeinanderklappen dieser beiden, zwischen denen die ein wenig larmoyant gewordene Frau steht, hat dem Publikum Amerikas doch noch Reiz genug geboten, so daß zwei – drei Truppen mit dem erfolgreichen Stück seit Jahren durch den ganzen Kontinent reisen.

Rührselige Provinzsentimentalitäten, frugale Farm- und Wildwestmelodramen, in denen die primitive Seele, wie sich's gebührt, über den smarten Städter triumphiert – und daneben die Stücke David Belascos, des Dichter-Direktors, der auf alle Fälle der gerissenste Theatralikus des heutigen Tages ist und als solcher es sich wohl erlauben darf, sein Publikum mit ausgefallenen Problemen vor den Kopf zu stoßen. Er hat, als Schüler und Bewunderer Reinhardts, dessen Methoden, geschickt vergröbert oder gesteigert, dem Bedürfnis des amerikanischen Theaterpublikums, das er durchschaut und lenkt, trefflich angepaßt.

Vor der Einführung der französischen Zote steht, als Großsiegelbewahrer der nationalen Heuchelei, der »amerikanische Senator Berenger«, Mr. Anthony Comstock; seinem wachsamen Auge entgeht auch in der heimischen Produktion nichts, was auch nur im entferntesten als ein Versuch zur Darstellung des Kampfes der Geschlechter aufgefaßt werden könnte.

Durch die großen Theatertruste, wie die der Frohmans, Klaw, Shuberts – die letzteren haben allein 414 160 Theater in den Staaten gepachtet, in denen ihre Wandertruppen gastieren – ist eine Kontrolle des Geschmackes des ganzen Theaterpublikums von Amerika ausgeübt. Dieser systematischen Seelenverhunzung probieren kleine, dem »Œuvre« und der »freien Bühne« nachgebildete dramatische Gesellschaften zu steuern, so z. B. die Chicagoer dramatische Vereinigung, mit geringem Erfolg selbstverständlich. Es gibt aber, durch diese Vereinigungen ermutigt, junge Dramatiker, die sich an Experimente wagen, so z. B. der auch in Deutschland bekannte Ch. R. Kennedy, und unter anderen Upton Sinclair in seinen »Plays of Protest«, Tendenzstücken sozialistischer Gesinnung. – Man versuchte und unternimmt immer wieder aufs neue Versuche, Werke von fremdländischen, d. h. nichtenglischen Dichtern, so von Ibsen, Maeterlinck, Wedekind und Strindberg den Americanos vorzuführen; alle diese Versuche scheitern indes an dem total degradierten Getrieb, das, ärger wie anderswo noch, wie ein Pegel deutlich zeigt – auf welcher Stufe des Verfalls die heutige Gesellschaft angelangt ist.

 

In den Theatern Belascos begegnet man noch gut und reif ausgeglichenen Schauspielerensembles, an deren Vorführungen man seine Freude haben kann. Hat man aber keine Lust, sich eine unter dem Mittelmaß stehende Truppe, die sich um einen erschöpften und abgehetzten Star gruppiert, drei Stunden lang gefallen zu lassen, so muß man schon nach der Ostseite, zu den jüdischen, d. h. im Jiddischen Jargon spielenden Theatern hinüberwandern. Hier findet man eine erstaunliche Aufhäufung von Komödiantentalent, Rohmaterial, das ebensowenig von dem am Broadway üblichen fünfhundertmaligen Herunterspielen desselben Schmarrens verdorben, wie allerdings von der kundigen Hand des Regisseurs zur letzten Reife gebildet ist. In den Theatern des Jakob Adler, des »jüdischen Irving«, und der »jüdischen Duse«, Mme. 415 Lipzin, spielt man auch (neben Melodramenschund arger Sorte) Werke europäischer Autoren, vor dem dankbarsten Theaterpublikum, das es auf der ganzen Welt geben mag heutigentags. Am Broadway, in den englischen Theatern, sind ja die Schauspieler auch zu sieben Achteln deutsche und russische Juden, aber das angeborene Komödiantentalent dieses begabten Volks sprüht im Schmelztiegel des Ghettos doch noch hellere Funken. –

 

In Adlers »Thaliatheater« im Ghetto sieht man im Vestibül die Porträtköpfe von Zola, Tolstoj, Richard Wagner, Alexander Herzen und des russischen Revolutionärs Gerschuny, aber welcher Galerie von Theaterautoren begegnet man in dem altehrwürdigen deutschen Theater am Irving-Place zwischen Broadway und dem Ghetto?

