Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Die amerikanische Unruhe

Dem Andenken Alexander Jonas, Redakteurs der Newyorker »Volkszeitung«, eines edlen und aufopfernden Kämpfers für das Recht, geb. 14. März 1834 in Berlin, gest. 29. Januar 1912 in Newyork, sind diese Zeilen geweiht.

Im wunderbaren weißen Marmorkapitol zu Washington, D. C, sitzt unter der Kuppel des Kongreßsaales ein jovialer ältlicher Herr mit gutmütigem Bäuchlein und zuversichtigen grauen Augen hinter den gelehrten Brillengläsern. Es ist Victor Berger, der einzige sozialistische Abgeordnete, den die Vereinigten Staaten in ihren Kongreß geschickt haben. Er stammt aus Ungarn, ist seines Zeichens Lehrer, und Milwaukee, die deutsche Sozialistenstadt in Wisconsin, hat ihn dorthin geschickt, wo er jetzt sitzt.

Von Zeit zu Zeit steht der joviale Herr auf von seinem Platze und hält eine Rede zum Thema der Tagesordnung. Er verkündet, wie sich die Sozialisten Frankreichs oder Deutschlands zu dieser oder jener Vorlage stellen würden; was Marx, lebte er, oder Kautsky oder Bernstein, Jaurès, 376 Guesde oder Keir Hardie zu diesem und jenem Gesetzentwurf sagen würden. Die Demokraten und Republikaner hören den Vortrag aufmerksam an, Victor Berger ist ein konzilianter, allgemein beliebter Kollege, sie lernen jedesmal was, wenn er aufsteht, die Demokraten und die Republikaner, denn Berger ist ein gebildeter Mann, der daheim in Wisconsin Ersprießliches geleistet hat. Setzt er sich wieder auf seinen Stuhl zurück, so geht alles ruhig weiter, als habe eine Grille gezirpt in einer Voliere.

Übrigens ist es doch so gut wie egal, ob ein Sozialist im Parlament sitzt oder zwölf Dutzend. Die Paktiermaschine und Kompromißmühle, die das Parlament vorstellt, die Parteien, die scheinbar durch Reibung gegeneinander arbeiten, in Wahrheit aber das Korn des Parlaments mahlen, die absurde Vertretung der Interessen Aller durch Einzelne, wurde von denen, die das Korn der Zukunft mahlen, längst durchschaut und abgetan. Die Große Menschliche Dummheit läßt sich das Possenspiel gefallen, jeden Herbst bis zu jedem Sommer, macht sich aus ihren Dienern ihre Befehlshaber und Gesetzediktierer und vergißt die Komödie, durch die sie nasführt worden ist, immer wieder, wenn sie durch große Tiraden und Maueranschläge aufgerufen wird, für Die, die sie so und so viele Jahre lang angeführt haben, neue zu wählen, die sie so und so viele Jahre lang weiter anführen werden. Manch einer hat aus seinem Lexikon das Wort Evolution herausgerissen und sich dafür zum Wort Fortschritt ein Blatt mit eigenen Paragraphen und Gesetzen, die für ihn allein gelten, vollgeschrieben hineingeklebt.

Hier in Amerika liegt der Unterschied zwischen Evolution und Revolution, das fühlt man deutlicher, als wo anders immer, im Tempo des Lebens. Das hat der offizielle Sozialist unter der Kongreßkuppel vergessen. Das wollen die vielen ehrenwerten Männer nicht einsehen, die aus der Neuen Welt voll Bewunderung nach dem Frankreich Jaurès' und Millerands und dem Deutschland, das auf dem Wege von seinem Bebel zu einem Millerand 377 ist, hinüberlugen. Das sieht der sehr genau, der ein Auge auf die Schnelligkeit hat, mit der sich das kapitalistische System der heutigen Weltordnung in Amerika entwickelt, sich zu seinen letzten Konsequenzen, zu Trusten ballt, zu zehn, zu sechs, zu drei Namen konzentriert, bis in absehbarer Zeit der große Gott Mammon mit Einem irländisch oder schottisch klingenden Namen belegt, in unumschränkter Majestät allein von Wall Street aus die Welt beherrschen wird.

