Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Der Canyon, der Göttergarten und der Vitagraph

Die Naturkräfte, d. h. Ressourcen, und die Naturwunder dieses Landes stehen im Einklang mit seiner Ausdehnung und Peripherie. Die Niagarafälle – ein See stürzt in den anderen hinunter. In dem Canyon, dem 261 Abgrund, den der Coloradostrom in den Staat Arizona gerissen hat, ist aber Raum für noch einen, mit dem Kopf nach unten drüber gestülpten Staat des großen Amerika.

Zwischen der Sierra Nevada Oregons und Kaliforniens und dem Felsengebirge, das von oben her aus Kanada über Wyoming, Montana und Colorado herunterrollt, bis es in Neu-Mexiko sich verliert, liegt die Mojave-Wüste, ein ausgetrocknetes Meer, berühmt um die Klarheit seiner Atmosphäre willen. Keiner, der Bescheid weiß, versäumt es, bei Flagstaff zumindest aus dem Waggonfenster zu blicken, nach der Richtung hin, wo Percival Lowell, der Erforscher Asiens und des noch älteren Mars, in seinem Observatorium sitzt. Von hier kommen die großen Tagesneuigkeiten her, die sich draußen in dem Weltall ereignen, Nachrichten über Eklipsen, politische Nachrichten vom Planetensystem. Ein neugieriger, ungefragter Erdenwurm grübelt da im gelben Sand und sucht in seinem erleuchteten Hirn nach einem Reim auf die größten Dinge zwischen Himmel und Erde.

Nicht weit von Flagstaff, nördlich von der Station Williams, am äußersten nördlichen Rand von Arizona, liegt der Canyon des Coloradoriver. Man kommt auf der Coconino-Ebene an und sieht hinüber nach der Kaibab-Ebene. Zwischen diesen beiden auf fast gleichem Niveau gelegenen Plateaus starrt ein Abgrund. Manche von den Bergen, die tief unten in diesem Abgrund ihre Zinnen in die Höhe strecken, sind, wie zuverlässige Geometer festgestellt haben, 6000 Fuß hoch, keiner erreicht mit seinem Gipfel das Niveau des Plateaus. Als sähe man sich die Schweiz bei Maloja in einer Schlangenmenschpose umgekehrt durch die Beine hindurch an, so etwa sieht der Canyon aus. Ein Brett von Plateau zu Plateau würde fast wagerecht daliegen, aber es würde einem ein bißchen schwindlig werden vom Anblick der Kuppen, Zacken, Zinken, Türme und Kegel im Hinübergehen. Man fühlt die Vorstellung in sich aufsteigen: hier hat der Höllenhund mit dreifachem spitzen Hundegebiß ein Stück Erde 262 aus dem glatten Erdball herausgebissen. Blutig und zerfleischt starrt das Erdinnere den Zuschauer oben auf dem Plateau an, wie eine offene Frucht.

Der Canyon, abends

Den Bergen dort unten hat man Namen gegeben, die sich auf ihre Formen beziehen. Es gibt einen Zoroastertempel, einen Apollotempel mit dorischen Säulen, jede fünfmal so hoch wie das Straßburger Münster, eine Burg Monsalvatsch, eine Cheopspyramide, einen flachen Hexentanzplatz auf einem viereckigen Würfel, zu dem man nur aus der Luft hinunterkann, sogar ein Kriegsschiff modernster Konstruktion, und das so heißt. Nur die armen Indianer (gewiß hat die Flut Tausende ihrer Wigwame fortgerissen und mitgespült) haben keinen einzigen ihrer geheimen Namen für diese unterirdischen Gebirge durchsetzen können.

Der Abgrund, den man da vor und unter sich sieht, ist stellenweise 8000 Fuß tief; von Coconino bis Kaibab nur dreizehn Meilen breit; wenn man aber die Arme seitwärts ausstreckt, so weisen die Fingerspitzen auf eine halbmondförmige Längsdistanz von 200 und einigen Meilen. Er wäre nicht halb so schaurig, wenn nicht die grellsten Farben, rot, hellgrün, gelb und bläulichbraun sich, wie mit dem Lineal gezogen, über diese ganze unterirdische Schweiz dahinzögen. Ein Kegel hat eine gelbe Kappe, einen blauen Rumpf und ein rotes Gesäß. Neben diesem Kegel ist Luft, graues Geklüft tief dahinter, mit dem unsichtbaren Strom in der Tiefe. Sieben Meilen weg beginnt ein eckiger Klotz oben gelb, wird in genau gleicher Höhe wie der Kegel blau und geht dann ins intensivste Rot über, das unten in nebelähnlichem Schmutzgrau versinkt. Auf diesem Dreiklang baut sich die ganze Farbenorgie auf.

