Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Der Pfeilsee

Hinter Kicking Horse beginnt Britisch-Kolumbien, das Sagenland. Wenn es heißt, Kanada sei die Zukunft der Welt, so darf man sagen, Britisch-Kolumbien sei die 225 Zukunft Kanadas. Durch das gletscherbesäte Tal des Illecilliwaet neigt sich das Land, vom Rückgrat Amerikas nieder zur Küste des Pacific, zu B. C., wie die Kanadier das Land in liebevoller Abkürzung nennen.

Auf einer flüchtigen Reise ist man dankbar für Symbole, die einem die Quintessenz, Wesen und Rätsel eines Landes auf eine Formel gebracht vorführen; im Ernteland Alberta war's die Blumen- und Baumoase auf der Mc Gregor-Ranch, hier in B. C., so kommt's mir heute vor, ist mir dies Symbol in dem märchenhaften und über die Grenzen der Dominion hinaus berühmten Obstgarten des Herrn James Johnstone begegnet, im wundervollen südlichen Kootenay-Gebiet.

James Johnstones Garten

Dieser Märchengarten liegt an einer steinigten Berglehne, und man würde, sieht man von der Stadt Nelson über den Wasserarm hinüber, kaum glauben, daß dort drüben an dem Hange etwas anderes gedeihen könnte als ein paar kümmerliche Föhren zwischen den grauen Felsenblöcken. Das hat man noch vor 10 Jahren auch wirklich geglaubt. Bis ein armer Schweizer Farmer, der dort auf den Steinen saß und kümmerlich Roggen oder Kartoffeln oder was ähnliches pflanzte, in dem Boden den besten Boden für Apfelbäume, Birnenbäume, Pfirsich- und Pflaumenbäume entdeckte. Dieser erst als Narr verschriene, bald zugrunde gegangene und gänzlich verschollene Schweizer ist der Vater der Obstzucht in B. C. geworden, und diese Obstzucht fängt an, den Obstländern Ontario, Kalifornien und Florida gefährlich zu werden.

Mr. Johnstone sitzt auf dem Erbe des Schweizers, und an den Korb voll Birnen und Pflaumen, den er mir auf die Reise mitgab, wird sich mein Gaumen erinnern, solang ich einen Mund im Gesicht habe. Johnstone führte mich in seinem Motorboot über den Kootenayarm und wies stolz auf die Bank, auf der ich mein Volumen bescheiden im Gleichgewicht hielt; auf dieser Bank hatten Gouverneure, Lords, Minister und sogar einer, der inzwischen König geworden ist, gesessen.

226 Ist man erst drüben bei den Steinblöcken angelangt, so gehn einem die Augen über. Diese Farm ist zwanzig Acker groß, aber es ist praktisch unmöglich, mehr als 7 davon zu kultivieren. Um die Zeit der Obsternte haben zwei Dutzend Menschen vollauf zu tun, dem Segen Einhalt zu gebieten, das heißt, zu verhüten, daß die Bäume auseinanderbrechen vor Fruchtbarkeit. Zwei – drei Acker bieten einer Familie ihr reichliches Auskommen und sogar einmal alle drei Jahre das Schiffsbillett nach Europa und zurück. Äpfel, groß wie meine beiden Fäuste aneinander gehalten, belasten einen Baum, dessen Jahresertrag 37 Dollar beträgt. Johnstone zeigt auf den Berg über seinem Garten hinauf: dort oben liegt eine Mulde, ginge ein Weg dort hinauf, der Boden ist derart, daß das alte Kanaan beschämt würde durch den Ertrag.

Ich schaue den Berg hinauf, es ist ein Steinkegel, ich sehe Felsen, sonst nichts. Diese Felsen eben, so belehrt mich der Züchter, diese Blöcke, zwischen denen wir hier unten herumgehen, und die Gesteinsart im ganzen Kootenay ist es, die das Wunder dieser Fruchtbarkeit bewirkt. Es ist Granit, der hier langsam stirbt, den die Luft zermalmt und der mit dem Lehmboden eine chemische Verbindung eingeht, die den großartigsten Dung für alles saftige Obst der Welt ergibt.

