Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Reise durch Kanada

Ontariofahrt

Der Ontario ist das kleinste von den fünf Meeren im Innern Nordamerikas. Wenn man ihn an seinem westlichen Zipfel durchquert, vom Niagara hinauf nach Toronto zu, so ist dieser Zipfel noch breit genug, daß ein paar Stunden lang die Ufer rings unter den Horizont hinuntergehn und Himmel und Wasser um das Schiff sind, vielleicht noch ein Fetzen Rauch in der Ferne.

Ich weiß, ich fahre über einen See, und ich kenne auch die Landkarte Kanadas gut genug, um zu wissen, daß die Grenze Kanadas und der Staaten ein gerader Strich ist, wie mit dem Lineal quer durch den Weltteil gezogen, und doch stellt sich dieses feierliche Gefühl von innerem Erstaunen wieder in mir ein, das mich damals beherrschte, als ich unterm so und so vielten Breitengrad plötzlich wußte – nun bin ich der Neuen Welt näher als der Alten.

Kanada ist eine neue Welt in der Neuen. Schade, daß ich nicht länger mich in den Staaten aufhalten durfte; hätte ich's gedurft, sicher wär' mir der Kontrast stärker bewußt geworden. Ich erinnere mich, hörte ich als Kind von jemandem sagen: er sei nach der Neuen Welt, um ein neues Leben zu beginnen (die meisten, von denen man das erzählte, hatten ihre guten Gründe, Welten und Leben umzutauschen!), mit einemmal war da alles sonderbar um diesen Menschen herum! Er selbst. Dann dieser Begriff: die Neue Welt. Und dann: das Neue Leben! Ein erwachsener Mensch beginnt in einer neuen Welt ein neues Leben! Es war so etwas wie ein Märchen, und der arme Bankrotteur, der gebückt auf dem Stuhl gegenüber den strengen Onkeln saß, war ein Märchenprinz, nichts weniger.

Was damals die Neue Welt war, ist inzwischen, der Technik und der Konkurrenz und all den übrigen Segnungen sei Dank, ziemlich alt und schon äußerst selbstverständlich geworden – aber jenes nördliche Land über dem graden Strich durch Nordamerika hindurch 108 ist heute noch so etwas wie ein Märchenland, etwas frisch zur Welt Gekommenes, fast Unwahrscheinliches. In Wahrheit ist's ein Kontinent, von dem kaum die etwas Genaues wissen, die in ihm leben; für mich, da ich über dieses Binnenmeer dorthin treibe, etwas absolut Rätselhaftes; meine Augen blinzeln; ich möchte schon Toronto sehn!

In Newyork ist mir auf einem Bahnhof ein kleines blaues Heft in die Hände gefallen, der Titel heißt: »Fünftausend Tatsachen über Kanada«. Jetzt, während es Abend wird und Himmel und Wasser und die rauchenden Schiffe wie Nebelwände ineinander sich schieben, blättere ich im Heft und probiere die Landkarte Kanadas im Winde aufzuspreiten. In diesem Abendlicht eines schönen Augusttages wird die Statistik und die Landkarte unversehens zu einer einzigen Nebelwand mit Lichtern hier und dort, unwahrscheinlich und die Phantasie aufregend, so wie der Horizont dort im Norden jetzt geworden ist – wie eine ungeheure haardünne Schildkrotplatte, hinter der eine Kerze brennt irgendwo.

Dieses Land Kanada, in dessen Norden sich die Linien der Landkarte zag und ungewiß auf dem Papier verlieren, hat vor Jahrzehnten noch als ein Land des ewigen Winters gegolten, als ein Tummelplatz von Felljägern, Fallenstellern, Indianern und spärlichem Abenteurergesindel über unermeßliche Wüsteneien. Jetzt fängt man an, zu ahnen, was es ist – – Kanaan!

In dieser englischen Dominion leben acht Millionen Menschen, und es ist Raum in ihr für hundert. Heute schon sind durch die Eisenbahnen, die das Land erschlossen haben, 250 Millionen Acre für landwirtschaftliche Zwecke aufgemacht worden. In ein paar Jahren werden neue Bahnlinien noch einmal so viel Land aufgemacht haben. Aber es sind bis heute erst 80 Millionen Acre urbar und unter Kultur. Vor zwei Jahren stand Kanada an zehnter Stelle unter den weizenbauenden Ländern der Erde, heute schon an fünfter Stelle.

