Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Vorsätze

Hier auf Deck sitze ich neben einem vornehmen Amerikaner, mit dem ich über seinen und meinen Kontinent spreche, zuweilen gibt er mir auch Ratschläge. Er ist ein feiner, gebildeter Mann. Er kommt aus Kiel, hat mit seiner Jacht einen ersten und einen zweiten Preis gewonnen und hat mit dem Kaiser gesprochen. (Der Kaiser hat ihn gefragt, wie sich die gute Gesellschaft Amerikas gegen die reichen Juden verhält, und mein Nachbar hat dem Kaiser Antwort gegeben.)

Wie gesagt, er erteilt mir zuweilen Ratschläge. Ich sage ihm: ich will drüben mir ansehen, wie Amerika mit den armen Leuten umgeht, das interessiert mich sehr. Darauf erwidert er: ich dürfe es nicht versäumen, nach Newport zu fahren, wo die Reichen beisammensitzen. Ich sage, eigentlich mache ich diese weite Reise nicht so sehr um der Milliardäre willen, von ihrem Anblick habe ich gewissermaßen schon in Europa genug gehabt. Der Herr sagt: niemals werde ich ein abgerundetes Bild Amerikas gewinnen und mir notieren können, wenn ich nicht auch in Newport die smarten Leute habe tanzen sehen. Ich sage: ich bilde mir nicht ein, in ein paar Monaten und etlichen Kreuz- und Querfahrten durch den unbedeutenden Erdteil Amerika ein rundes Bild zusammenzukriegen. Ein Schriftsteller ist nicht so gut dran wie ein Maler, sagen wir, wie Whistler, der auf seinem Bild: »Die Reede von Valparaiso« mit zwölf oder fünfzehn Aquarellstrichelchen auf silbergrauem Grund die Atmosphäre eines Erdteils festhält, und fertig!

Gewiß, ich werde um die Straßenecken sicher nicht Theorien nachjagen, sondern lebendigen Dingen, und ich werde mit dem neuen Kontinent hauptsächlich mein Gefühl für die Welt und die Menschen nähren. Dieses Gefühl ist zur Zeit ziemlich stark in mir und braucht eine kräftige, gesunde Kost. Ich will's weder an den Tafeln der Reichen füttern, noch durch die Abfälle der Gosse hinter 29 mir herschleifen. Ich will, wenn's mir grad paßt, einschichtig und, wenn's mir paßt, gesellig, mit meinem Gefühl durch den Kontinent spazieren gehen und gut zuschauen, was für ein Gesicht mein Gefühl zu den Dingen macht, die uns begegnen.

Gleich in der ersten Stunde, wie ich an Bord des »Kaiser Wilhelm der Große« gekommen bin, habe ich mir vom Decksteward einen Stuhl an Steuerbord aufklappen lassen, obzwar ich gut wußte, daß man an Backbord geschützter sitzt. Ich habe mir vorgenommen, die erste Nacht oben auf Deck so lange auszuhalten, bis ich von meinem Stuhl aus die Feuer Englands werde leuchten sehen; so lange wie möglich den Blick nach dem Westen haben. Und gäb's auch weiter nichts zu sehen, als ein armseliges Feuerschiff draußen vor einer der gefährlichen Sandbänke an der Ostküste des alten Englands.

Die friesischen Inseln waren schon am Vormittag verschwunden, nun ging's durch den Kanal. Links die Niederlande, Belgien, Frankreich, rechts die Inseln von Großbritannien: das war der Weg durch die Länder, den die Gründer der Reiche drüben in der neuen Welt eingeschlagen hatten, als sie ausgezogen waren in ihren harten Kästen. Unser braves Schiff, unser vierschlotiges Monstrum, unser tüchtiger Karrengaul pflügte seine Furche durch historisches Wasser, wenn man sich so ausdrücken darf.

Wenn ich schon die Dinge drüben wie ein Bauer ansehen will, wie ein Auswanderer, dem die ersten zwanzig Tage nach seiner Ankunft am Pier in Hoboken bei Gott wichtiger sind als die zwanzig und mehr Jahrhunderte vorher – und wenn mir auch die lustige Seebrise, die mir gleich in der ersten halben Stunde den Hut von der Schnur riß, all das Geschichtliche aus dem Hirn herausgekämmt hat – kein Mensch konnte mich daran hindern, mit Rührung zwischen den Küsten hindurchzufahren, von denen all die kühnen und wagemutigen und auf Gott vertrauenden Nußschalen abgestoßen und 30 hinausgeschaukelt sind den gleichen Weg lang, den die Schraube da unten unsern »Kaiser Wilhelm der Große« entlang wirbelt.

