Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Zauber der Städte Britisch-Kolumbiens

Nur wie ein Reisender, der zu seinem Vergnügen daherzieht, will ich über die Städte an der Bucht des Pacific schreiben, nicht anders.

Über manches wäre zu berichten. Über das merkwürdige System der Single tax, der einfachen Grundrentenbesteuerung, die alle weiteren Steuern aufhebt und in sich schließt – dieses Ideal der Bodenreformer ist in Britisch-Kolumbien und im benachbarten Oregon durch die Tatkraft der für Henry George schwärmenden Stadtväter Wirklichkeit geworden. Über die märchenhafte Bautätigkeit, die die Stadt Vancouver, in der sich das System seit Jahren bewährt, hinauf in die vorderste Front der neuen Städte Kanadas geschoben hat. Über die fabelhafte Lage dieses einzigen Hafenplatzes müßte ich berichten, der, zwischen den beiden werdenden Hauptfaktoren der Pazifischen Küste, Alaska und Panama, den Handel der Küste mit San Franzisko teilen wird in kurzen Jahren. Vom Reichtum des Fabellandes Britisch-Kolumbien wäre zu berichten, von diesem Holz, Erz, Wild und Fischland vor allen anderen der Dominion. Von einer interessanten Bekanntschaft in Vancouver, einem preußischen Aristokraten, Herrn von Alvensleben, der zur rechten Zeit hierher 241 gekommen ist und auf ein Stück Papier eine anschaulich und verwegen in die Höhe gebogene Kurve zeichnet, die die Wertsteigerung aller in Britisch-Kolumbien investierten Kapitalien vorstellen soll. Daran knüpfend wäre vielleicht ein Wort über die angenehme Wertsteigerungskurve zu verlieren, die die Arbeit im gesunden Land der Single tax im Junkertum der Welt bewirken kann, wenn dieses sich zur rechten Zeit von der Armee, den Pferden und ähnlichen Beschäftigungen zu den Ländern des Erdbodens und der vorbeiziehenden Schiffe wendet. Und den Beschluß des »Zaubers« könnte dann ein Satyrspiel machen, in dem die verspäteten Nachzügler aus jenen Gefilden des Junkertums kläglich aufmarschierten, die die Legende von dem Glück, das einer der Ihren in Britisch-Kolumbien gemacht hat, in hellen Scharen an den Stillen Ozean herbeilockt, beständig und crescendo . . .

Aber wie gesagt, nur wie ein Reisender, der seinem Vergnügen nachjagt, will ich von den Städten an der kanadischen Bucht des Stillen Ozeans berichten, über die sozusagen penetrante Atmosphäre, die das Völkergewühl hier im äußersten Westen über die phantastischen Städte Vancouver, Westminster, Victoria ausbreitet.

Hier ist auf einmal ein neues Element in das schon im Osten erstaunlich wirkende Gemisch gedrungen. Zu den Völkern aus allen Teilen Europas und allen Ländern um das Mittelmeer herum, die über Kanada verstreut sind, schlägt sich in Britisch-Kolumbien die Masse der chinesischen, japanischen und der Hindu-Einwanderung und tönt das Bunte noch mit gelben und braunen Nuancen.

Wie die Südstaaten der Union ihre Negerfrage und die Oststaaten ihre Judenfrage haben, so fängt der kanadische Westen an, seine Chinesenfrage zu bekommen. (Die Union hat bekanntlich die Einwanderung aus Japan und China vor einigen Jahren in kategorischer Weise geregelt.)

Die Chinesen sind, wie ich auf Farmen und Fabriken 242 im Westen hörte, die anständigsten, solidesten und auch gesuchtesten Arbeiter. Die Hindus, die meist in den niedrigsten Berufen, in Sägemühlen, beim Bahnbau verwendet werden, gelten als langsame, apathische und darum trotz ihrer Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit wertlose Arbeitskraft. Die auch danach entlohnt wird! Die Japs sind unbeliebt. Sie verrichten ihre Arbeit tüchtig und flink, gelten aber als Spione, und der weiße Farmer und Arbeitgeber ist froh, wenn er den Japaner los ist. Die Chinesen aber sind die Musterarbeiter. Obzwar sie sich mit allen Jobs zufrieden geben, die sich ihnen bieten, sind sie in ihren Lohnforderungen gar nicht anspruchslos und verderben darum den Arbeitsmarkt durch Unterbietung nicht auf die Weise, wie es im Osten die Italiener, Syrer und Slowaken tun. Für ihren guten Durchschnittslohn leisten sie viel sauberere und reichlichere Arbeit als welcher Weiße immer.