Diese Vorstellung von dem sterbenden Berg verfolgt mich bis in den Schlaf. Ich habe mich in dem Herumklettern zwischen den Obstbäumen an einem und dem andern Felsblock angehalten und habe auf meiner Haut vermittels des Tastgefühls die Vorstellung wiedergefunden: der Berg stirbt, und die süßen Früchte gedeihen. –

Nächsten Morgen fahre ich den Pfeilsee hinauf zu meiner Strecke zurück, die mich vom Atlantic hierher geführt hat und über die ich jetzt bald den Pacific erreicht haben werde.

Es geht schon auf Oktober zu, und die himmelhohen Berge, zwischen die der See gebettet ist, die Selkirks im Osten, die Gold-Range im Westen, werfen sich über den 227 schmalen See Wolkenballen zu durch den stahlkalten Himmel. Da liegt der See, zwischen Urwäldern und Felsenwänden, über die Schatten in die Höhe huschen. Er sieht aus wie ein verbogener, unregelmäßig gefiederter Indianerpfeil, vom Norden her nach dem Herzen des Kootenay abgeschossen. Dort, wo der Himmel auf den Bergen liegt, ist der Urwald nur mehr ein Wald von grauen Lanzen, die ins blaue Gestein gepflanzt sind. Waldbrände von Urzeit haben den Riesenstämmen die Rinde vom Leibe geschält. Die Ritter sind tot, und die Lanzen sind in den Boden gestoßen; wo einst das Heer stand, dort zeigen sie nach dem Himmel. Schnee kommt auf sie herab, und über ihnen ist die Wolke halb schon Stein und halb noch Himmel.

Hier unten aber, an den Ufern, bei den Felsenwänden und zwischen den Bäumen leben und bewegen sich Menschen. Es ist unwahrscheinlich, und das Gefühl sträubt sich gegen die Vorstellung, daß hier Menschen leben, in dieser Wildnis, an dieser kaum seit Jahrzehnten 228 entdeckten, seit wenigen Jahren erst befahrenen Wasserader. Aber es ist so: in den Wäldern, auf den spärlichen Lichtungen, die sie sich mühselig aus dem Wald gerodet haben, und die ein Stückchen Boden bis ans Wasser herunter freigelegt haben, leben Menschen.

Die »Rossland« müht sich durch die Wellen vorwärts, ich stehe im eiskalten Nordwind auf dem Deck und sehe die Ufer rechts und links vor dem Kiel zurückweichen. Zuweilen scheint's, als müßte das Schiff stocken mitten in seiner Fahrt. Die Ufer rücken eng zusammen wie eine Gasse, und Sandbänke, Klippenrücken steigen aus dem Wasser empor. Da erscheint das Adlergesicht unseres Kapitäns im Steuerhäuschen, und das Schiff gleitet schlau und witzig, wie ein Fisch mit Flossenschlägen, durch die Enge hindurch.

Hier und da tönt ein dumpfes Brüllen aus dem Innern des Schiffes hervor – dann wird auf einer der Lichtungen im Wald vor uns ein Punkt lebendig. Ein Mensch, der dorten wohnt, ist benachrichtigt worden, Post oder Nahrungsmittel sind an Bord für ihn. – Aus einem Blockhaus kommt ein struppiger Riese von einem Holzfäller heraus, eine Postkarte fliegt über Bord, während wir weiterfahren steht der Riese da mit dem Blättchen in der Hand, kehrt dann in seine Einöde zurück, die Welt im Rücken. Wir aber fahren wieder stundenweit an den unbewohnten Ufern des Sees im Urwald entlang.

