Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Ein Tag in den Schulen Chicagos

Morgens um acht holen wir Miß Starr Kellogg, Aufseherin eines städtischen Schuldistriktes, aus dem »Hullhouse« ab und vertrauen uns ihrer Führung an auf 328 einem Rundgang durch die öffentlichen und privaten Volksschulen und durch Gewerbeschulen des westlichen Chicagos.

In der Gesellschaft dieser wundervollen Amerikanerin erlebe ich mit meinem Freund einen meiner großen amerikanischen Tage, einen Tag, dessen Gedächtnis wahrscheinlich sehr lange frisch und lebendig in mir sein wird. Rührung und Heiterkeit werden es frisch erhalten haben, Rührung und Heiterkeit waren die Zeichen dieses Tages, den wir in den Schulen Chicagos verbracht haben.

In der »Rowland«-Schule fangen wir mit den Kindergärten an, in denen die Kleinsten ihre Ringelreihen tanzen, mit glückstrahlenden Gesichtlein Sandhäufchen aufbauen, in die sie Indianerwigwame, Bäume und Büffel zwischen die Bäume pflanzen. Durch Säle geht unser Weg, in denen malen Kinder zierliche kleine Abbilder von allerlei Gebrauchsgegenständen mit farbiger Kreide auf die Tafeln. In einen Saal kommen wir, da analysieren sechs- bis siebenjährige Kleine eine Herbstlandschaft. Nacheinander treten Knäblein, Mägdlein vor die Lehrerin hin und nennen zwei Dinge, die ein »hübsches Bild des Herbstes« ergeben: eine gelbe Baumkrone und eine weiße Wolke dahinter, oder eine Krähe, die auf einem Stoppelacker sitzt, »gives a pretty picture of autumn«. Im nächsten Saal turnen Kinder vor einem offenen Fenster mit Rumpfbeugen Atem in sich hinein und aus sich heraus. Ah, wir sehen, aus dem Deutschland Fröbels und Pestalozzis kommen wir allmählich in amerikanische Regionen. In einem Saal, der fünfzig oder sechzig Kinder von zehn bis zwölf Jahren beherbergt, stoppt der Unterricht, wie wir eintreten. Auf Miß Kelloggs Geheiß erhebt sich die Klasse und trägt unisono die Ballade vom »Brand von Chicago« vor. Gesten begleiten die Worte. Die Worte fallen, einzeln und sauber artikuliert, wie Kristallkugeln von den reinen Kinderlippen. Dies sind fremde Kinder, Kinder russischer Juden, Böhmen, Griechen, Sizilianer. Die Lehrerin hört wie ein guter Dirigent aus dem 329 großen Orchester das Kind heraus, das ein Wort falsch ausgesprochen, eine Betonung auf der unrichtigen Silbe angebracht hat. Hier wird den Kindern all der fernen fremden Länder die Sprache des Landes, die mächtige englische Sprache, beigebracht. Hier wird das Werkzeug gebildet und geschliffen, das einige Säle weiter schon scharf und formidabel zu Diensten der erwachsenden Kinder steht, die sich bald seiner zu bedienen anfangen werden im Kampf ums Brot und die Freiheit.

Schön und sonor klingen die Verse vom »Brand von Chicago«. Auf und nieder stürzt der Rhythmus der Strophen. Ein Crescendo:

»Fire – Fire – FIRE!«

und auf den kleinen Gesichtern, die sich in die Höhe gewandt haben, brennt in kindlicher Erregung der Widerschein der flammenden Stadt!