Gelegentlich dürfte es den akademischen Sozialisten, den Berger, Hillquit, Gompers angst und bange werden, wenn sie die Resultate betrachten, die in letzter Zeit die I. W. W., d. h. die »Industrial Workers of the World« erzielt haben und erzielen. An der Spitze dieser Bewegung steht die machtvolle und bittere Persönlichkeit William Haywoods, eines gewesenen Minenarbeiters, dessen Geschichte in der Chronik der Lohnkämpfe Amerikas Epoche macht. Die Bewegung der I. W. W. hat in ihren Grundprinzipien sowie taktischen Methoden sehr viel Ähnlichkeit mit denen der radikalen Syndikalisten des heutigen Frankreichs. Sie hat bei den großen Streiken der letzten Jahre der Arbeiterschaft positivere Dienste geleistet, als die opportunistisch zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern hin und her paktierenden Leiter der amerikanischen Arbeiterföderation.

Expropriierung der Truste durch den Staat, Schaffung einer industrialen Demokratie, das sind fromme Wünsche, die die Geldkönige des Landes ohne Aufregung milde belächeln. Etwas ernster schauen sie schon drein, wenn sich aus den harmlosen Reihen der Gewerkschaften plötzlich Männer der direkten Aktion herauslösen, wie die Brüder Mac Namara, deren Verteidigung und Rechtfertigung Haywood in einer historischen Rede in der Cooper-Union, Newyork, vor dem aufhorchenden Amerika unternommen hat.

Das wunderbare demokratische Grundbewußtsein Amerikas ist dafür verantwortlich zu machen, daß in den 378 Vereinigten Staaten der Sozialist und der Anarchist sich nicht als derart grimmige Feinde gegenüberstehn wie in Europa, sondern daß die Grenzen stellenweise ganz verwischt sind, auf alle Fälle die Revolte wichtiger erscheint als der Weg, den sie den Empörten vorwärtstreibt. Wenn der amerikanische Sozialist als ein Utopist beginnt, wie übrigens jeder, dem die Idee keine Ambitions-, sondern Gewissenssache ist, so hat er in seinem Lande weniger Anlaß, sich zu einem politischen Opportunisten zurückzuentwickeln, als in Ländern mit traditionellen Widerständen. Die Politik und die Politiker sind in Amerika vollständig in Verruf geraten; der altpuritanische Gelehrte und der Gentlemanfarmer aus Virginien sieht die Anarchistin Emma Goldmann lieber bei sich, bringt ihrer Persönlichkeit ein lautereres Interesse entgegen als den interessierten und anrüchigen Lobbyläufern zwischen Kongreß und Senat im Washingtoner Kapitol.

(Eine verblüffende Antwort habe ich mir in der lieblichen Stadt Chicago notiert. Sie wurde einem Richter von einem angeklagten Bordellwirt gegeben, den seine Beschützer, trotzdem er ihnen jahrelangen Tribut bezahlt hatte, schnöde im Stich ließen. Der Richter frug den Mann, nachdem dieser seine Geschäftsprinzipien unverblümt dargestellt hatte, von ungefähr: »Glauben Sie, daß es auf der ganzen Erde noch verworfenere Geschöpfe gibt, als Sie eines sind?«

Antwort: »Jawohl. Polizisten und Politiker.« Dieser Ausspruch eines Wissenden wurde in sämtlichen Zeitungen Amerikas, ohne Kommentar, abgedruckt.)

Typus des »Insurgenten«
Bildnisse von dreizehn fortschrittlichen Senatoren übereinander photographiert.