Was für eine Sorte von Menschen kann das sein, die sich hier niedergelassen hat, zäh mit dem furchtbaren Wald um einen Fußbreit Raum zum Leben ringt? Dies ist eine andere Sorte dahier, als jene im Weizenland mit der Sonne über sich, die den Himmel in ungeheurem Bogen schaut vom Aufgang zum Niedergang, das Jahr hindurch. Unser Schiff zieht seines gefährlichen Weges dahin, und ich denke an die Prärie, an den sterbenden Granitberg, an die Ufer des offenen Meeres, an all die Hütten, die ich gesehen habe auf meiner Reise – und plötzlich ist es mir, als sei dieser See hier der Schattensee, und die 229 Ufer und die Menschen garnicht wirklich, nicht von dieser Welt.

Wir sind an einem Berg vorüber, einem weißen Riesen, der Mount Halkyon heißt, und vor uns liegt eine kleine Lichtung, die auf einer Tafel den Namen »de Mars« führt. Die Brücke wird niedergelassen, in raschem Lauf tragen fünf japanische Schiffsjungen Kisten, Tonnen und Säcke ans Ufer hinunter, legen alles der Reihe nach hin auf den nassen Sand, und schon während das Schiff weiterzieht, laufen sie die steiler und steiler werdende Schiffsbrücke hinauf, hurtig, wie geschickte Affen in das Schiff zurück. Kein Mensch ist auf »de Mars« zwischen den Zedern und Föhren zu sehen. Die Lebensmittel liegen und warten auf dem wasserbespülten Sand. Eine waldige Bucht schiebt sich zwischen unser Schiff und die Haltestelle, wir sind an »de Mars« vorüber.

Spät am Nachmittag halten wir auf eine Rodung, die, etliche hundert Meter im Geviert, zwischen den Bäumen schroff ans Wasser niederfällt.

Ein paar menschliche Wesen tummeln sich dort, durch mein gutes Glas sehe ich zwei Männer in gelben Hemden und gelben Hosen, selber wie entrindete, entlaubte Bäume anzusehen, ein Kind, das mit einem Huhn und einer Ziege vor der Blockhütte am Waldessaum spielt, und unten am See gewahre ich, auf einem Holzstrunk, eine rote Form, etwas wie einen großen Stein, über den man eine rote Decke geworfen hat – aber es ist ein menschliches Wesen, es bewegt sich ja, die Falten der Decke verschieben sich. Wie wir näher kommen, sehe ich: es ist ein Weib, sie hat einen ihrer roten Röcke über ihren Kopf geschlagen, so sitzt sie da und wartet auf das Schiff.

Wir halten, legen an, fahren weiter. Die Männer, das Kind, die Ziege sind ganz an das Wasser herunter gekommen. Die Männer haben die Fracht und die Post in Empfang genommen. Der Dampfer wendet sich ächzend weiter. Das Weib auf dem Baumstumpf hat sich nicht gerührt.

230 Ganz genau hab ich ihr Auge gesehen. Zwischen den Falten ihres Rockes blickte ihr Auge nach dem Schiff aus. Sie wollte unsichtbar sein für die Augen, die vom Schiff hinunterblickten, aber ihr Auge ging unruhig unsre Augen an Bord entlang, aus dem starren roten Gebilde sah ein lebendiges Auge uns Menschen an, die kamen und weiterzogen; der Herbstwind, der an unseren Mänteln zauste, schien geringere Gewalt über das rote Gebilde unten am Ufer zu haben.

Wie wir schon weit sind, erhebt sie sich, wirft den Rock mit einem Ruck von ihrem Kopf herunter und geht den Männern und dem Kinde nach, langsam auf das Blockhaus zu.

Durch mein Glas sehe ich sie ganz genau. Sie ist eine ältliche Frau, großgewachsen, aber von verquollenen Formen, mit leuchtenden roten Haaren über ihrem ungesunden bleichen Gesicht. In ihrem Gang, auf ihrem Gesicht liegt etwas, daß ich mir sage: ich verstehe dich, ich verstehe es, warum du nicht gesehen werden willst in dieser Einöde, in der du dein Leben beschließt. Ich zeichne mir die Kontur dieser Gestalt in mein Notizenbuch ein, und plötzlich fällt mir eine Frau ein, die ich vor Jahren in München gesehen habe, eines der sinistren Geschöpfe dieser Zeit – ich erinnere mich an die Haltung, an die Kontur, den Gang, an die ganze Gestalt, an die Einöde, in der sie ihre Tage verlebt, und ich schreibe unter die Zeichnung in mein Notizenbuch den Namen: Helene von Dönniges ein. –