109 Unermeßliche Wälder warten auf die Axt. Unermeßliches Prärieland, von der Fäulnis der Faunen und Floren von Urzeit her gedüngt und wieder gedüngt, wartet auf die Pflugschar, die die schwarze Erde zum erstenmal umdrehen soll. Erz ist in den Bergen. Die Ströme und Seen sind schwarz von Fischen; Wild lebt in den Bergen und hat nie seinen Jäger gesehn. Auf rollenden Hügelländern, Tage und Tage weit, kann das Vieh im Freien weiden in all den vier Jahreszeiten. Und es gibt im Westen, in der Nähe des Pazifik, Hügelabhänge, auf denen die Bäume zweimal im Jahr Früchte tragen.

Die »fünftausend Tatsachen« sagen dies in einem minder biblischen Stil, als ich es hier tue, aber mir ist das Wort Kanaan in den Sinn gekommen; ich schreibe heute, in Vancouver, am Stillen Ozean, zehn Wochen nach der Ontariofahrt dieses Wort mit gutem Gewissen nieder, und in diesen zehn Wochen hab ich das Land gesehen.

Ich war in den Städten und bin über Land gefahren. Ich war in den Bergen, wo das Gold wächst, und war bei den Weizenbauern auf der Prärie. In Alberta habe ich mit Ranchern gespeist und in Saskatchewan auf Farmen übernachtet. In dem Felsengebirge haben mir Jäger und Bergsteiger ihre Abenteuer, und in den Tälern westlich von dem Felsengebirge haben mir Siedler ihre Kämpfe in den ersten und ihre Erfolge in den nächsten Jahren erzählt. In Ottawa, in dem wunderschönen Regierungspalast, und in Winnipeg in der nicht minder schönen Einwandererhalle hat man mir Zahlen und Daten geliefert, die ich ernsthaft in mein Notizenbuch hineingeschrieben habe. Mehr wert, als Zahlen zu hören, war's mir, das Leuchten in den Augen der Menschen zu sehen, die vor wenigen Jahren noch arm und verstoßen und verzweifelt aus der Alten Welt (und auch aus der »Neuen«) herübergekommen waren und heute froh von »Our Country!« zu mir sprachen.

Und wie könnte ich je den Nachmittag vergessen, an dem mir das tiefste Geheimnis dieses Landes offenbar 110 geworden ist, im südlichen Alberta, auf der Ranch der Familie Mc Gregor, bei Bow Island, inmitten einer Wüstenei. Durch den Willen der Menschen ist dort eine Oase entstanden, im ödesten grauen Weideland, – mitten in meilenweiter Heide ein viereckiges Stück Land, auf dem Obstbäume, Nutzholz, Blumen und Kakteen, Getreide und Feldfrüchte von fünfzehn Arten gezüchtet worden waren: eine Experimental-Farm, ein Beweis für die Fähigkeit des Bodens, anderes herzugeben als bloß Futter für Vieh- und Pferdeherden.

Ich habe Kanada im Sommer gesehen und weiß nicht, wie es im Winter ausschaut. Ich denke mir, die Erde schläft hier tief und lange, um sich für die Arbeit zu stärken, die sie für die hundert Millionen leisten müssen wird. Für die hundert, von denen sie jetzt erst acht die Nahrung und Fülle des Lebens gibt. Aber dieses Sommerland Kanada, das ich kenne, sollte ich heute in Vancouver es mit Namen nennen, ich wüßte keinen anderen, tauglicheren dafür zu finden, als den aus dem Alten Testament.