In diesem Lande der freien wirtschaftlichen Konkurrenz unterscheidet man lebhafter als drüben in Europa zwischen Gewerbe und Gesinnung. Das große Prinzip der Demokratie ist ja auch nur als eine Vorstufe gedacht, der Weg bis zur freien Gesellschaft der Zukunft stellt sich im amerikanischen Tempo kürzer dar, als im Trott Europas, das im Abschütteln, Aufladen und Wiederabschütteln so saumselig sich ansieht, von Amerika aus gesehn. Der 379 Mensch, dessen Ziel im Übermorgen ist, erduldet hier nicht den Hohn, der ihm dort zuteil wird, von Leuten, denen ihre Nasenspitze schon zu weit von ihren Augäpfeln liegt. Ich bin sicher, daß dem Kongreßmann der Typus Haywood größeren Respekt einflößt, als der im Rahmen der bestehenden Parlamentsmaschine mitarbeitende Typus Berger. Der relativ sympathischste Typus des Washingtonmannes ist der Insurgent, der Bastler an dieser Maschine, der noch an sie glaubt, aber mit den Resultaten ihrer Rotation äußerst unzufrieden ist und sie reformieren möchte. Die Heimat des Insurgenten sind die Mittelstaaten, zumal die stark von deutschen Elementen durchsetzten Wisconsin, Dakota, Minnesota und Iowa, in denen ja auch Berger und der populäre Senator Robert La Follette zu Hause sind. Hier sind Ansätze zu merken zu einer Reform des demokratischen Prinzips auf wirtschaftlicher Basis. Hier hängt als Haussegen über dem Bette des fortschrittlichen Deutsch-Amerikaners das prophetische Wort Bismarcks an Karl Schurz: die Probe auf die demokratischen Prinzipien Amerikas werde kommen, wenn – was unausbleiblich ist – in Amerika der große Kampf zwischen Arm und Reich angehen wird. Ich 380 glaube gern, was mir Berger sagte: die deutschen Sozialisten des amerikanischen mittleren Westens haben aus der progressiven Gesinnung der noch Unentschlossenen den Insurgentismus hervorgebracht. Nur muß ich immer wieder sagen, daß in einem toll rapiden Lande wie Amerika mit allen diesen im Grunde konservativen Übergangstypen weniger als nichts erreicht wird. Daß sie als Ballast am Fortschritt hängen, nicht als Hindernisse auf dem Weg der kapitalistischen Entwicklung liegen. Daß einem Extrem ein andres Extrem gegenüberstehen muß: der unaufhaltsamen Zuspitzung eines Systems der bis aufs äußerste zugespitzte Entschluß zum Umsturz.

Werte Freunde in Newyork, wie der verdienstvolle Moses Oppenheimer, erklärten mir, vor zehn Jahren habe noch in Amerika der Sozialismus als ein ausländisches, von Fremden, Deutschen und Juden importiertes Erzeugnis bei den Einheimischen in Verruf und Mißachtung gestanden. Seine großen praktischen Fortschritte aber, in der Organisation zum Lohnwiderstand, dies große amerikanische Wort: »to make good«, vorwärts kommen, habe in den zehn Jahren die Stellung des Amerikaners zum Sozialismus ganz und gar verändert. – Ist das eine so große Belobung, die man einer revolutionären Bewegung spenden darf? Es ist offenkundig, was der Amerikaner: Erfolg nennt. Und man kann es sich ganz leicht vorstellen, daß er nur der Sache Erfolg bereiten wird unter den heutigen Umständen, von der er direkt oder indirekt selber Profit ziehen, die es ihm selbst ermöglichen wird »to make good«, seinem Ziele näherzukommen. In diesem Sinne hat die Bewegung der I. W. W. keinen Erfolg in Amerika. Ihre schroffe Ablehnung jeglichen Feilschens stellt sie abseits von allen Möglichkeiten, mit ins Getriebe gezogen zu werden, die dem »making good« zustrebt. Die Tendenz der erfolgreichen Arbeiterföderation heißt: für gute Arbeit einen guten Lohn. Das könnte ebenso gut der Wahlspruch eines xbeliebigen bürgerlichen Dienerschaftsvermittlungsbureaus sein. Die I. W. W.-Leute 381 aber haben ihren Standpunkt so formuliert: Weg mit dem Lohn! Her mit den Produktionsmitteln und mir den Ertrag meiner Arbeit!