Aber das Gedicht ist lang, und wir müssen weiter. Miß Kellogg läßt die Kinder niedersitzen, und jetzt müssen sie einzeln aufstehen, nach Nationalitäten, dann, um zu zeigen, wie viele noch in der alten Heimat, wie viele schon herüben geboren sind. Von den fünfzig sind nur zehn in Amerika geboren, die anderen kamen vor nicht langer Zeit. Zwei deutsche Kinder sind unter den fünfzig, die anderen sind Böhmen, polnische Juden, Litauer, Serben, Griechen, Irländer, Sizilianer. Wie sie alle wieder sitzen, tritt Miß Kellogg vor und ruft laut in den Schulsaal hinein:

»Und nun, Kinder, sagt, was sind wir alle?« Die Kinder springen auf, als wäre ein elektrischer Schlag in sie gefahren, die hellen Stimmen jauchzen und schreien und jubeln auf: »Americans!«

 

Eine Stunde des Unterrichts gehört im Stundenplan der Schulen Amerikas den »Civics«. Ins Deutsche könnte man das mit »Bürgerrechte« übersetzen. Einer solchen »Civics«-Stunde haben wir in der »Cooper«-Schule beigewohnt. Nicht viele Stunden hat es während 330 meines Aufenthaltes in Amerika gegeben, die mir solch reiche Belehrung über Amerika gegeben, gleich tiefe, dauernde Liebe zu diesem Land, seinem Volke, seinem Geiste geschenkt hätten, wie diese.

Als wir eintraten, stand ein kleiner Böhme von dreizehn Jahren da und sprach vom »Recall«.

»Recall« bedeutet: »Das Recht zum Widerruf solcher Richter, die ihr verantwortungsvolles und mit unumschränkter Macht bekleidetes Amt zur Unterstützung korrupter Korporationen, Eisenbahnen, Truste, gegen den geschädigten und wehrlosen Privatmann mißbrauchen.« Dies Recht dem Volk zu geben, danach strebt jetzt ein großer Teil der fortschrittlichen Politiker Amerikas. Andre Rechte, wie das des »Referendum«, wörtlich: »Gesetzentwürfe sollen dem Volk unterbreitet werden zur endgültigen Annahme oder Ablehnung« – und das der »Initiative«, wörtlich: »dem Volke soll das Recht übertragen werden, Vorschläge zu machen, die zum Gesetz erhoben werden sollen« – Rechte, die die »direkte Gesetzgebung durch das Volk« bezwecken, sind schon in vielen Staaten der Union, namentlich in denen westlich vom Mississippi, dem Volke gegeben worden. Auch über das »Referendum« und die »Initiative« hören wir den kleinen Böhmen perorieren. Schließlich faßt der Dreikäsehoch seine Rede in folgenden Sätzen zusammen: »Wir müssen es durchsetzen, daß die Senatoren vom Volke gewählt werden! There is nothing, the People needs more, than direct legislation!« und setzt sich auf seine Bank zurück!!

Man ist auf den Kopf geschlagen. Sind wir hier im Kongreß in Washington oder in einer Volksschule, was Teufel? Man ist versucht, den Kleinen dort beim Ohr zu fassen und, während man es gelinde beutelt, zu fragen: »woher weißt du denn, was das Volk braucht oder nicht braucht? geh und spiel mit Murmeln, Naseweis!«

Aber man horcht doch ein bißchen auf, wenn ein kleines elfjähriges Mädchen aufsteht und die Staaten herzählt, 331 in denen die Frauen das Wahlrecht besitzen. Das Kind nennt den Staat Colorado, da fragt die Lehrerin die Klasse: »Wie heißt die Hauptstadt von Colorado?«

»Denver!« ruft die Klasse.

»Wer ist in Denver zu Hause?« fragt die Lehrerin.

Und da höre ich von Kinderstimmen den Namen gerufen, dessen Nennen mir Rührung in die Augen treiben will, honest Bens Namen, den Namen des milden Richters der Kinder von Colorado.

»Ben Lindsey!« rufen die Kinder.

Und sie stehen auf, eins nach dem andern, und berichten von den Taten des »Freundes der Kinder«. Ein kleiner Junge weiß davon zu berichten, daß Lindsey es den wahlberechtigten Frauen Colorados verdankt, daß er, den die Parteien befehdet haben, auf seinem Posten bleiben durfte. (Treibt hier die Lehrerin Suffragetten-Propaganda? Nun, was weiter? Um so besser, wenn sie's tut!) Ein andrer kleiner Knabe berichtet ernst und sachlich, mit ruhiger, ernster Stimme, was der Richter für die Kinder Denvers getan hat. Er spricht von der Fürsorge für die Waisen, von der Aufsicht, die den kleinen Straßenstrolchen zugute kommt, von dem großen Schwimmbassin im Armenviertel, vergißt nicht, zu erwähnen, wie breit und wie tief dieses Bassin ist, noch das Material, aus dem es gebaut ist: »concrete«, das heißt Beton.

