Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Toronto, die englische Stadt

Auf den ersten Blick glaubt man, man ist wieder in Europa. Kaum eine halbe Tagesreise weit von den Staaten, mit einem Wasserzipfel zwischen dem Staat Newyork und der Provinz Ontario, glaubt man sich nach Europa zurückversetzt, aber in einen seltsamen Winkel von Europa, irgendeine Wartehalle mit weither zusammengewürfeltem Völkerkunterbunt.

Um es gleich herauszusagen: es ist ein schauderhaftes Kunterbunt, das sich da zusammengerottet hat. Man sagte mir später in Ottawa, in Winnipeg, und auch hier in Toronto sagten es mir die Leute von der Heilsarmee: 113 der Einwanderer, der in den großen Städten des Ostens, in Toronto, Quebec, Montreal bleibt, ist der am wenigsten erwünschte Typus des Einwanderers. Er hat's auf die leichteren Chancen abgesehen und gibt sich auch mit den geringeren Chancen zufrieden. Ihn zieht's nicht zur Erde, sondern zum Asphalt. Das Meer hat er umsonst durchquert. Er hat nur einen Rinnstein um einen andern eingetauscht. Er hätte daheim bei seinem alten Rinnstein bleiben können. Im Westen schießen Städte wie Pilze fabelhaft über Nacht in die Höhe, dieser Unerwünschte aber ist alles, nur kein Städtebauer. Statt im Westen ein Herr zu sein, ist und bleibt er ein Schmarotzer im Osten. Er wird aus diesem kanadischen Osten bald denselben unerträglichen, überwimmelnden Fäulnisherd gemacht haben, der seine Heimatstadt im alten Kontinent war.

An den Straßenecken kleben riesige Plakate mit Aufschriften, die wie Kanonenschüsse, aber auch wie Notsignale klingen!

»50 000 Farmarbeiter sofort nach dem Westen!«

»30 000 Ernteleute für Manitoba verlangt!«

»Die unerhörteste Ernte, seit Kanada Weizen baut! (Ich weiß nicht mehr wieviel) . . . hundert Millionen Bushel warten auf den Schnitter!«

Eine gesunde Prahlerei, die anzeigt, daß das Land Menschen braucht. Aber die Menschensorte, von der ich grad sprach, zieht es vor, jahraus jahrein in ungesunden Fabrikhallen sich krummzuschwitzen bei der Fabrikation eines und desselben Maschinenteils, und läuft an den grellen und verheißungsvollen Plakaten blind und taub vorüber.

In dieser relativ kleinen Stadt kommt es einem so vor, als dominiere das fremde Element, aber das ist eine Täuschung. Sie wird durch die Liberalität hervorgerufen, mit der der Engländer den Fremden in seinem eignen Lande schalten und walten läßt nach Herzenslust. Ganze Straßen tragen armenische Aufschriften. Das Ghetto ist von 114 beträchtlichem Umfang. Russen und Griechen bewohnen ganze Stadtteile, ebenso Syrer. Im allgemeinen hat es den Anschein, als sei die Einwanderung aus dem östlichen Europa und aus Kleinasien hier stärker als die aus dem Westen. Sonntag nachmittag ergehe ich mich in dem Vergnügungspark Scarboro Beach – nicht Ein gutes, freudiges Menschengesicht. Nicht Einer von den selbstbewußten positiven Köpfen, denen man drüben in den Staaten so oft begegnet. Kleine gierige Kleinstadtbürger, gelblich bittere Proletariergesichter. Abstoßende Roheit in den Vergnügungen. Den stärksten Zulauf hat der »Splasher«, – man wirft mit Bällen nach einem armen Kerl, der auf einem Brett über einem Bottich sitzt. Trifft der Ball ein Brett, so gibt's ein Hallo, der arme nervöse Kerl (aus Barmherzigkeit hat man ihm eine Maske umgebunden!) fällt ins Wasser und muß dann naß und mühsam wieder aus dem Bottich auf sein Brett hinaufkrabbeln. Daran vergnügen sich diese Leute.

Kommt man aber in die guten Viertel, wo die eingesessenen Engländer zu Hause sind, so merkt man gleich – o ja, das ist Old England. Die Häuser sind aus Ziegeln und Stein und nicht aus Holz wie drüben in den Staaten, wo sogar in den Villenvierteln ein »Frame-House« neben dem andern Straßen und Straßen lang zu finden ist. Etwas zeigt hier, in Jarvis Street, in Rosedale an, daß diese Häuser den Menschen als Heime dienen. Drüben in den Staaten wird man das Gefühl nie los, daß die Wohnhäuser provisorische Zelte sind, heute aufgerichtet, morgen abgebrochen. Sogar jetzt im Hochsommer, wo allüberall die Vorhänge hinter den Scheiben heruntergezogen sind, sieht man's den hübschen, gepflegten Gärtchen an, daß Sorge und Freude ihrer Eigentümer bei ihnen sind, und daß ihre Eigentümer in der Fremde die Photographie ihres Hauses auf dem Tisch ihrer Hotelzimmer vor sich stehen haben.