Vor Jahren, so hörte ich, hat Dr. Baumfeld den letzten lobenswerten Versuch gemacht, den Newyorker Deutschen die Klassiker und ein gutes modernes Repertoire von guten Schauspielern in guter Ausstattung vorspielen zu lassen. Heute aber, Winter 1911/12 sind es die ödesten, verwerflichsten französischen Zoten, die dem wiehernden Beifall des Deutschamerikaners in seinem Theater preisgegeben werden. Schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen, weil man sich vergeblich fragt, wo das Schamgefühl der Deutschen hin ist, die solches dulden und fördern (die Amerikaner mit ihrem Comstock sind noch besser dran), so hört man: die Vereinsmeierei mit dem bekannten Niveau ihrer Liebhaberbühnen habe das deutsche Theater ruiniert; oder: die jüdischen Theater haben dem deutschen den Garaus gemacht (!!), oder: die zweite Generation der deutschen Einwanderung geht ausschließlich in englische Theater, und der neu hereingekommene Deutsche steht auf solch tiefer Stufe des Geschmackes und der Kultur, daß ihm das Schlechteste gerade noch gut genug ist.

Die deutschen Bierbrauer sind die Mäzene des 416 deutschen Theaters in Amerika, das ist die richtige Antwort und Erklärung. Neben den großen deutschen Theatern in Newyork, Milwaukee, St. Louis findet sich immer auch ein großes deutsches Gasthaus, das dem geistigen Erzieher des Deutschamerikaners gehört.

Und doch hätte, wenn irgend ein fremdsprachiges, so das deutsche Theater in Amerika seine Existenzberechtigung. Es ist um kein importiertes Nationalgefühl, das hier herüben ins Amerikanische umgewandelt wird, schade; um das deutsche ebensowenig wie um das französische, russische, italienische. Aber um das Deutsch, das die Deutschen mit herüberbringen, ist es schade, und hier beginnt der Ärger über das deutsche Theater in Amerika.

Es liegt gar keine Notwendigkeit vor, das anmutige Russisch-Jüdisch-Deutsch der Ostseite durch die Schauspielkunst zu erhalten. Aber dem schauerlichen Pennsylvania-Dütsch, dem Amerikanerdeutsch, das man hört und in den deutschen Zeitungen (besonders denen des Westens) liest, müßte das deutsche Theater entgegenarbeiten. Der Deutschamerikaner weiß es und kann es vom Englischamerikaner bestätigt hören, daß die Staaten den großen Deutschamerikanern der 48er Jahre, den Schurz, Beck, Willard, mindestens so viel verdanken wie den Puritanern, die hier das Reich Gottes aufgepflanzt haben – wenn der Deutschamerikaner sein Deutschtum aus Pietät seinen Kindern weitergeben will, dann soll er sich an das Deutsch erinnern, das diesen Begründern des heutigen Amerikas den Weg hierher herüber gewiesen hat; Schillers, Herweghs, Prutz' und Kinkels Deutsch. Durch das lebende Wort, von begabten Schauspielern auf ordentlichen Bühnen gesprochen, könnte das Amerikanerdeutsch noch gesäubert und zu wirklichem Deutsch zurückgewandelt werden. Was ist das für eine Sprache, die die amerikanischen deutschen Blätter ihren Lesern vorsetzen? In einem Chicagoer las ich auf der ersten Seite diese, der gelben Presse nachgemachte Überschrift:

»Knallte Nebenbuhler nieder. Hatte Dreck am Stecken.«

417 Und auf der Annoncenseite zum Schluß:

»Hochgradige Damenmäntel, speziell gepreist so und so viele Dollar.«

Man kann sich denken, wie der Text zwischen dieser ersten Seite und der letzten aussieht, welches Deutsch Schreiber und Leser solcher Blätter sprechen. (In den »Breitmann-Ballads« von Ch. G. Leland hat dies Amerikanischdeutsch sein schauerlich-schönes Meisterwerk gefunden.)