Ein Kind steht auf und spricht von den Gesetzen in Oregon, in Tennessee, in Wyoming. Ein anderes knüpft an diesen Bericht an und spricht von den »südlichen Parken« von Chicago und ihren Einrichtungen.

Allmählich leuchtet mir der Zusammenhang zwischen Politik und Volksschule ein. Ich lerne verstehen, auf welche Art das amerikanische Kind für das öffentliche Leben vorbereitet wird, daran es teilnehmen wird, wenn es erst erwachsen ist. Ich sehe: dies ist nicht nur eine Fortsetzung des Geschichtsunterrichts bis in die Gegenwart, sondern dies ist der wahre Geschichtsunterricht. Ich sehe, was in Amerika Nationalgefühl heißt und wie dieses 332 geweckt wird. Ich sehe, man muß nicht mit und vor den Merowingern anfangen, um dem Kind klar zu machen, daß es einer großen Nation angehört. (Nicht einmal mit den Puritanern!) Ich sehe deutlich die Grenzlinien zwischen dem Nationalgefühl und dem Gefühl für die Menschheit, ich horche durstig hin, darauf, was die Kinder sagen, ich lerne manches in dieser Unterrichtsstunde, ich fühle viel in ihr.

Miß Kellogg erzählt uns leise, während der Unterricht weitergeht, daß die Kinder dieser Schulklasse aus eigenem Antrieb eine Eingabe an die Stadtbehörde zum Schutz und zur Rettung von zwei Bäumen auf ihrem Spielplatz gerichtet haben, als diese gefällt werden sollten. Daß sie Versammlungen abhielten, um gegen die Kandidatur eines berüchtigten, verhaßten und verbrecherischen Stadtverordneten zu protestieren. Daß sie nach Washington um offizielle Berichte und Broschüren zu schreiben pflegen, wenn ein Gesetzentwurf zur Tagesordnung steht, für den sie sich interessieren, diese amerikanischen Kinder. . . .

Die Stunde geht zu Ende, unsre Zeit drängt. Miß Kellogg hält eine kleine Ansprache:

»Kinder! Seht um euch! Wenn euch Dinge auffallen, die einer Verbesserung bedürfen, wenn Dinge geschehen, die euch unrecht scheinen, sagt es hier! Denkt darüber nach, wie ihr sie besser machen würdet, und sagt auch dies hier laut. Aber denkt erst nach darüber, warum sie falsch und böse sind. Seht euch um, Kinder!«

»All right, Miß Kellogg, we will!« rufen die Kinder.

Dann fühlt sich die liebenswürdige Lehrerin der Klasse zu einem kleinen Akte der internationalen Höflichkeit veranlaßt.

»Kinder!« sagt sie, »wir haben heute das Vergnügen, einen Gast aus Berlin bei uns zu begrüßen. Wir wollen uns jetzt alle erheben und die ›Wacht am Rhein‹ singen.«

Und da stehen wir nun, Miß Kellogg, mein Freund und ich, die Kinder aber singen die »Wacht am Rhein!« 333

»Stand fast and true
And guard the German Rhine!
«

»Dank!« sage ich der Lehrerin, wie wir zur Tür hinaus sind, »heißen Dank im Namen Wilhelms II.! Mir, aufrichtig gesagt, bitte, legen Sie mir das nicht als Undankbarkeit aus, wäre die ›Marseillaise‹ lieber gewesen – nicht die nationalfranzösische, sondern, Sie wissen, welche ich meine!«

»Oh, you are a Socialist! Aren't you?« sagt die Lehrerin.

»Well, not exactly, something in this line!« erwidere ich.