Langsam sickern sie in das Städtebild Britisch-Kolumbiens als ein wesentliches Element ein, in manchen prosperierenden Städten, dem hübschen Victoria zum Beispiel, haben sie sich sogar schon im besten Geschäftsviertel der Stadt dauernd und extensiv niedergelassen.

Meine lieben Reise- und Hotelgefährten, ein junges kanadisches Ehepaar, das ich von Banff bis Seattle an jedem Ort meines Aufenthaltes wieder gesehen und genossen habe, zitieren mir in Vancouver Kiplings Vers:

»O East is East and West is West,
And never the twain shall meet!
«

den Vancouver so gründlich widerlegt durch das Wesensgemenge seiner Bevölkerung. Und wirklich, das Leben in einer dieser Städte an der Meerenge von Georgia und San Juan de Fuca, an einem Feierabend, wenn die Massen ins Freie strömen, bietet ein bewegtes Bild, das man lange nicht vergessen kann!

Aus den Urwäldern im Norden, aus den lebenden Kathedralen der Douglas-Zedern, der Hemlocks, Föhren und Tannen sind große, wilde Menschen hergekommen, wie 243 von der Mimikry rissig und zottelbärtig gelbgefärbt, Holzfäller in braunen Hemden und Schaftstiefeln, an die die Eisenstacheln geschnallt sind, die ihnen beim Indiehöheklettern dienen. Feine Lords eilen mit ihren Ladies durch die Straßen, vom Hotel in die Theater, wo Lieblinge Londons und Newyorks Stücke vom Strand und vom Broadway aufführen. Eine Gruppe von Hindus geht, ganz langsam, mit verschleierten Augen und schweigenden, langbärtigen Gesichtern durch die hastende Menge. Sie sind ganz europäisch gekleidet, diese Leute, aber unter dem rosa oder hellgrünen Seidenturban sitzt der blau eintätowierte Stern ihrer Kaste zwischen den Augenbrauen. Ein tolles Abenteurergemisch von konfiszierten Berliner, Wiener, Pariser und Budapester Gestalten schiebt sich und gestikuliert an den Straßenecken, vor den Agenturen der Bahnen und den kleinen Winkelbureaus, wo die Börsenkurse in den Fenstern hängen, hin und wieder; die Pools, die Billardsäle, öffnen sich weit auf die Straße und verflüchtigen sich in dunklen Hinterhäusern zu gefährlichen Spielzimmern, Wett- und Würfelverließen. Die Heilsarmee zieht mit Donner und Gloria, es ist Samstag, durch die Gassen, ihre Gesänge, Trommeln und Verzückung begegnen an der Ecke der großen Handelsstraße einem Wagenzug der Suffragetten, aus dem Zettel in die Menge, auf die Hüte der Leute und die Trommeln der Gottesschar fliegen. Alle Rechte der Erde und des Jenseits wirbeln an der Ecke vor dem Bahnhof in einem betäubenden Höllenspektakel zusammen, die Automobilhupen der rasch dahinfahrenden und rasch reichgewordenen Spekulanten bellen ihr reales Gebell mitten in den Trubel hinein.

Aber hinten, wo das Meer zwischen den kleinen abschüssigen Gassen in der Tiefe durchschimmert, dort wo das nächtliche Feuer der verkohlenden Abfälle von der großen Lachsfischerei schwelend zum Himmel aufsteigt, dort ist eine viel stillere, leisere Welt, eine lichtscheue, sanft auf Filzsocken dahinhuschende, lispelnde, 244 unergründlich unheimliche Welt von dünnen, seidenen, übelriechenden Wesen. In gestickten Röcken und mit Zöpfen huschen Männer vorüber, ihre geschlitzten Frauenaugen funkeln tückisch durch die Finsternis. Aus engen, schmutzigen Treppenhäusern huschen und huschen sie auf die Gassen heraus, still und heimlich wie Ratten des Rinnsteins, huschen auf ihren Filzpantoffeln in verhängte, scharfriechende Spezereiläden, wo unter reichvergoldeten Schnitzereien, die die Wände schmücken, Tonnen mit allerhand ekelerregenden Leckerbissen stehen: Hammeleingeweide, Seepferde, Walfischflossen, Quallen, Honigkuchen und andere Unsagbarkeiten. Zwischen den Tonnen sitzen an langen Pfeifen lutschende Kerle um einen Tisch herum und spielen ein wildes Glücksspiel, mit Triktraksteinen und Würfeln, das berüchtigte Fon Hong, auf das eine hohe Strafe in den Gesetzbüchern des Landes steht. Aufgequollene Chinesenweiber watscheln in flatternden Seidenhosen und hellen, reich mit dunklen Ornamenten verzierten Seidenblusen herum, entsetzliche, eingeölte Pagoden, die Brüste dreimal so breit als die Beine lang, hinter sich ziehen sie liebliche und aparte Miniaturhöschen und Zöpfchen und Blüschen her, in denen kleine gelbe Chinesenkinder stecken.

