Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Satyrspiel in Kansas City – und anderswo!

In der häßlichen dunkelgrauen Stadt am Zusammenfluß des Kansas River und des Missouri baut man an einer Ausstellung für Kinderwohlfahrt.

Convention Hall dröhnt von Hammerschlägen. Es wird gebaut, gebosselt, geklebt, genagelt. Eine Hütte ist schon fertig, da steht sie unter der Kuppel, ein realistisches Heim der tiefsten Armut, der realistische Düngerhaufen vor der einzigen Tür, die auch das einzige Fenster dieser Menschenbehausung ist, scheint auf künstlichem Wege seines Duftes beraubt zu sein. Es soll den Besuchern vor die Augen geführt werden, unter welchen Bedingungen die armen Kinder ihr Leben fristen. (Für 5 Cent führt die Tram den, der willig ist, diese 5 Cent zu bezahlen, nach den noch realistischeren Vororten der Stadt, zu den Schlachthäusern am Missouri, zu den scheußlichen Quartieren am Delta des Blue River, zu den verfaulten Holzhäusern, vor deren Türen der schmelzende Schnee monatealten Kehricht enthüllt, der dort geduldig überwintern wird.)

Holzwände werden errichtet, auf denen Photographien von fensterlosen Zimmern kleben, in denen sieben bis zwölf Menschen übernachten. Beispiele und 286 Gegenbeispiele von gesunden und gesundheitszerstörenden Vorratskammern, wenn man diese so nennen darf, für echte und größtenteils gefälschte Lebensmittel. Pathetische Aufrufe, grell gedruckt: »Es ist ein Verbrechen, den Menschen die Luft zu stehlen!« »Kauft gute Milch!« »Verjage die Fliege, sie ist dein Feind!« »Was ist mit Marys neuem Kleid los?« – Daneben ein Fetzen von »echtem Schafwollstoff«, der zu neun Zehnteln aus Baumwolle besteht, von einem armseligen Kinderkittelchen aus Worsted, durch das man nach einer Woche alle fünf Finger durchstecken kann.

Das Eine nimmt einen wunder, wie die Arbeiter, die pfeifend und guter Dinge diese verlogenen Papierwände, mit ihren Photos, Plakaten, Aufrufen und Gegenbeispielen zusammennageln, nicht mit Fußtritten in all den Kram hineinfahren, die einzige Kritik liefern, die solchen Wohlfahrtsunternehmungen zukommt?

Auch über die Vergnügungen der Jugend gibt diese Ausstellung Aufschlüsse. Im Kinematographentheater ist der beliebteste Film:

»Die berühmten Taten der James-Jungen, der gefürchtetsten Verbrecher Missouris.«

Mit der Bemerkung unter dem Plakat:

»Nachdem dieser Film gezeigt worden war, begannen die Knaben auf den Spielplätzen mit Messern und Revolvern zu erscheinen.«

Man erfährt aus der Inschrift unter der Photographie eines Tanzsaales, daß

»Zehntausend junge Leute von Kansas City wöchentlich 5500 Dollar für Tanzen ausgeben.«

Darunter das Gegenbeispiel:

»Abendunterhaltung in den Heimen der Young Mens Christian Association.«

Man sieht sich nach irgendwelchen statistischen Tabellen, Photos, Aufrufen und Plakaten um, die über das furchtbare amerikanische Problem der Kinderarbeit 287 Aufschluß geben könnten. Aber ich glaube, auch in der fertigen Ausstellung wird darüber wenig zu erfahren sein.

Zum Glück gibt es noch Orte, an denen man was über dieses nationale Problem, Übel, Unglück erfahren kann, Menschen, die ihr Leben daran gesetzt haben, diese schaurige Schwäre an dem Körper des gesunden Amerika zu sondieren, auszubrennen, wegzuschneiden. Diese Menschen sind nicht unter den »Wohltätern« zu suchen. Sie sitzen nicht in den protzigen Salonen der fünften Avenue unter den Milliardärsfrauen, die an den Effekt ihrer Hüte denken, während eine Spanne unter ihrem Hut das Mundwerk von sozialen und kirchlichen Fragen überläuft, sondern man findet sie in den Kammern der Träumer, wohl auch in den Klubs der »Insurgenten«, unter den Sauerteig-Menschen des Großen Kontinents hier und dort verstreut. –

 

Die Sozialisten sind die einzigen, die die Einstellung der Kinderarbeit in den Staaten fordern. Die beiden großen politischen Parteien Amerikas spielen bloß mit dieser Frage herum. Die Kinder sind ja keine Wähler. Andrerseits aber sind die Eltern dieser Kinder, deren Erwerb zur Aufrechthaltung des Hausstandes herhalten muß, Wähler. Die Partei, die die Eltern der Stütze der Kinderarbeit beraubte, verlöre Wähler. Die Kinder gehören keiner politischen Partei-Organisation an, haben keinen Korruptionsfonds, keinen Lobbyisten (d. h. beruflichen Bestechungsagenten in der Vorhalle, der Lobby in Washington), daher ist ihre Lage nicht beneidenswert.