Etwas anderes, das stark an »the old country« drüben in England gemahnt, ist die Anzahl der Kirchen in Toronto. 115 Ich fahre mit der Straßenbahn über die Ringlinie und traue meinen Augen nicht. Ich zähle in 41 Minuten 22 Kirchen, – fast an jeder Haltestelle eine. Ich höre dann von einem wohlinformierten Herrn, daß Toronto bei einer Einwohnerzahl von etwa 300 000 Seelen 250 Kirchen besitzt.

Dann gibt's aber andere Einzelheiten, die anzeigen, daß man allerdings weit weg ist von dem alten Lande. Unter rohen, hin- und hergebogenen Baumstämmen, die als Telegraphenstangen dienen, stehen ebenso ungeschlachte Wildwestburschen, mit einer beträchtlichen Patina über ihrem Engländertum, in unbehaglichen Berufen von der Pionierart erworben, Kräfte um Kräfte. Der westlüsterne Reisende kann sich unter diesen breiten gelben Hüten und roten Hemden alle die romantischen Berufsarten vorstellen, die in den Wäldern Ontarios, in den Goldgräberlagern von Britisch-Kolumbien, an den Strömen im unerforschten Yukon und auf den ungeheuren Viehweiden des südlichen Alberta im Flor stehen.

Merkwürdiger aber und charakteristischer noch für diese englischste Stadt der Dominion ist ein Typus von Menschen, dessen Anwesenheit die Atmosphäre Torontos bestimmt; wenn ich mich an Toronto erinnern werde in späteren Jahren, wird diese Menschensorte ganz vorn an der Rampe der Erinnerung stehen in mir.

In meinem Hotel wimmelt es von »jüngeren Söhnen«, und draußen in der Stadt, am Hafen, in den eleganten Straßen, in den Warenhäusern, in den Büros der Schiffahrts-, Eisenbahn-, Landgesellschaften, überall sehe ich und erkenne ich sie wieder. Überall stehen sie, sitzen sie herum, rauchen, gähnen sie herum, sprechen sie Mister wie Mistah aus und haben ihren Stempel auf allem, was sie tun und lassen: die »jüngeren Söhne«.

Sie sehen aus wie Exilierte und wirklich – schon als sie geboren wurden, als zweite und dritte Söhne alter englischer Adelsfamilien, waren sie ganz und gar exiliert und enterbt; nach dem englischen Gesetz erbt der Erstgeborene Titel und Gut, und der jüngere Sohn ist auf die 116 Gnade der Eltern und des Erstgeborenen angewiesen. Der jüngere Sohn ist der Zukurzgekommene; vom Gesetz hat er nichts zu erwarten; er muß sich resigniert oder empört durchs Leben schlängeln. Die Tage dieser unglückseligen Menschensorte sind gezählt, wenn Gott Lloyd George Leben und Gesundheit gibt. In diesem Falle wird eine mittelalterlich grausame Anomalie aus den Sittengesetzen des ersten Volkes der Erde ausgestrichen sein – die Ausgeburt nicht des englischen Geistes, sondern einer todgeweihten und dem Untergang entgegentreibenden Kaste der Alten Welt.

Immerhin haben die unglücklichen Exemplare dieser Menschensorte, wenn's beim Militär und in dem Klerus keinen Platz mehr für sie gibt, die großen Kolonien Britanniens als Tummelplatz zu ihrer Verfügung. Sie finden in diesen Kolonien Raum und Freiheit genug, ihr Rößlein zu tummeln, Gold zu graben, in Boden und Erzeugnissen des Bodens ihr Gold zu verspekulieren, Weizen und Melonen zu züchten, wenn sie das lieber mögen, – auf einmal, sie wissen's selber kaum wie, sitzen sie auf einer guten, dampfenden Scholle der Mutter Erde, statt in einem morosen Klubsessel in St. James bei Piccadilly! und was die Hauptsache ist, sie sind der verhaßten Notwendigkeit enthoben, dem ältesten Bruder Viscount oder Lord Soundso von Angesicht zu begegnen, dem Herrn, der nichts weiter zu seinem Glück zu tun brauchte, als zuerst zur Welt zu kommen.