»All right, now come along. I'll show you something!«

Wir gehen in das Bibliothekszimmer der Schule. Auf einem langen Tisch liegen Monats-, Wochenschriften, Tageszeitungen. Zeitungen aller Parteirichtungen. Ich sehe einige Hefte des Bostoner »Twentieth Century« und des Newyorker »Call«. Das ist die führende Monatsschrift und die führende Tageszeitung der amerikanischen Sozialisten.

»Wir lesen mit den Kindern viele politische Artikel,« sagt die Lehrerin. »Finde ich einen politischen Vorgang in einem sozialistischen Blatt gerechter und freier behandelt als in einem anderen, so lesen wir, die Kinder und ich, den Artikel aus dem sozialistischen Blatte vor . . .«

Ich stelle mir das große Deutschland vor, ich stelle mir eine Berliner Volksschule vor, in der der Lehrer in der Stunde mit den Kindern einen Artikel aus dem »Vorwärts« oder der »Arbeiterzeitung«, aus der »Neuen Zeit« liest!!

Ich sehe schon: die amerikanische Schule ist keine Anstalt, in der die Kinder mit allerhand Gelehrsamkeit vollgestopft werden, die sie später nicht brauchen können, ja verschwitzen müssen, um Menschen zu werden. Sie ist ein Werkzeug, mit dessen Hilfe aus den Kindern Amerikaner, d. h. politische Wesen, d. h. Weltbürger gemacht werden. Aller fremden Nationen Kinder kommen in 334 diesen »Schmelztiegel« hinein, aus dem das harte Metall der Zukunft Amerikas, die die Zukunft der Welt ist, hervorsteigen wird.

Aller unterdrückten Völker Kindern, den russischen Juden, Polen, Irländern, Böhmen, Finnen, wird hier beigebracht, daß sie Menschen mit Rechten sind. In ihrer alten Heimat haben sie dies nicht gewußt, ihre Eltern haben es in der neuen auch nicht mehr lernen können. Diese Wissenschaft ist, glaube ich, mindestens ebenso wichtig, wie das Einmaleins und das Alphabet.

In den Kindern wird das Bewußtsein, die Lehre: Ihr seid Menschen und habt Rechte, zugleich mit dem Bewußtsein und der Lehre: Ihr seid Amerikaner! entfacht und erhitzt. Und auf einmal heißt es in diesen kleinen Gehirnen: Menschenrecht ist = Amerika.

Jetzt verraucht mir allmählich auch mein Vorurteil gegen die Erziehung des amerikanischen Kindes durch Frauen. Ich habe so viele bewunderungswürdigen Tatsachen im öffentlichen Leben Amerikas entdeckt, die dem direkten politischen Einfluß der Frau ihre Existenz verdanken. Es ist nicht denkbar, daß die Fürsorge für arme Mütter während der Schwangerschaft, für uneheliche Kinder, für Waisen, für Wohlfahrtseinrichtungen, die die Pflege der Frau und des Kindes zum Zweck haben, ohne einschneidenden Einfluß auf das ganze Gewebe einer Gesellschaft bleiben könnte. Indem sich die Frau vorerst auf ihre traditionelle Wirkungsdomäne beschränkt, wandelt sie doch unmerklich die Zusammenhänge der heutigen Ordnung, so daß die Zukunft weniger trüb, die Gegenwart der Menschen um etliches freier und lichter erscheint von Tag zu Tag.