Aus den Broschüren, mit denen der Reisende bombardiert wird, wär's ein Leichtes, gelehrte Dinge und Namen der Formationen herauszuschreiben. Dankbarer ist es, sich an den Sonnenuntergang zu erinnern, dessen Schatten die Farben verändern, die Konturen verwandeln, Figuren, die leben, aus baren Felsenwänden heraustreiben, in glatte 263 Felsenwände Höhlen, Grotten schlagen, Inschriften aufzeigen, die nur das Gottesauge entziffert und die dem Menschen nur sein Nichtswissen in einer einfachen Lösung vorzeichnen – über den langsam, langsam sich verdunkelnden zweihundert Meilen weiten Götterwitz. –

Im Hintergrunde: der Canyon

Notizen: eine Fingalshöhle in den Lüften wird auf einmal ein toskanisches Felsennest. Aus einer roten Stadt erhebt sich eine schneeweiße Kathedrale. Ein Berg in der Nähe trägt die flachdächige Stadt Tunis auf seinem Rücken. Sie schmilzt aber zusehends zusammen, zu einer zickzackförmigen Terrassenzitadelle, die nicht mehr auf dem Berg, sondern in einer ausgekratzten Höhle wie ein Basrelief daliegt. Auf einer polierten Mauer von tausend Fuß im Geviert erscheinen, wie die Sonne ein bißchen nach links weitergeht, assyrische Menschengestalten, die mit fabelhafter Geschwindigkeit ihre Köpfe vertauschen, mit den Knien wackeln wie Komiker, die Zungen herausstrecken, mit Armen und Rumpf von rechts nach links 264 oder von links nach rechts »müllern«. Die Zugspitze steht plötzlich zwischen zwei Kegeln, die sich verdunkelt haben, grell beleuchtet da, den Kopf nach unten. In den Zoroastertempel kommt Leben. Dunkle Fühlhörner strecken sich aus ihm aus nach den Tempeln der anderen Religionen. Es dauert nicht lange, und der Apollotempel mitsamt dem Monsalvatsch haben sich mit ihm zu einem Bund vereint, aus dem eine große gemeinsame Finsternis sich über alle Nachbarhöhen erstreckt, sie rasch auffressend. Die Bogenschützen, die Keilinschriften, die Rodinschen Unzuchtspaare, die von Michelangelo gemeißelten Figuren des Weltuntergangs, die sich lüstern streckenden und streckenden Steinpanther der Apokalypse verschwinden rasch in der von links nach rechts durch den Abgrund ziehenden Nacht. Aus ist die Vorstellung im Amphitheater des Canyon. Und die Menschlein, die heim ins Hotel El Tovar ziehen, finden dort den Eintrittspreis, wie sich's gehört, tüchtig in Dollar und Cent umgerechnet. –

 

In der Hotelhalle liegt ein Buch, darein die Völkerscharen, die hier vorübergezogen sind, ihre Eindrücke, Gedanken und Empfindungen geschrieben haben. Auf der Höhe meiner Sendung durchstöbere ich dieses Fremdenbuch nach charakteristischen Äußerungen der amerikanischen Bürgerseele.

Lobpreisungen der Vorsehung überwiegen. All diese Americanos führen ihre Bibel mit sich, das ist gewiß, sonst könnten sie Bibelstellen und Psalmen nicht so richtig zitieren. Gelehrte Leute aus der Intelligenzstadt Boston äußern sich im Sanskrit. Bewohner der Sonderlingsstadt Los Angeles lassen sich im Esperanto, mit Zitaten aus Omar Khayyam, Whittier, Goethe, Shelley und Mrs. Baker Eddy hören. Enthusiastische Leute aus Texas und Louisiana ergehen sich in patriotischen Expektorationen, viele haben eine Spitze gegen Europa und zischeln: Amerikaner, seht euch doch erst euer eigenes Land an, eh' ihr hinübergeht!