Niemand konnte mich daran hindern, daß ich mit intensiverer Rührung als an die Reichsgründer auf der Backbordseite, die holländischen Landgrapscher und die französischen Eisenfäuste pour le Roy, an die Leute rechts von mir, die Leute Englands denke, und an den Spruch Emersons: der Amerikaner sei im Grunde nur die Fortsetzung des englischen Geistes (English Genius) unter neuen und veränderten Bedingungen.

Für englischen Geist brauchte ich nur: Freiheit des Individuums und Respekt vor dieser Freiheit des Individuums zu setzen und für veränderte Bedingungen: Abwesenheit von Tradition, Vorurteilen, Historie – und da hatte ich einen guten Grund, weiß Gott, nach Amerika zu den Amerikanern zu reisen.

Aber da war noch eine Vorstellung aus der Kindheit, aus einem alten Buch daheim: es handelte von den sympathischen blassen Puritanern, die auf der »Mayflower« ausgezogen waren, um im gefährlichen Weltteil so etwas wie das Reich Gottes zu gründen. Das Reich Gottes, das nicht viel anders ist, als eine höhere Form von freiem Beisammenhausen von Menschen, die sich von innen heraus regieren. Einige Splitter, zerstreute Stückchen vom Reich Gottes drüben zu finden, das war im Kanal und ist auf hoher See meine Hoffnung, sagte ich meinem Nachbarn.

Die Nachkommen der Puritaner drüben in dem demokratischen Erdteil sollen ja jetzt einen Klub, eine Art aristokratischen Vereins gegründet haben, höre ich. Und der Ausdruck: »Deine Vorfahren sind auch nicht mit der Mayflower hieher gekommen!« soll für den Angeredeten eine ähnliche schimpfliche Bedeutung haben, wie drüben in Europa etwa dieser Ausspruch: »Deine Vorfahren sind auch mal mit alten Hosen auf dem Rücken durch die Dörfer gezogen!« Aber, hol's der Teufel, wenn schon was 31 Aristokratisches da sein muß, so soll's doch lieber von den Rittern des reinen Gotteswortes herkommen als von den erlauchten Wegelagerern und Schnapphähnen jenes alten Europas!

Ha! höre ich einen sagen: das ist mir ein netter Beweis für unhistorisches Denken. Zudem sind ja die Puritaner arge Inquisitoren und Auf dem Erworbenen-Sitzer gewesen.

Aber ich bin von der wunderschönen Meerluft um mich herum schon ins Schwärmen geraten, stehe an der Reling und phantasiere drauf los. Die Mayflower, etwas sehr Schönes, Reines, Fanatisches, etwas das mir mit Umgehung der historischen Notwendigkeit eine reiche, lebendige Freude an dem Erdteil einflößt, dem wir entgegentreiben – ein altes Buch aus der Kindheit, wie gesagt!

Jemand klopft mich auf die Schulter und fragt mich höhnisch: »ob ich auch wisse, wie ein Puritaner ausgesehen habe?« Ich antworte: nun, ich denke, wie die Puritaner auf den schönen Stichen in Washington Irvings: »Didrik Knickerbocker's History of New York!« Darauf sagt mir der Mann: »Ja, wohl! Viel mehr aber haben sie noch ausgesehen, wie ein Londoner Sonntagnachmittag!« Darauf drehe ich mich lebhaft um und sage dem Mann ins Gesicht: »Gut, daß Sie mich daran erinnern!«

Denn grad einer dieser berüchtigten und merkwürdigen Londoner Sonntagnachmittage, vor dem der phantasielose Kontinentale mit Siebenmeilenstiefeln Reißaus nimmt, verursachte es, daß ich jetzt auf diesem Schiff sitze, an der ungeschützten Steuerbordseite, von der ich Englands Feuer gesehen habe und seither, seit vier Tagen, nichts mehr als das Wasser und den Himmel und die untergehende Sonne jeden Gottesabend noch dazu!