In den Anthrazitminen Pennsylvaniens arbeiten zwölftausend Kinder, von 7 bis 14 Jahren, neun Stunden lang, mit einer Mittagspause von 20 Minuten als Breakers. Ein Breaker sitzt rittlings über einem schrägen Schacht, durch den von oben die Kohle hinunterläuft; er muß mit seinem Hammer die großen Stücke klein schlagen; nach einer Stunde solcher Tätigkeit sind seine Poren, nach einem Tag ist seine Lunge voll von Kohlenstaub.

288 In den Baumwollspinnereien von Süd-Carolina, den Seidenwebereien von Georgia, Louisiana, stehen kleine neunjährige Mädchen von 7 Uhr abends bis 7 Uhr früh an den Webstühlen. Das elektrische Licht blendet ihre Augen. Sie müssen auf die blitzenden Schifflein achtgeben, die den Einschlag durch die Fäden führen. Sie dürfen sich nicht setzen 12 Stunden lang. Es gibt viele elfjährige Kinder in den Städten des Südens, die blind mit kleinen Blechtellern durch die Straßen gehn!

Wovon wäre noch zu berichten? Von den Bleichereien in Nord-Newyork, wo Knaben bis über die Hüften in blauen Farbbädern stehn; von den Bürstenfabriken in Connecticut, von den Phosphorwerken, in denen der berüchtigte weiße Zündholzkopf fabriziert wird, von den Schuhfabriken, in denen Kinder die Tennisschuhe mit Äther schön weiß färben, von wie vielen anderen Stätten noch?

Die Arbeit der Kinder wird schlecht bezahlt. Sie repräsentiert die niedrigste Stufe der Arbeit, zu der keine Vorkenntnisse erforderlich sind. Den erwachsenen Leuten, dem Analphabeten, dem der Landessprache unkundigen Einwanderer schnappt das Kind sein Brot vor dem Mund weg. Es gibt Fabrikationszweige, in denen der Fabrikant ohne die Kinderarbeit nicht mehr auskommen kann. Der Fabrikant, der die Kinder heute aus seinem Betriebe entläßt und sie durch höher bezahlte Arbeiter ersetzt, hält morgen der Konkurrenz nicht mehr stand und ist übermorgen ruiniert. Das Verbot der Kinderarbeit würde gleichbedeutend sein mit dem Ruin von so und so vielen Fabrikanlagen. Spinnereien, Bergwerke und Bläsereien, die Kinder arbeiten lassen, gehören Leuten, die ihre Kapitalien in den Eisenbahnen investiert halten; wer der Kinderarbeit zu Leibe geht, sägt an dem Lebensnerv Amerikas, der Eisenbahn herum; ein Grund mehr, weshalb der Kampf gegen die Kinderarbeit so unpopulär ist.

Sechs Staaten haben annehmbare Gesetze, die sich auf die Kinderarbeit beziehen (hauptsächlich westliche); kein einziger aber schließt sie völlig aus. Natürlich haben jene 289 Staaten, deren Industrie hauptsächlich auf der Kinderarbeit basiert, die laxesten Maßregeln gegen sie. Zuweilen verbietet ein Staat die Kinderarbeit in gewissen Betrieben innerhalb seiner Grenzen. Das hat z. B. Tennessee einmal versucht. Was geschah? Die Kinder wurden in Waggonladungen aus Tennessee nach dem Nachbarstaat Süd-Carolina verfrachtet. Die Fabriken in Tennessee konnten zusperren, die Fabriken in Süd-Carolina zahlten fette Dividenden.

Vor 5 Jahren kam ein Gesetzentwurf vor den Kongreß, der bezweckte, mit diesem nationalen Verbrechen endlich aufzuräumen, den Produkten der Kinderarbeit den Markt zu versperren – eine Untersuchung wurde eingeleitet, die die weiteren Verhandlungen ad calendas Graecas hinausgeschoben hat, und der siegreiche Lobbyist steht wie immer zwischen dem Volksgewissen und der Exekutive.

 

Kansas City ist die größte Stadt zwischen Chicago, der Grenze des Ostens und dem freien, unermeßlichen und schütter bevölkerten Westen der Staaten. Sie liegt da zwischen der Prärie und der Zivilisation. Alles was der einen entfliehen will und der anderen zustrebt, kommt hier durch. Wie in ein tiefes Loch fallen die Tramps, von beiden Seiten her kommend, in diese Stadt hinein – aus der »vierten«, der Gratisklasse (unter dem Waggonboden). Sie ziehen in dieser Stadt ein, angetan mit allem, was sie auf dieser Welt ihr eigen nennen – 290 einem zerlumpten Gewand und dem guten blanken Sechsläufer in der hinteren Hosentasche.

Im Haus zur »Hilfreichen Hand« predigt ein wohlmeinender Herr vor einer schläfrigen und apathischen Schar von elenden Vagabunden, die ergeben und gierig auf die Suppe wartet. Immerhin muß sie noch, eh die Suppe serviert wird, ein Psalmenquartett hinunterschlingen, das vier überzählige alte Wohlfahrtsjungfern der guten Gesellschaft von der Estrade herab über die verpestete Atmosphäre ausgießen. Hinweg zum Mississippi! 291

 


 


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