Aus einem Haus mit einem großen chinesischen, aus elektrischen Lichtern gebildeten Buchstaben tönt ein schriller Lärm heraus, synkopierte Töne, Gekreisch und Geklopf, Holz und Menschenlaut und Horngetute. Dies ist das chinesische Theater.

Ein kleines Orchester sitzt hinten auf der Bühne, die keine Kulissen hat, sondern ein Podium mit allerhand herumstehenden Möbelstücken, kostümierten und nichtkostümierten, schwätzenden, agierenden, rauchenden, spuckenden und gestikulierenden Menschen ist. Die Musikanten schlagen mit Holzklöppeln auf Holztonnen los; ein Schalmeibläser tutet, daß einem die Zähne davon wehtun; ein Kerl mit einer Kniegeige zwischen den Beinen fiedelt auf einem einzigen Schafsdarm eine Melodie 245 daher, die eine fünftausend Jahr alte Tradition hinter sich hat. Der Kerl ist schon ganz blödsinnig von seinem eigenen Gefiedel, und sein Kopf fliegt, wie vom Veitstanz geschüttelt, auf seinem dürren Hals herum.

Der Rhythmus ist ungefähr: tattata-tih-titti-tatta-tohtohtohh! Ich werde das, wenn ich in Berlin ankomme, einem kompetenten Musiker vorspielen.

Das Parkett ist voll von schwatzenden, entsetzlich stinkenden Kulis. Sie schieben sich Kürbiskerne zwischen die schwarzen Zähne, rauchen Knaster und kommen und gehen während der Vorstellung. In einer Loge sitzt eine Dame, eine Engländerin. Ihren Schleier hat sie längst nicht mehr umgebunden, jedermann weiß, weswegen sie im Theater sitzt. Alle die Abende, die ich im Theater bin, sehe ich sie in ihrer Loge sitzen. Sie ist wegen des jungen Schauspielers da, der eine der Frauenrollen spielt. Er stelzt mit graziösen Bewegungen, Getue und Genicke, mit wundervollem Spreizen und Aufschnellenlassen seiner langen weißen Hände auf der Bühne hin und her. Mit hoher Fistelstimme singt oder spricht oder gurgelt er eine endlose Melopöe zum Takt der Musik. Er ist ganz weiß geschminkt, hat lange weiße und hellgelb ornamentierte Seidengewänder und eine schwarze Weiberperücke, mit einem Diamanten vorn auf der Stirn. Der alte Vater, ein würdiger Mandarin in herrlichem Schwarz und Lila-Goldbrokat, erscheint mit Gefolge. Er streicht über seinen ellenlangen weißen Bart, dessen Enden er als Begrüßung und Zeichen der Ehrerbietung mit beiden Händen dem Publikum entgegenhält. Ein Dialog im selben synkopierten Rhythmus folgt, mit fragend kadenzierten Takten, die die Fistelstimmen, ohne Leidenschaften zu verraten, vortragen, die Handbewegungen sind edel, und das Ganze ist, um die Wände in die Höhe zu klettern. Herrliche und aberherrliche Gewänder erscheinen, mit kadenzierten Fistelstimmen drin. Die Stücke sind der Geschichte entnommen, haben so gut wie gar keine Handlung, dauern sieben 246 Wochen lang, und alles in ihnen geht inwendig, in spitzfindigen und langweiligen Dialogen vor, auf die kein Mensch unten im Parkett hört. Nur, wenn der Komiker, ein zerfetzter Kerl mit einem weißen Strich über die Nase, der immer Haue kriegt, erscheint, horchen die Kulis eine Weile hin und schwätzen dann weiter, wenn's oben wieder ernst und edel geworden ist.