265 Einer nur hat einen vernünftigen Gedanken beim Hinunterstarren in den Abgrund gehabt. Er hat den lapidaren Ausruf ins Hotelbuch eingeschrieben:

»O Hell,
where is the Bottom?
«

Bis in den Schlaf hinein verfolgt einen das Bibelzitieren. Hinter der dünnen Wand diskuriert der Nachbar vor dem Zubettegehen mit seiner Ehefrau. Sie fragt nach Geologie, und der Gatte antwortet in den Pausen zwischen dem Gurgeln mit Theologie. Dann legt er sich mit einem Krach zu Bette und lobsinget noch eine Weile dem Herrn. Die Ehehälfte hat schon, müd von der abenteuerlich scharfen Luft und den Erfahrungen eines langen Ehestandes mit einem resignierten Schnarchen begonnen. Das kann gut werden!

Bald fängt auch der salbungsvolle Schafskopf mit Schnarchen an. Während ich den Kopf tief in die Daunen presse, denke ich an die bodenlose Grausamkeit der Natur da draußen. An die Tausende von unschuldigen Indianern, von Menschen und Vieh, die ihr Ende gefunden haben; an die unerbittliche Gegnerschaft des Fließenden gegen das Feste. Und wünsche mir, der Abgrund neben dem Haus möchte doch nicht so tot und stumm daliegen, sondern lieber wie ein riesiger Wasserfall rauschen und tosen, damit ich das Schnarchen nebenan nicht eine ganze lange Nacht zu hören brauchte!

 

In den »Garten der Götter« fahre ich von Colorado Springs, oben bei Denver, auf Onkel Jimmys Buggy. Onkel Jimmy läßt mich nicht in Ruhe. Schon in der 266 Stadt muß ich alles mögliche über Pikes Peak hören, der in schneeiger Glorie vor uns liegt, allerhand Weisheit, für die Touristen zusammengebraut und durch die jahrzehntelange Zungentätigkeit des alten Kutschers abgeschliffen und abgewetzt.

Im Garten der Götter
Vorn der Vitagraph-Cowboy, hinten der Verfasser.

In der Nähe des »Göttergartens« fangen die Vergleiche an. »Look: sehen die beiden Felsen dort nicht aus wie zwei Kamele, die sich küssen?« »Allright, Jimmy, laß sie sich küssen.« »Look: das dort ist der Löwenkopf, das dort ist der Bär, jetzt sehen wir die Kathedrale, jetzt den Seelöwen, den Frosch, jetzt Montezuma . . . All dies, Siree, ist aus der Zeit dageblieben, wie Pikes Peak noch eine Insel im Meer war und »später« hat eine vulkanische Geschichte die Felsen da in die Landschaft hineingepflanzt.«

»Git ye up, alte Mähre, kitzle sie, Onkel Jimmy, damit wir die Karawane dort vorne einholen.« Der Alte spuckt seinen Tabak durch die Luft: »Giddiap!« und bald darauf holen wir die Reiter und den Wagen vor uns ein.

Der Göttergarten ist ein Garten aus kurios geformten Felsen, roten, grünen und grauen, die da ohne Grund und Ziel mitten auf der Hochebene unter den Rockies von Colorado herumliegen. Um im Vergleich zu bleiben: der Höllenhund, der zwei Tagereisen weit im Westen das Stück aus dem Staat Arizona herausgebissen hat, hat einiges davon hier über den Staat Colorado ausgespuckt, und da gibt es also ein Naturwunder mehr anzustaunen.

Die Karawane vor uns hält. Ein junger geschminkter Cowboy und ein junges hübsches geschminktes Mädchen lehnen sich vorsichtig an einen Zaun und äugeln miteinander. Im Hintergrund funkelt Pikes Peak, und die Köpfe der beiden, die sich soeben vor dem großen grauen Leierkasten des Vitagraphs augenscheinlich ineinander verlieben, sind genau auf den Felsenweg eingestellt, die klotzigen roten Riesen, die das Tor des Göttergartens vorstellen.

Der Regisseur, Herr Rollin Sturgeon, der die Menschenseele wie die sichtbare Natur mit Hinblick auf 268 kinematographische Wirkung studiert und ergründet hat, souffliert dem Paar: jetzt lächelt, bitte jetzt zögernd eine Hand auszustrecken, bitte jetzt einen Grashalm vom Boden zu reißen und ihn langsam durch die Zähne zu ziehen.