Wie gesagt, es hat Raum und Brot und Hoffnung für hundert Millionen Menschen. Hier ist augenblickliche Hilfe, Erde übrig für die Hungernden, die Arbeitslosen, die Zurückgewiesenen, die Fabriksklaven und die Gehirnsklaven der heutigen Gesellschaft. Sieht man dem Lauf der Welt zu, wie Irrtümer über Irrtümer den notwendigen Gang der Entwicklung aufhalten, und wie Generation um Generation todwund und verzweifelt die Augen von der Zukunft abkehrt und sich niederlegt, um zu sterben; sieht man selbst vor Mitleid mit den Liegengebliebenen kaum das Rot am Himmel mehr, das langsam aber unaufhaltsam herbeikommt, näher, näher; dann wünscht man: es möchte doch ein Gelobtes Land da sein, das augenblickliche Hilfe in seinen Grenzen hätte für die Menschen, die an der Gegenwart zu stark zu leiden haben.

Die Welt geht wahrscheinlich ihren Gang, auch wenn nicht 92 Millionen unterwegs verhungern. Wer kann mich 111 denn überzeugen von der Theorie, daß es notwendig sei, die Massen total zu verelenden, durch das Nichtmehrweiterkönnen die Massen zur plötzlichen Abschüttelung, zum endgültigen Fertigwerden mit der Unerträglichkeit ihres Zustandes aufzustacheln? Ich sehe nur: daß das Übermaß des Elends aus dem Leidenden keinen Revolutionär, sondern einen genügsam-zynischen Bettler macht.

Kanada gehört dem Staat England, dieser aber weiß allein damit nichts anzufangen und gibt es daher einem jeden hin, der herbeikommt und es haben und bebauen will. Ein jeder, woher er komme, kann 160 Acre von der Regierung haben (der Acre gleich 0,4 Hektar) und muß den Leuten, die in ein paar Jahren von der Regierung ausgeschickt werden, um nachzuschauen, was er mit dem Land angefangen habe, nur zeigen: ich hab einen Teil des Landes bebaut und seht her, hier ist die Hütte oder das Häuschen, in dem ich wohne. Aus den Fabriken, den Büros, aus den Massenquartieren können die Gestalten, die man in Europas großen Städten schon gar nicht mehr anschaun kann vor Herzleid und Ingrimm, hierher zur Erde kommen und mit dem Himmel über sich leben! Sie können hier auf etwas gesündere und reinlichere Art zu ihrem Brot und dem Genuß ihres Lebens gelangen als die Proletarier, die ihre Partei durch kleine Versicherungen und den Herrschenden abgerungene Konzessionen und Konzessiönchen in Kleinbürger verwandelt. Ohne demütigende Wohltätigkeit und Komiteebeschlüsse können die Legionen der verschämten Armen und der Ärmsten, die ihre Scham schon verlernt haben, von den ekligen Rinnsteinen der Vorstadt hierher zu den Jahreszeiten der Erde zurückkehren. Sie dürfen sich Engländer nennen und den schönen bunten »Union Jack« über ihrem Giebel aufpflanzen, – gezwungen werden sie nicht dazu. Ich werde sogleich berichten, wie ich bei Leuten war, die hier sie selbst bleiben durften und die der Staat England nicht gezwungen hat, sich seinen Gesetzen anzupassen.

112 Von all der Statistik behalte ich mir nur ein, zwei Ziffern. Hundert Millionen Menschen brauchen nicht mehr zu hungern. Dieses Land hier ist um 112 000 Quadratmeilen größer als die Union. Achtzehnmal so groß wie Deutschland.

Ich erinnere mich gut an die Fahrt über den Ontario. Die Sonne war untergegangen, und im Norden erschienen die Lichter Torontos. Am Ende dieser Lichtkette am Ufer stand eine aufrechte Linie von Lichtern, – man sagte mir, das sei der Turm des Vergnügungsparks Scarboro Beach. All dies sah aus wie eine Zeile, ein geschriebener Spruch aus Licht mit einem Licht-Ausrufungszeichen am Ende. Ein paar Möwen flogen über unserm Schiff, und eine Minute lang noch ein anderer Vogel, ein Süßwasservogel, ein schwarzes, schlankes Tier, ein Kranich. Rasch flog er davon über unser Schiff, nordwärts gegen Toronto zu.

Während er grad in die Lichterschrift am Horizont vor uns hineinflog, dachte ich mir: dieser Vogel ist ein rechter Märchenvogel. Und ich dachte mir auch: schöner als das schönste Es-war-einmal-Märchen im Grimm ist das Märchen, das so anfängt: Es wird einmal sein!

 


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