Es wird Nacht, tief innen zwischen den Stämmen sieht man das rötliche Licht eines Meilers brennen. Ein kleines Kanu, in dem ein kleiner Indianerjunge und ein weißer Knabe sitzen, kommt ganz tapfer an unser Schiff herangepaddelt. Es ist kalt, und auf dem Deck ist niemand mehr. Auch ich gehe in meine warme Kabine, mit meinem guten Buch, und bereite mich auf die Nachtruhe vor, draußen weht es tüchtig durch die Stricke.

Vorne am Schiffsschnabel hat man jetzt die Laternen 231 hinter den riesigen Scheinwerfern angezündet. Sie suchen dem Schiffe seinen schwierigen Weg vorwärts, nach Norden. Aus meinem Kabinenfenster sehe ich den weißen Schein gespenstisch über Felsen, Bäume, Laub dahinhuschen, der Schein hebt Schichten von Laub von der Masse dahinter ab, trennt eine hellgraue Kulisse von dem dunklen Hintergrund, streicht über den nassen Sand und das schaukelnde Wasser, huscht durch die neblige Nacht und verweilt in ihr.

Auf einmal dröhnt das Signal des Schiffes. Die Scheinwerfer huschen mit ihrem Licht nicht weiter, sondern behalten einen Fleck des Ufers in der Ferne im Auge, sie werden starr, während das Schiff sich bewegt, dreht, vorwärts gleitet. Größer und größer wird der hellgraue beleuchtete Fleck, wie unter einem Fernrohr, das man mit ruhiger Hand in die richtige Distanz einstellt. – Ich sehe: eine kleine Gruppe von Häusern steht dort, nahe beim Wasser, sie sehen anders aus, diese Häuser, als die Blockhütten in der Wildnis hinter uns. Vier, fünf kleine saubere Häuschen stehen in einer Reihe da, hinter der hellgrauen Laubkulisse. Jedes steht in einem Gärtchen, und in den Fenstern brennen Lichtfunken rötlich im Grau. Zwei rötliche Punkte schwingen auch vorne beim Wasser. Eine kleine Gruppe von Menschen steht dort, einer hat die beiden Laternen in den Händen, mit denen er uns das Signal durch die Nacht gegeben hat: Passagiere an Bord nehmen!

Wir sind ganz nahe, und plötzlich sehe ich am Ufer, auf einer Tafel, gerade unter meinem Kajütenfenster den Namen der Station: Renata. . . .

Da erinnere ich mich: Renata, so hieß der Ort, von dem mir, vor Wochen, der alte liebe Reverend Hansen in Altona, Manitoba, sprach. Eine kleine Kolonie evangelischer Deutschen hat ihn gebeten, ihrer neuen Niederlassung in Britisch-Kolumbien einen Namen zu geben; und er hat sie, nach seinem jung verstorbenen Kinde, Renata getauft.

232 Diese Häuschen, die so fremd daliegen in der Nacht, mitten im Urwald, dies ist der deutsche Ort Renata.

Schon suchen die Scheinwerfer andre Ufer. Hinter uns, in der Finsternis, sind die roten Lichter in den Häusern deutlich zu sehen, die beiden kleinen rötlichen Laternen schwanken jetzt auf jene schüttere Lichterreihe zu. Zwei Menschen gehen draußen an meinem Kajütenfenster vorüber, aber ich kann nicht hören, in welcher Sprache sie miteinander reden. –

Ein paar Wochen später lese ich, in San Franzisko, in einer englischen Zeitung Einzelheiten über den Selbstmord Helene von Dönniges'. Es steht kein Datum genannt, und ich kann mich nicht genau entsinnen, an welchem Tage ich über den Pfeilsee gefahren bin.

 


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