Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Captain's Dinner

Letzter Abend an Bord. Die Leute der ersten Kajüte kommen in großer Toilette zum Essen hinunter. Der Speisesaal ist hübsch dekoriert, bunte Cracker und Blumen sind überall auf den Tischen, und kleinwinzige japanische Papierschirmchen, die die Frauen sich ins Haar stecken. Sie sehen, aufgespannt, wie große tropische Blumen zwischen den Frauenhaaren aus. Viel Champagner kommt auf die Tische. Heute abend entscheidet es sich, ob die Freundschaften, die man zur See geschlossen hat, auf dem Festland von Dauer sein sollen oder nicht. Wir Schöngekleideten alle lehnen uns in unseren Stühlen zurück und schauen nach den anderen Tischen hinüber, von wo uns lächelnde oder gleichgültige Mienen Bescheid tun.

35 Oben auf dem Promenadendeck hat man einen Tanzplatz mit bunten Signalfahnen abgesteckt. Vom Dach, das heißt dem Sonnendeck, hängen bunte Glühlichter herab. Die Paare lüften den Vorhang, die deutsche und die amerikanische Flagge, ehe sie zum Tanz antreten. Die braven Stewarde spielen amerikanische Tänze auf, dazwischen einen biederen Ländler oder einen frisch in Wien fabrizierten Walzer. Das Publikum zeigt sich rasch vor Torschluß in einer neuen Funktion. Die während der Fahrt hin und her gelaufen sind oder bleich und gelangweilt unter Decken gelegen haben, tanzen jetzt. Manche haben einen ganz befremdlichen Rhythmus, den ihnen keiner zugetraut hätte. Eine kleine bläßliche Dame, die sechs Tage lang in ein und demselben wässerigen Roman herumgeplätschert ist, hat plötzlich den Teufel im Leibe. Der Schwerenöter und Kartenschärfer vom Tisch nebenan tanzt mit seinem Flirt: der Flirt hält seinen Lockenkopf an das Plastron glattgepreßt, es ist, als tanzten zwei Rücken herum. Die männliche Hälfte aber tanzt wie ein junges Mädchen.

Die Matrosen haben's nicht leicht diese Nacht. Einer versichert mich: heute wird nicht geschlafen. An Backbord liegen schon die Postsäcke aufgeschichtet; morgen früh kommt der Postdampfer und nimmt sie auf. Eine Stunde, ehe wir in Hoboken einlaufen, sind die Säcke an die Bahnen verteilt. Ich steige über den Strick und sehe mir die Labels auf den Säcken an. Port au Prince, Yukon Pacific, Nicaragua – ich höre die Reiselust förmlich wiehern in mir.

Auf dem Deck der zweiten Kajüte starrt ein riesiges Loch im Boden. Der Kran zwingt aus der fünfstocktiefen Untiefe das Gepäck herauf, die Koffer, Kisten, die Fracht des Schiffes. Unaufhörlich kommt und geht die Riesenkette. Ich gehe um das ganze Deck herum und genieße den letzten Abend auf dem schönen, mir lieb gewordenen Schiff.

Vom Tanzboden her kommt ein Twostep geweht. Es 36 tanzen die Amerikaner, die Deutschen, die Spanier. Der ganze Tanzboden ist voll von Tanzenden. Ei was: May und Marjorie, die beiden Töchter des toten Mannes, tanzen mit. Recht der Jugend! Sie haben weiße Seidenblusen an, und die eine hat eine kleine schwarze Masche mit einer Diamantenagraffe an ihrer Brust befestigt. Sie tanzen sehr gut, ebenso der Bruder, ein wenig ausgelassen, – ausgehungert. Tanzt doch, ihr Lebenden. Ihr dürft es und könnt es, darüber besteht ja kein Zweifel.

Im Drawingroom sitzt der alte Kommodore mit seiner alten Frau. Er hat das Puzzle vor sich, es ist immer noch nicht weiter als bis zur Hälfte gelöst. Man kann es schon erkennen: es wird ein Gainsborough-Knabe mit einem Reifen sein. Das alte Paar arbeitet seit Bremen an dieser Aufgabe. Hie und da nickt der alte weißhaarige Herr ein bißchen ein, seine Frau läßt ihn ruhig ein, zwei kleine Schnarchtöne ausstoßen und lächelt ihm dann zu, wenn er aufwacht und wieder nach den Holzplättchen greift.

Die Frau des toten Mannes sitzt in einer Ecke und legt Patience. Ich lasse es mich eine Viertelstunde kosten und sehe von weitem, die Augen über dem Buchrand, zu, ob die Patience aufgeht. Nach einer Weile wirft die Witwe den Talon mit den aufgelegten Karten zusammen und beginnt eine neue Patience. Auch diese mißglückt. Dann eine dritte. In dem Gesicht der Witwe ist kein Zug, der Hoffnungslosigkeit ausdrückte. Sie ist nicht mehr jugendlich, ihr Gesicht ist fahl und gelb, aber ich fühle, sie legt die Patience nicht nur, um sich die Zeit zu vertreiben.

Draußen ist die Nacht voll von Sternen. Die Zuschauer vor den Flaggen sind rar geworden. Die Stewarde spielen ihren letzten Twostep, ein paar unentwegte Paare tanzen noch unter den Glühbirnen dahin, May und Marjorie tanzen. Der Bruder steht mit der Lockendame an einer dunklen Stelle des Decks. Wie ich vorübergehe, sehe ich: er versucht mit der glühenden Spitze seiner Zigarette ihre Hand zu berühren. Er ist noch ein halbes Kind, dieser kindische Bursche.

37 Auf dem Deck der zweiten Kajüte, drei Schritte weit vom Tanzplatz, kommt und geht die große Kette. Aus der Untiefe hebt sie die Fracht des Schiffes, die Koffer und die Kisten herauf. Ehe ich schlafen gehe, sehe ich zu, ob nicht eine Kiste heraufkommt, die die Form eines Sarges hat? Und wirklich, da kommt eine herauf, die sieht aus wie ein Sarg.

 


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