Einige Zeitungen, wie die sozialistische deutsche Tagespresse und auch die »Staatszeitung« in Newyork, haben ihrem Publikum den Gefallen noch nicht erwiesen, ihr Deutsch zu verhunzen, um es ihrem Publikum mundgerechter zu machen. Aber die Kämpfe, die die deutsche Presse gegen den Ansturm der englischen zu bestehen hat, sehen sich verzweifelt genug an. Es fragt sich sehr, welche Taktik besseren Erfolg verheißt: dem rapid sinkenden Geschmack des Publikums nachsteigen oder einen Standard fest und hoch halten – durch Reinheit der Sprache (wie der Gesinnung), an der die Besten in der Neuen Welt und der alten Heimat mitarbeiten sollten. –

 

Eine amerikanische Musik gibt es nicht. Die alten Weisen stammen, soweit es keine englischen Psalmen sind, aus Afrika, sind Eigentum der Neger (so wie die »ungarische Musik« Eigentum der ebenfalls aus Afrika stammenden Zigeuner ist), und was gegenwärtig das Ohr des Americanos entzückt, das »zerfetzte Tempo«, rag-time, eine Nachahmung der Negertanzrhythmen, ist von findigen russischen Juden fabriziert, allerdings mitunter mit fabelhafter Geschicklichkeit und musikalischem Können.

Die Popularität solch eines rag-time-Gassenhauers spottet nach europäischem Maßstabe jeder Beschreibung. Einen Monat lang wird er zwischen Atlantik und Pazifik einfach von jedem Menschen gepfiffen, gesungen, auf der Straße, in den Kasernen, in den Klubs nach dem Essen, jedes Grammophon spielt ihn, man wacht und schläft 418 in seinem apart synkopierten Rhythmus, sein Komponist kann sich eine Privatjacht kaufen und einen eigenen Hafen anlegen dazu.

Ragtime ist der Rhythmus des angestrengten Mannes, dem sieben Dinge, die er zugleich erledigen muß, gleichzeitig durch den Kopf gehen. Der clogdance, Stampftanz, hat diesen Rhythmus akzentuiert, es ist der Rhythmus des ungeduldigen, unregelmäßigen, irritierten amerikanischen Lebenspulses.

Ich habe mich, als ich dieses nationale Geräusch hier herüben eine Zeitlang mitangehört hatte, lebhaft an die Zigeunermusik erinnert gefühlt; als einmal ein Orchester in San Franzisko die II. Rhapsodie von Liszt (in einem outrierten Tempo) in der Hotelhalle spielte, da wußte ich: Liszt ist der Klassiker des Ragtime! –

Das einzige Musikgenie Amerikas ist John Philip Sousa, der Komponist und Kapellmeister. Das ist ein nationales Genie, wenn es heut eins in der Welt gibt und dazu eins, das mehr kann als bloß Kontrapunkt setzen.

An Kraft des Volksausdrucks nimmt er es mit welchem Neapolitaner von der Tavola Rotonda der Piedigrotta-Feste auf, dieser Teufelskerl. In seinem Militärmarsch: »The Stars and Stripes for ever« hört man die Rotationspressen von Hearst sausen, die Pfeifen der Pittsburger Stahlwerke, das Gejohl der Streikenden davor und die Kanonen von Fort Wayne, den Donner der Niagarafälle und den Bohrer unter den Woolworth-Caissons, das Getümmel des sonntägigen Coney-Island und das Gebrüll der Seelöwen auf dem Felsen der San-Franzisko-Bay an dem anderen Ende! Sousa hat eine symphonische Dichtung geschrieben: »Der Rote Mann«, die ein Meisterwerk sozusagen der Rassenpsychologie genannt werden darf. Er gehört ganz und gar dem heutigen Amerika an. Nur die Gelegenheit hat ihm gefehlt, sonst wäre er heute ein Rouget de Lisle und nicht ein herumziehender Kapellmeister. Seine Roughrider-Märsche, »Stars and Stripes«, 419 »King Cotton« und »El Capitan« sind, bis nichts Stärkeres nachkommt, der vollendetste musikalische Ausdruck des jungen draufgängerischen Amerikas.

 


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