Die Zeit des gütlichen und friedlichen Übereinkommens, das die Gewerkschaften, über die diese Zeit schon hinübergesprungen ist, im Grunde bewerkstelligen, liegt weit hinter uns. Diese elende alte Hose verträgt keine Flicken mehr, auf den Mist mit ihr. Wenn die Methoden der I. W. W. erst »Erfolg« bei Amerika gefunden haben werden, dann wird eben Amerika dort angelangt sein, wo die I. W. W. es hin haben wollen. Aber dann wird das Wort »Erfolg«, das »making good«, auch ein neues Gesicht bekommen haben.

 

Im Amerikaner, dem die Subordination, der Militarismus nicht vom Mutterleib an eingebläut, eingedrillt wird, findet der Individualismus starken Boden vor, obzwar der Amerikaner, durch die Not des Wettbewerbs zu einem ewigen Sich-Anpassen, Nachahmen angehalten, noch nicht die Reife zu diesem Zustand erlangt hat. Allein, wer auch nur kurze Zeit hier herüben sich aufgehalten hat, muß staunend und ergriffen die maßlose, schon über alle Schranken schlagende Erbitterung bemerkt haben, die sich des denkenden, im atemlosen Lauf innehaltenden, sich besinnenden Amerikaners bemächtigen kann. Gegen dies mörderische Tempo, gegen diese Hetzjagd, die nur am Grabe innehält, gegen die ganze widersinnige Tollheit des Systems, denn es ist ein Irrtum zu glauben, daß man in Amerika jemals aufhören könnte zu arbeiten – sich mit seinem Erworbenen abseits zur Ruhe setzen könnte! Diese Eigenschaft ist dem europäischen, aber nicht dem amerikanischen Kapital zu eigen. Das Tempo fördert nur, solange man es mitmacht, im Augenblick, da man sich von ihm befreien will, zehrt es, vernichtet. Der Milliardär bleibt ein Sklave seines Geschäftes wie sein letzter Angestellter. Nur daß sein Zweck gegen die Allgemeinheit sich kehrt, indem er der 382 Allgemeinheit die Lebensbedingungen entzieht, bis zur Unerträglichkeit erschwert.

Der Amerikaner, der rascher die Spanne vom Streben zum Ziel durchläuft, bleibt auch in den Resultaten seines Denkens nicht bei der zunächst erreichbaren Etappe stehen. Und wirklich, es ist erstaunlich, wie viele Sozialisten, bewußte oder unbewußte, einem unter den Bürgern begegnen, wie viele Anarchisten unter denen, die sich noch für sozialistische Demokraten halten.

Physischer Typus des heutigen Amerikaners
Champ Clark, Speaker im Kongreß zu Washington

Die Herrschenden, d. h. die, die die großen Interessen in ihren Händen halten, und ihre Söldner, die Exekutiven, liebäugeln, um dieser wachsenden Unruhe zu begegnen, mit imperialistischen Tendenzen, Methoden der alten Welt, Herrenkult zu praktischen Zwecken. Möchten gern ein stehendes Heer besitzen (nicht um ihre Grenzen zu beschützen, natürlich, sondern um in die Streikenden hineinfeuern zu können!), schielen nach dem Katholizismus hinüber (dessen Jenseits sie gut brauchen können, um die Gegenwart erst tüchtig zu massakrieren!) und stoßen hypokritisch denselben Schrei wie die Revolutionäre unten aus: Fort mit dieser Staatsform! Nur daß sie es anders meinen, natürlich.