Genau beschnüffelt sieht der jüngere Sohn in seiner physischen Existenz wie ein desparater Klubmann aus, der nach einer verlorenen Partie im Straßenkot dasteht, mit der Alternative vor sich: Soll ich mich nun im Whisky besaufen, soll ich zu den Mädchen gehn, oder soll ich mich nicht lieber ein für allemal und definitiv mit einer Kugel totschießen?

Er kann Aviatiker werden oder Sportkorrespondent über See. Wenn er klug ist und seine Fäuste taugen was, so fährt er mit der »Empreß of Ireland« nach der Dominion. 117 Und da strecken wir auch schon alle beide, er und ich, die Füße unter denselben Hoteltisch. Haben beide, aber aus ungleichen Gründen, die Taschen voll von Prospekten über Farmländer, Viehzucht, Reiserouten, Grundstückspekulation, – Prospekte und Broschüren, die hierzulande in schweren Mengen hergestellt und unter die Leute geworfen werden; und die der trägen Phantasie des jüngeren Sohnes nachhelfen, Weg und Möglichkeiten zur Existenz zu finden.

Gegenwärtig hat er es leicht, seine Unschlüssigkeit hinter langen Gesprächen zu verbergen, die sich sämtlich um das garstige Wort »Reziprozität« herumbewegen und politische Gespräche sind.

Ich werde, Gott sei's geklagt, dieses Malefizwort jetzt sieben Wochen lang in allen Tonarten hören müssen. Am 21. September finden in Kanada die Wahlen statt, und die Frage ist: ein Reziprozitätsverhältnis oder keines mit der Union? Eine liberale Regierung oder eine konservative? Sir Wilfrid Laurier oder Mr. R. L. Borden?

In diesem Land der Zukunft, in dem die ungeduldige Erde nach Befruchtung schreit, werde ich ein politisches Gezeter anhören müssen sieben Wochen lang. Ich beschließe, mich gut und rasch im vorhinein zu anästhesieren, und tue das gründlich.

Ein sympathischer junger Kanadier, Sproß der berühmten Familie, die ganz Kanada mit Erntemaschinen versorgt und mit Konzertsälen und Orgeln beschenkt, ist mein Cicerone in Toronto. Ihm verdanke ich es, daß ich im York-Klub und später im Golf-Klub Gast einiger gelehrten und einflußreichen Herren bin, denen ich Dinge Deutschlands berichten soll und von denen ich Dinge Kanadas erfahren kann. Es ist eine feine Gelegenheit, zu reden und zuzuhören, bei Gott!

Nun, ich merke es gleich und die Herren merken es auch gleich – es ist da so was wie ein Sozialist in ein Nest von Konservativen geraten. Aber es läuft alles gut ab und wir haben alle »a good time« miteinander, unten in 118 dem schönen Haus in der Stadt und oben auf den Golfhügeln, von denen man den Blick auf den Ontario hat.

Onkel Sam zapft den Kanadischen Ahorn an.

Heute, 27. September, da die liberale Regierung unter dem »Erdrutsch« (the landslide, wie die Affäre hier pittoresk benannt ist) begraben und die Konservativen obenauf sind, heute, da alles vorüber ist, weiß ich es: in der Gesellschaft befand sich ein älterer, liebenswürdiger Herr, dem jetzt, in der neuen Regierung, einer der drei obersten Posten in der Dominion angetragen werden soll. Ich hätte also die Ohren spitzen und gut aufpassen sollen, um über die wichtige Frage Reziprozität oder nicht die definitivsten und maßgebendsten Ansichten zu hören und mit mir zu nehmen auf meinen Weg durch die sieben Wochen.

Der Stier sind die Staaten, Kanada ist das Kalb. Agitationsplakate der Konservativen.

Statt dessen habe ich, in mich hinein, versteht sich, ein paar Monologe gehalten, als einer, der in Dingen der Politik auf dem einigermaßen primitiven Standpunkt eines Sonntagnachmittagspredigers im Hyde-Park steht und stehen bleiben wird. Die Amerikaner brauchen die Farmprodukte Kanadas, das als Farmland eben mitzuzählen begonnen hat, und die Amerikaner möchten ihre Industrieprodukte in Kanada los werden, das eben 119 als konsumierendes Land mitzuzählen begonnen hat. Kanada könnte durch den Freihandel sein Frühstück billiger besorgen und in billigeren Kleidern bei seinem Frühstückstisch erscheinen. Der amerikanische Vierteldollar ist zudem ebenso gut wie der englische Schilling und näher: das ist ein berühmter Ausspruch Sir Wilfrid Lauriers, des liberalen Expremiers. Andererseits aber ist man, sozusagen, eine englische Dominion, und, wie die Konservativen behaupten, ist der Grenzstrich zwischen den Staaten und der Dominion ein Trennungsstrich, während der Atlantische Ozean ein Meer ist, das die alte Heimat mit der neuen verbindet! Der englische Scherenschleifer drückt den kanadischen Konsumenten an sein brüderliches Herz und schielt über seine Schulter nach dem Land unter dem Strich hinüber, ob von dort keine Scheren herübergezückt werden, die das Meer auseinander schneiden würden. Was zur Folge hätte, daß die beiden Hälften von Nordamerika zusammengepappt werden müssten usw. usw.