Draußen vor der Stadt, dort, wo sich der Meeresarm um den Stanley-Park herum nach False-Creek zu herumbiegt, wartet eine Gruppe von Indianern auf das Schiff, das sie hinüber nach ihrer Reservation bringen soll. Männer, Frauen und Kinder liegen, schlafend oder leise miteinander schwatzend, auf dem nackten Boden, in ihren schmutzigen bunten Trödlerkleidern sehen sie von ferne aus wie unsere europäischen Zigeuner. Sieht man sich aber die Leute aus der Nähe an, so sind es Mongolen. Das sind nicht mehr die herrlichen scharfgeschnittenen Köpfe und kühnen Augen des Prärieindianers; olivenfarbige Backenknochen sitzen in den ockerfarbigen Gesichtern, bestialische Stupfnasen unter triefenden Schweinsaugen. Japaner und Mandschus scheinen diese Rasse zusammengemanscht zu haben.

In einer stillen Nebenstraße der Stadt steht, wie ich auf meinen Schleichwegen vorüberkomme, eine dunkle Menschenmasse, unbeweglich an eine Mauer gepreßt, beisammen. Es ist eine große Familie, ein ganzer Indianertribe, der da in der düsteren Dämmerung bei der Mauer steht. Auf der anderen Seite der Straße ist die Polizeistation, und hinter einem der vergitterten Fenster im ersten Stock sitzt, in heller Jacke und mit einer Haube auf dem Kopf, eine vom Stamme da drüben.

Männer, Weiber, Kinder, Greise und Greisinnen flüstern leise und beklommen miteinander bei der Mauer, schauen zu dem vergitterten Fenster im ersten Stock hinauf und flüstern dann weiter, leise und beklommen. Ihre schmutzigen Gesichter, die die Laterne drüben vor der Polizeistation bescheint, sind ganz verzerrt von Traurigkeit.

247 Ein paar rohe Straßenbengel, Weiße, gehen vorüber und johlen etwas Unanständiges zum Fenster hinauf. Die Gefangene rührt sich nicht. Das Gesicht auf die Hand gestützt, sitzt sie da beim Fensterbrett und schaut auf den tribe hinunter, zu dem sie nicht hinunter darf, weil sie etwas zuviel von dem verbotenen Feuerwasser sich unter ihre Stupsnase gegossen hat.

 

In dem Hafen aber – o dem Hafen von Vancouver, ist Leben zur Tages- wie zur nächtlichen Stunde. Ein großes graues Schiff hat schon dreimal gerufen, jetzt gleitet es, mit Lichtern in allen Kabinenluken, mit roten und grünen Lichtern auf Mast, Back und Kommandobrücke, langsam und ernst vom Pier weg und in den Hafen hinaus. Es ist der Alaskadampfer, da fährt er davon, hinauf nach den Inseln des Yukon, nach den Hafenplätzen Alaskas, nach dem Arktischen Meer. Keiner aus der tücherschwenkenden Menge hier unten, wo ich stehe, keiner aus der kleinen Menschengruppe dort oben auf dem Achter denkt an das Schiff, das da davon fährt, jeder hat einen, der davonfährt, einen, der dableibt, im Sinne. Nur ich denke an das Schiff. Mit versagendem Atem 248 schaue ich dem Dampfer nach, und meine Sehnsucht nach den Ländern dort oben zieht noch eine Furche ins Wasser hinter dem Dampfer her, der davonfährt.

Der Hafen von Vancouver

Ich taste meinen Paletot ab nach dem Büchlein, das ich in einer Tasche mit mir trage, nach meinem Reisebrevier, das mich seit Toronto begleitet hat, die ganze weite Strecke her bis nach dem Meer im Westen. Es sind die »Songs of a Sourdough« des kanadischen Dichters Robert Service. Ich brauche das Büchlein nicht aufzuschlagen, ich könnte die Worte im Dunkeln nicht lesen, ich weiß sie ja längst auswendig:

»There's a land, where the mountains are nameless
And the rivers all run, God knows where;
There are lives, that are erring and aimless
And deaths, that just hang by a hair;
There are hardships, that nobody reckons;
There are valleys, unpeopled and still;
There's a land – oh it beckons and beckons,
And I want to go back – and I will.
«

 


 


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