 

Nicht umsonst habe ich das Wort Unruhe vor dieses Kapitel gesetzt. Die treibende Unruhe ist es, aus der man sich hier herüben so vieles erklären muß.

Die Hast Amerikas ist keine simple Hetzjagd nach dem Dollar, das ist eine Verleumdung, begangen an dem in angestrengtester Weise arbeitenden Volk der Welt! Sondern der Dollar ist nun mal eben die gegenwärtige Münzeinheit, durch die die ungeheure Arbeit, die Amerika in seiner Hast fördert, bezahlt wird. Eines der größten Schimpfworte hier herüben ist, ich glaube dies schon einmal niedergeschrieben zu haben, das Wort: »slow«. Langsam! Der Indianer, der Neger, sind »slow people«, darum stürmt die Nation in ihrem mörderischen Tempo über sie weg, darum bleiben sie beide zerschunden 383 auf dem Wege hinter dem Amerikaner liegen. Aktivität ist das Wort, das dieses Land, das Rätsel dieses befremdlichen Landes erklärt, nicht Dollar. Die Pioniere sind es, die die Mythologie des Amerikaners bevölkern, nicht die Milliardäre. Die Wagemutigen und nicht die von diesem Wagemut profitieren. Kein Amerikaner, sofern er nicht als kompletter Idiot unter den Zeitgenossen figuriert, sieht in den großen Mäzenen und Mogwabs, dem Kunstsammler Morgan, dem Friedensapostel Carnegie, dem Sonntagsschulenvater und Prediger Rockefeller usw., was andres als: ängstliche, schuldbewußte Herren, die sich mit paar Millionen ein wenig Rechtfertigung und Sympathie erkaufen wollen. Die die zu große, das Geschäft beeinträchtigende Akkumulation des Geldes dadurch zurückdämmen, daß sie verhältnismäßig bescheidene Summen fernab von ihrem Geschäft in Zirkulation zu bringen suchen. Für Spielereien! Es läge nahe, den großen Mäzenen, Aposteln, Mogwabs das elende Los der »unskilled« d. h. der ungelernten Arbeiter vor die Augen zu halten, die sie in ihren Betrieben beschäftigen, die Not der Heime, die die unnatürlich emporgeschraubten, von den Trusten emporgeschraubten Lebensmittel und Gebrauchsmittel nimmer erschwingen können. Es läge nahe, den großen Königen des modernen Amerikas zu empfehlen, die Ventile für ihre Menschenbeglückung hier anzubringen – aber sie werden sich hüten. Lieber eine Million für eine dumme chinesische Vase hinauswerfen, für Friedenspalast-Stuckaturen oder Sonntagsschulenunfug, als dem elenden slowakischen Arbeiter einen Cent mehr pro Tag zuzuschanzen, sein Öl, Tabak, Fleisch, Eis um den Bruchteil eines Cents zu verbilligen. Sieh dir das Postament an, auf dem diese Kulturförderer ihre Unsterblichkeit errichtet haben: Menschengebein. –

Es gibt eine Erklärung für die Unruhe in den intellektuellen Kreisen Amerikas, der gebildeten Mittelklasse, die sich in ihrem Wohlstande vielleicht williger einlullen 384 ließen, als es die ausschließlich sozial interessierten Kreise vermöchten. Diese Erklärung kann man in die Worte fassen: man beginnt einzusehen, daß man mit all den riesigen Mitteln, die Amerika aufbringt und anwendet, Kunst nur kauft, aber selbst keine produziert. Darin steckt schon was Wahres. Und das amerikanische Tempo, dieses von der Tüchtigkeit und dem Machtbewußtsein bestimmte Tempo des modernen Amerikas, das den Europäer mit solchem Staunen und solcher Ehrfurcht erfüllt, hat darum seine grimmigsten Hasser und Feinde unter den Intellektuellen des großen Landes.