Ich frage mich in mich hinein: was bedeutet es schon 120 für die Menschheit, ob Rezipr. oder nicht? Geht sie durch, wird's den Interessen der einen, fällt sie, wird's den Interessen der anderen politischen Partei dienen. Rückt die Welt einen Hahnenschritt vorwärts, wenn die Liberalen am Ruder bleiben, oder einen zurück, wenn man sie fortjagt? Wird es weniger ausgebeutete Menschen, weniger Frauen, die sich prostituieren müssen fürs Brot, weniger arbeitende Kinder, weniger Verbrechen, die kein Gesetz bestraft, weniger systematische Verdummung durch 250 Kirchen an jeder Trambahn-Haltestelle geben? Ha, der Wille des Volkes, Urlüge der Weltgeschichte!

Ich bin ein paarmal über den Strich, »the boundary«, zwischen Kanada und der Union hinüber- und herübergefahren, und wirklich, die Berge gingen über den Strich, und die Saat schwankte so im Winde, daß die Ährenspitzen die Linie hinüber- und herüberbewegten, und die Sonnenblume, der Kopf der Sonnenblume wußte nichts von Reziprozität auf seiner sehnsüchtigen Wanderung, schaute sich weder nach Sir Wilfrid noch nach Mr. Taft um. Also wozu diese Narrheiten.

Ich bemühe mich, zu den Ausführungen meiner Wirte das aufmerksamste Gesicht zu schneiden, dessen meine Larve fähig ist, und gehe erst aus mir heraus, als man mich allen Ernstes fragt (es ist Anfang August und von Marokko noch keine Rede): Also bitte, heraus mit der Sprache, will Deutschland den Krieg mit England, oder will es ihn nicht?

»Ha!« sage ich. »Ha! wer ist denn dieses Deutschland, das will oder nicht will? Ich glaube wohl, wenn man Deutschland sagt, so ist darunter das deutsche Volk zu verstehn? Das deutsche Volk aber will, wie das Volk anderer Länder, vorläufig nichts weiter als ein Bankkonto und ein Sparkassenbuch und ein Mittagsschläfchen Sonntag nach Tisch. Den Krieg sicherlich nicht. Der Herr Unter-Schlächtergeselle an der Ecke möchte gern Ober-Schlächtergeselle werden und denkt nicht im entferntesten daran, Herrn Tommy Atkins zu schlachten oder in den 121 ›Dreadnought‹ ein Loch zu bohren. Man wolle also das deutsche Volk nicht mit den Augenbrauen-in-die-Höhe-Ziehern und den Leuten vom gerollten R im Worte Krieg verwechseln.« Und daran knüpfend halte ich einen kurzen Vortrag, den ich hier nicht wiedergeben kann.

»Good« sagen die gelehrten Herren und schmunzeln, und der einflußreiche Herr, der jetzt solch hoher Würdenträger werden soll, sagt »Good!« und ich freue mich dieser Zurufe, die mich an die Rufe erinnern, womit man bei Boxer-Matchen die Burschen im »Ring« nach einem gelungenen uppercut oder einem leftswing anzufeuern pflegt.

Zum Glück ist nicht lang von Politik die Rede. Jemand fängt an, von der deutschen Literatur zu sprechen. Der Geschichtsprofessor der Universität Toronto erzählt mir, was ich schon in der Cornell-Universität gehört habe, daß auf den hohen Schulen Storms »Immensee« das meistgelesene deutsche Buch ist, und nicht nur auf den Schulen, in ganz Amerika. Als klassisches Buch erfreut sich Freytags »Soll und Haben« der größten Popularität. Von den heutigen Autoren aber ist es Gustav Frenssen, der am meisten gelesen wird.

Dann kommen wir auf Gerhart Hauptmann zu sprechen. Es wird spät, und an diesem Tage ist von Krieg und Reziprozität weiter keine Rede mehr.

 


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