Eine Wolke erscheint links unter Pikes Peak, und die Szene muß wiederholt werden, damit die Wolke mit auf das Bild kommt.

»Now, business!«

Der Mann hinter dem Leierkasten dreht die Kurbel, langsam schleicht die Wolke vorüber, und die Liebesworte der beiden, die nur berufen sind, die Distanz zwischen den Gebärden zu bestimmen, ertönen aufs neue. – Krach! Etwas ist im Kasten geschehen. Dam'it! die Wolke ist pfutsch! alles muß von vorn angefangen werden. Das Liebespaar schimpft, der Regisseur ist wütend, nur der Leierkastenmann, das Felsentor und die Wolke sehen gleichgültig drein.

Im Hintergrund voltigiert »Adlerauge«, der Halbblut-Apache auf seinem Vollblutpferd herum und macht den Mitgliedern der Truppe, die in dieser Szene der Tragödie »Das Herz eines Mannes« noch nichts zu tun haben, halsbrecherische Kunststückchen vor. »Adlerauge« hat zwei richtige Zöpfchen rechts und links von seinem roten Gesicht niederhängen. Er verdient als authentischer Kinematographenapache mit Zöpfchen 40 Dollar die Woche. Ohne Zöpfchen würde er bloß zehn verdienen. Wie ich ihn nach seiner Squaw frage, antwortet er, seine Squaw sei eine Fraw und stamme aus Leipzig. Die ganze Gesellschaft, fünfzehn Leute, reist nach dem Canyon, wo angesichts der Cheopspyramide und des Monsalvatsch eine Eifersuchtsszene stattfinden wird, von dort aber nach Los Angeles, wo der Stille Ozean den Hintergrund für eine gefährliche Eskapade hergeben muß.

Durch den Garten der Götter reise ich mit diesen unwahrscheinlichen Menschenkindern. Vor dem Riesenpilz liegen sich Tom und Phoebe in den Armen. Dann zieht 269 sich Phoebe hinterm Riesenpilz eine andere Bluse an und kämmt sich die Haare in die Stirn zum Zeichen, daß ein Monat vergangen ist. Szene sieben spielt an derselben Stelle vor dem Riesenpilz, der Dialog aber heißt:

»Why, Tom, dont be silly! Marry you, a common cowpuncher? Well never, my life!«

»So – hast du – mit mir nur gescherzt? O! O!«

»Well, Tom, you never had a girl flirt? O dont be foolish, my boy!«

Hundert Schritte weiter ertönen Worte des Hasses, hundertfünfzig Schritte weiter Worte der Hoffnung, noch fünfzig Schritte weiter sind es Worte der befriedigten Rache, alles sehr gut gesprochene, ausgezeichnet gemimte und fürstlich bezahlte Worte – eigentlich habe ich gar nicht das Gefühl, als würde diese aparte und einmal und auf Nimmerwiedersehn vor meinem Auge auftauchende Landschaft durch die now-business!-Romantik profaniert dahier.

Allenthalben ist jetzt ein groß Geschrei zu hören: hie Theater, hie Kinematograph. Als ob man dem Kinematographen die gut gemimten Leidenschaften mit der echten Landschaft dahinter nicht tausendmal lieber glaubte als dem Theater das ungeschickt gewählte, aber hörbare Wort vor gemalten Kulissen! Von einem geliebten Menschen gibt mir eine gute Photographie mehr und Näheres als die Sudelei eines »eigenartigen« Porträtisten. Überhaupt weiß ich nicht mehr, wo die Grenzen von Natur, Reproduktion und künstlerischem Neuschaffen gelegen sind. Wenn mir Einer oder Eine Dinge im Affekt ins Gesicht schreit, die mich angehen, so kann ich mich bei dem Gedanken ertappen: der oder jener Schauspieler macht das besser! Steh ich zum erstenmal vor einer hundertmal auf Photographien bewunderten Landschaft, so mag's kommen, daß ich resigniert und naserümpfend konstatiere: es war wieder nichts. Meine Romanlektüre dagegen beziehe ich mir am liebsten aus dem Kriminalgericht in Moabit. Im übrigen ist unsre Zeit heute im 270 Erfinden vollkommenster Reproduktionstechniken so groß, daß man wirklich nicht so ängstlich den Abstand der Emotion vom künstlerischen Mittel, das sie hervorruft, messen soll – da es sich ja um Dinge handelt, die man doch nicht selber erlebt. –

 


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