 

Die verwischten Grenzlinien! Von diesen muß ich noch kapitellang sprechen. Vom Staunen, das einen befällt, nimmt man erst wahr, wie sich die Grenzlinien zwischen häuslichem und öffentlichem Leben, Arbeit und Geselligkeit, Kirche und Literatur, Politik und Gottesdienst verwischt oder verschoben haben!

Ein liebloser und eingebildeter, oberflächlicher oder spottlustiger Europäer kann sich an den Rand seines eigenen Kontinents hinstellen und: »Snobs, Barbaren, Kinder, die ihr seid!« hinüberbrüllen nach dem Neuen. Solche wertlose Schafsköpfe kommen mit Überlegenheit geladen nach Europa zurück, auf dessen Kultur sie stolz sind, dessen irrsinnige politische Abstufungen und sehr genauen Grenzbezeichnungen sie ebenfalls als Kulturbeweise anschauen, und verhöhnen das halbwilde Volk jenseits des atlantischen Ozeans.

Sieht man genauer hin, dorthin, wo jene Grenzlinien gezogen sein sollten, so merkt man bald, daß sterile und verkümmerte Glieder des großen Körpers gerade durch die ungehemmte Infusion aus jenen benachbarten lebenstrotzenden aufleben, mittun. Daß ein und dasselbe Blut, im ungehemmten Tempo und Pulsschlag frei durch den ganzen gewaltigen untrennbaren Körper strömt. Daß das Gewissen sich nicht in ein privates und ein Geschäftsgewissen trennen muß, wie auf dem alten Kontinent. 385 Denn die Kultur des alten Kontinents verdankt ihre Existenz nur der verknöcherten Gewohnheit seiner Träger, den offensichtlichen Widersinn der staatlichen Einrichtungen und Formen zu ignorieren, zu tolerieren, oder ihn, wie einen widerlichen Bestandteil der Atmosphäre, die man seit dem Beginn seiner Tage bis zu ihrem Ende einatmet, einfach gar nicht mehr wahrzunehmen!

In einem vornehmen Klub, bei einem Bankett, konstatiert der letzte Redner, daß alle, die heute gesprochen haben, und es waren Männer und Frauen aus den obersten Gesellschaftsschichten unter ihnen, von der Revolution gesprochen haben. –

Eine werte Freundin beherbergt in ihrem reichen Newyorker Heim ein junges Kind von den streikenden Webern in Lawrence, Mass. Ich sage ihr: dies arme Kind hat jetzt gesehen und eine Woche lang genossen, was Reichtum ist und bietet, es ist für sein ganzes Leben verdorben, unzufrieden geworden! Meine Freundin sagt: ich habe in der Seele dieses Kindes die Revolte aufgepflanzt. –

In einer Gesellschaft von »cranks«, d. h. von ästhetisch Theoretisierenden, Lebensfragen graziös Zerfasernden und Erledigenden, steht ein tapferes junges Mädchen auf und macht in fünf Minuten aus den cranks tätige und positive Mitarbeiter an einer praktischen Reform, die an diesem Abend in Gang gebracht wird. –