Die amerikanische Lehrerin, die ihren Beruf nicht als simplen Broterwerb auffaßt, sondern aus mütterlichem Instinkt und Liebe zu den Kindern ergriffen hat, trägt soviel Wärme, Güte und Schönheit in die Schulstube hinein, daß einen tiefes Mitleid und ohnmächtige Empörung erfassen will – denkt man an seine eigenen Kinderjahre, 335 die einem von einer Horde von eingebildeten Tyrannen und rechthaberischen Narren gestohlen worden sind. Bei uns, wenn man die Kinder des Mittelstandes und ihr Leben sich ansieht, löst der Lehrer die Gouvernante ab in dem Moment, in dem's gilt, etwas zu lernen. Der junge Knabe lernt auf diese Weise wirklich die Frau, etwas früh schon, als unzulänglich und für die ernsten Dinge, die sich ihm erschließen sollen, unbrauchbar, verachten. Der amerikanische Knabe lernt bis zu seinem 14. Jahr, auf derselben Schulbank mit den Mädchen sitzend, von einer Lehrerin, was nach der Auffassung des »Board of Education« das amerikanische Kind bis zum 14. Lebensjahr eben wissen muß. Ein Geist des Respektes wird auf solche Weise in ihm genährt gegen das andere Geschlecht, etwas, was sich der europäische Knabe auf allerhand Umwegen in späteren Jahren erwerben muß. Fähigkeiten entwickeln sich in ihm, die im europäischen Knaben gefälscht werden, zumeist verkümmern. Auf die primitivste Art lernt er den Sinn des Wortes Gleichheit verstehen, denn wo sollte die Gleichheit sonst beginnen als bei der rechtlichen Gleichstellung der beiden Geschlechter im Menschengeschlecht?

 

Allerhand feine Exerzitien wurden uns an diesem Tag vorgeführt. Eh wir die letztgenannte Schule verließen, ließ die Direktorin draußen im Korridor den Feueralarm ertönen, durch ein dreimaliges Anschlagen der Glocke in bestimmten Intervallen. Vor uns im Korridor stand ein Pianino. Das erste menschliche Wesen, das auf dem Plan erschien, war eine junge Lehrerin, sie setzte sich rasch ans Pianino und fing an, einen frischen Marsch von J. Ph. Sousa zu spielen. Ins ganze große Haus kam Leben. Zwei kleine Knaben, zwei größere Mädchen stürmten die Treppen hinunter und stellten sich auf der Mitte der letzten Stufen auf. Dies waren die ›Schoolofficers‹, von den Kindern jeder Klasse gewählte Funktionäre. (Diesen liegt die Sorge und Aufsicht über die 336 internen Angelegenheiten der Klasse, aber auch über die Räume, die Bibliothek, die Spielplätze ob. Jede Schule stellt eine kleine Republik dar, hat ihren Kinderpräsidenten, ihren Gerichtshof, ihre politischen Versammlungen, in denen Stellung zur Politik der Stadt und zu Washington genommen wird.)

Oben auf den Treppen erscheinen die Züge der Klassen, von den Lehrerinnen geführt; in Reihen zu Dritt marschieren sie herbei, im Takt des frischen Sousamarsches; wir schauen auf die Uhr, in kaum drei Minuten sind die 540 Kinder wohlbehalten unten auf dem Hofe angelangt. –

Tanz und Turnen, Gruppenexerzitien mancher Art nehmen einen großen Raum im amerikanischen Unterricht ein. Da die Wehrpflicht nicht besteht, ist dieser Unterricht keine Vorschule zur Disziplin, sondern eine richtige Art, den Körper geschmeidig zu machen für den künftigen Wettbewerb.

In einer der größten Gewerbeschulen Chicagos sitzen wir, nachdem wir durch die verschiedenen »Shops«, die Werkstätten für Tischlereiarbeiten, Maschinen, Elektrizitätskonstruktionen hindurchspaziert sind, in einem Lehrsaal, in dem 16–20 Jahre alte Schüler gerade die einzelnen Punkte der amerikanischen Verfassung durchnehmen. Mit ihrem Lehrer in einem uns wunderbar anmutenden freien und angeregten Gespräch diskutieren. Plötzlich klingelt das Telephon (in der Schulstube!), der Schüler, der dem Kasten zunächst sitzt, hallot in den Apparat und wir erfahren und mit uns erfährt es die Klasse: den Fremden von Distinktion zu Ehren ist eine große Generalversammlung unten im Festsaal einberufen.