Die Umwandlung beginnt zu Hause. – Was ist ein Dienstbote? Ich weiß es nicht hier herüben in Amerika. (War allerdings weder bei Morgans noch bei Vanderbilts zu Gast.) Ich habe nur gesehen, daß viele junge intellektuelle Menschen, die sich sehr wohl drei Dienstboten halten könnten und auch mit ihnen gut auskämen, es vorziehen, ihre eigenen Dienstboten zu sein – aus Scham über eine Gesellschaftsordnung, die die Trennung Herr und Diener sanktioniert. Ich habe die Wohnräume der amerikanischen Dienstboten gesehen, in denen sich Badezimmer, Empfangszimmer befinden, und habe von den 386 Hunderten von neuzeitlichen Einrichtungen gehört, die mechanisch dem Dienstboten die Arbeit erleichtern und ihn unmerklich der Existenzsphäre seiner Arbeitgeber näherrücken. Diese Einrichtungen sind, zumal in neueren Häusern, schon dermaßen vollendet, daß die, auch anspruchsvollere, Hausfrau sich ganz gut ohne Dienstboten behelfen kann – wenn sie gesonnen ist, ihrer Wirtschaft soviel Zeit am Tage zu widmen, wie die europäische Frau an die Pflege ihrer Fingernägel täglich wendet. – In Amerika hat die »Dienstbotennot« einen anderen Namen und verdient ihn, dazu müssen ein paar erläuternde Worte über die amerikanische Frau gesagt werden.

In Europa liebt man es, die amerikanische Frau nach den outriert aufgedonnerten, laut und prätentiös sich gebärdenden Exemplaren zu beurteilen, die dort auf der Straße, in Salonen, bei Hof herumlaufen.

Ich bin nicht gewillt, es so ohne weiteres meinem guten Stern allein zuzuschreiben, daß die amerikanischen Frauen, denen ich begegnet bin und die ich näher kennen lernen durfte, zum überwiegenden Teil tüchtige, d. h. für ein großes Ziel tätig wirkende Frauen gewesen sind. Ich meine damit nicht Aufbauschung von schlummernden Vierteltalentchen fürs Kunstgewerbe, Klaviergeklimper, Novellenschreiberei, bei der höchstens für die Eitelkeit etwas herausschaut, sonst für nichts. Sondern ich meine ernste soziale Arbeit.

Ich will gerne zugeben, daß ich in Amerika jene Kreise gemieden habe – wie ich es in Europa tue – in denen die oberflächliche, putzsüchtige, das sauer erworbene Geld ihres Mannes zum Fenster hinausstreuende und im Grunde infernalisch sich langweilende Gans zu Haus ist. Diese Spezies ist in der ganzen Welt zu finden, und mit keiner Versicherung macht man die Chicagoer Gans glücklicher als mit der, daß sie grad so schick angekleidet sei, sich grad so zu benehmen wisse und grad so zierliche Knöchel habe wie die Londoner oder Pariser Gans.

Im Berufsleben, im Geschäftsbetriebe, hat sich die 387 amerikanische Frau weitaus sicherer eingebürgert, hat sich die amerikanische Frau bei weitem besser bezahlte Stellungen errungen als die Frau Europas. Ihr Geschlecht dient dem Arbeitgeber, zumal in den Intelligenz erfordernden Berufen, keineswegs als Vorwand, ihre Lohnansprüche zu drücken. Sie tritt in den gleichen Wettbewerb mit ihren Mannkollegen.

Als Hüterin des Hortes der Kindererziehung in den Volksschulen, dieses allerwichtigsten Faktors im Leben des heutigen Amerikas, dieses felsenfesten Wegweisers nach den bunten Gefilden des Amerikas von Morgen, ist zudem die Frau die verehrte Trägerin der Zukunft des ganzen Landes. Wie Eltern geringer Herkunft ihren Kindern erhöhte Lebenschancen zu schaffen trachten, so trachtet das in harter Pionierarbeit herangewachsene Amerika, seiner jungen Generation hochgesinnte und edle Frauen zu Erziehern beizugesellen. Das Amerika von heute, seufzend unter dem tödlichen Widersinn seiner finanziellen und politischen Zusammenhänge, weiß recht gut, warum es die so wichtige Mission, seine Kinder heranzubilden, den Frauen übertragen hat.

Nach dem Typus der amerikanischen Lehrerin ist die amerikanische Frau zu beurteilen und nicht nach den gierigen Weibchen, die auf dem europäischen Kontinent verluderten Herzögen nachjagen.

 


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