Vor der Tür treffen wir Miß Kellogg. Der Unterricht im ganzen Haus ist unterbrochen worden. Die Lehrer sind von ihren Tischen aufgestanden, die Treibriemen in den Shops stehen still. Wie wir, von Miß Kellogg und dem Direktor der Schule geführt, den Festsaal betreten, ist der Saal, die Galerie schon zum Bersten voll. 337 Betäubendes Händeklatschen empfängt uns. Zwischen den 1500 Schülern gehen wir zur Bühne des Saales, nehmen in den Lehnsesseln auf der Bühne Platz. Der Direktor stellt uns den Schülern vor. Erneuerte Applaussalve. Aus Berlin, der Hauptstadt des mächtigen deutschen Reiches. Applaus. (Dank, heißen Dank im Namen des Oberbürgermeisters!) Dann dürfen wir wieder niedersitzen. Die erwählten Festordner der Schule treten an die Rampe der Bühne vor und die Begrüßung nimmt ihren Fortgang. Die beiden jungen Leute sind wahre Athleten. Sie ziehen ihre Jacken aus, um sich freier bewegen zu können. Breitbeinig stellen sie sich hin und beginnen mit großen Windmühlenflügelbewegungen Arme und Oberkörper zu schwingen. Wie sie im Schwung sind, machen sie die Rumpfbeuge und stoßen beide Fäuste hinunter, dem Boden zu. Der College-Yell ertönt, d. h.: das Schulgebrüll, das Indianergebrüll der Schüler wird im Takt, den die Athleten mit ihren Gebärden angeben, ausgestoßen. Fünfzehnhundert junge Kehlen brüllen:

»Rah! Rah! Rah! – Reh! Reh!« –

Dann den Namen der Schule. –

Dann ein Pfiff zum Taubwerden. –

Hierauf wird der Schulgesang angestimmt, ein Hymnus, dessen ausschließlicher Text der Name der Schule ist. Da die Schule nach ihrem Stifter benannt ist und der Name des Stifters auf deutsch ungefähr Friedrich Wilhelm Schulze heißen könnte, so hört sich dieser Hymnus nicht gerade erhebend an.

Nun treten die einzelnen Champione der Baseball- und Fußballmannschaften, der Leichtgewichts-, der Bantamgewichts- und Schwergewichtschampion einzeln vor die Rampe. Sie berichten der Versammlung von den Hoffnungen der Mannschaften und ihren eigenen Hoffnungen für die nächsten Wettkämpfe. Von den Ursachen ihrer Siege und von den Übungen, die sie unternommen haben, um ihre Niederlagen wettzumachen. Applaussalven belohnen diese Ausführung. Der Direktor an unserer Seite 338 sieht uns strahlend vor Vergnügen und Stolz an. Miß Kelloggs liebes und gutmütiges Gesicht strahlt vor Vergnügen und Stolz.

Händeklatschen geleitet uns durch die Reihen zurück. Wir nehmen Abschied von den Studenten, dem Direktor, den Professoren, von unserer liebenswürdigen Führerin. – Draußen auf der Straße bleiben wir stehen, mein Freund und ich und sehen uns an:

»Theater!« sagt mein Freund. »Haben Sie auf die Uhr gesehen? Von drei Uhr bis sieben Minuten vor vier hat die Prozedur gedauert! Dreiundfünfzig Minuten eines Schultages sind in Spielereien aufgegangen.«

Und wenn's auch so ist? Ihren Lungen ist das Rah Rah Rah wohl ganz gut bekommen. Zwischen Arbeit und Arbeit haben sie eine Stunde lang von Sport gesprochen. Zwei wildfremden Menschen haben sie Freundlichkeit bezeugt auf ihre Art, jawohl. Sie haben nicht Theater vor ihnen gespielt, sondern haben sie an ihrem eigenen Vergnügen teilhaben lassen. Wo steht's denn geschrieben, daß der Unterricht wichtiger ist als die Pausen zwischen den Stunden? Daß die Tretmühle vor dem Baseballfeld rangiert? Daß für junge kräftige Weltbürger zwischen 16 und 20 Jahren der Leichtgewichtschampion und seine Taten von minderer Wichtigkeit sein müssen als alle Punkte der amerikanischen Verfassung und die Gesetze des Weltalls von Galilei bis Ostwald dazu?

Gewiß lernt man in Amerika weniger Zeugs in sich hinein als in Europa. Aber ganz gewiß! Das Eine weiß ich aber auch: von Schülerselbstmorden habe ich all die Zeit in Amerika kein Wort gehört. 339

 


 


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