Ich habe es nicht vor, auf die Jagd in die Vernunftgründe zu gehen, wenn es sich um etwas so Herrliches wie eine Reise über See, durch gewaltige Städte, unendliche Prärien und Seen so groß wie Meere 32 handelt. Sondern ich will lieber dem kleinen tickenden Schlag nachforschen, der einmal vom Herzen hinauf ins Hirn geklungen ist, und der elektrische Funke war da und die Lust entfacht, und es mußte nur noch die Zeit abgerollt sein, die auf diesen irdischen Wegen den Wunsch von der Erfüllung trennt. Und dieses kleine Ticken, diese kleine Explosion des Motors hier drinnen habe ich an eben solch einem stillen und lautverlassenen Sonntagnachmittag gehört, vor einem Jahr etwa, in London, wie gesagt. –

Das war der Sonntagnachmittag, an dem ich den kleinen Narren im Hydepark hab predigen hören und den Kolonisten mit Weib und Kind in der Shaftesbury-Avenue hab mit dem Policeman stehen sehen und aus dem Anblick dieser beiden und aus der plötzlichen Erinnerung an das alte Kindheitsbuch von den Puritanern und der »Mayflower« hat sich der Kontakt: Amerika ergeben und ist dagewesen und geblieben ein Jahr lang.

Die Leute, die in den Vernunftsgründen beheimatet sind und Liegenschaften besitzen, sie wissen nichts von den Wegen der Seele und dem Dickicht, darin die Vögel singen und zwitschern. –

Der kleine Narr im Hydepark war ein kleiner Narr, und ich müßte noch heute lächeln über ihn, glaubte ich nicht, daß die Zinzendorfs und die Menno Simon und Abadie und Fourier und die Leute von Oneida wohl ähnliche Narreteien an sich gehabt haben, und alle die großen Unzufriedenen und ins Irre laufenden Vorläufer jener, die heute unzufrieden sind, aber die Straße endlich gefunden haben.

Er hatte eine große Tasche mit sich in den Park gebracht, wo an den Sonntagnachmittagen jeder reden und predigen und schwätzen darf, was ihm beliebt, für Gott und gegen die Kirche, für den Menschen und gegen den Staat, keiner wird ihm das Wort verbieten hier in der freien Luft des alten Englands. Weder die Luft noch England wird um ein Atom schlechter dadurch. Ich 33 wurde auf den Narren aufmerksam, als er anfing, seine Tasche auszupacken, er hatte sein Podium mitgebracht in ihr. Vier dicke Ziegelsteine, drei davon waren aus Holz, und der vierte war die Bibel. Die drei Holzstücke legte er so auf die Erde, zwei nebeneinander, das dritte auf das rechts liegende, denn sein rechtes Bein war kürzer als das linke. Es war ein hinkender Narr, dieser Narr am Sonntagnachmittag. Er bestieg sein Podium, schlug auf seine Bibel und begann zu sprechen. Seine Sprache war die des wenig gebildeten Londoner Vorstadt-Cockneys, ich hatte Mühe, ihm zu folgen, aber sein Gesicht war schön und sein Feuer rein, nur wenige unter den Hörern lachten ihn aus.

Was er redete, war eine große, in der Woche einstudierte Rede gegen die presbyterianische Kirche, die mit dem Gotteswort Geschäfte macht, gegen die Mächtigen, die die Bibel gefälscht haben, denn die Bibel strotzt vor Widersprüchen, und die Reichen fahren gut dabei, gegen das Parlament, das eine Lüge ist, und den König, der eine Lüge ist, und für Jesus, der arm und wahr war und dessen Worte klar durchstrahlen durch alle die Fälschungen hier in diesem Buch da usw. Ich werde mich hüten, zu erzählen und zu berichten, was er zusammenredete (ich könnte es, denn ich habe mir Notizen gemacht), er war ein ziemlich naiver Narr, dieser kleine, windschiefe Sonntagnachmittagsparkredner. Aber ich glaube, um des Tonfalles willen, in dem er von dem wahren Jesus sprach, hätten ihn die Pilgerväter auf der »Maiblume« mitgenommen, und im Klub drüben säßen heut einige Aristokraten mehr.

Der andere aber war der Kolonist. Seine junge Frau stand neben ihm, und er hatte sein kleines schlafendes Kind auf dem Arm. Das Kind hatte eine kleine blaue gehäkelte Mütze auf dem Köpfchen. Der Mann stand in einem alten abgetragenen, an den Schultern ganz grün gebleichten Militärmantel da, er hatte sehr schlechtes Schuhzeug an den Füßen. Er stand mit seiner Familie an der Ecke der Shaftesbury-Avenue im Sommerregen da und 34 erzählte einem Schutzmann, den er um Auskunft über die Straße gebeten hatte, in der sein Lodging war, daß er morgen in aller Früh nach Liverpool fahren wollte, von wo er mit der »Empress of Ireland« weiter hinausfahren werde.

Ich hörte den Namen des Schiffes, als ich an den vier Menschen vorüberging und ich sah das Kind auf dem Arm des noch jungen Mannes, und ich sah der Frau in ihr gramvolles Gesicht, ich glaubte, dies schon einmal gesehen zu haben: in dem wundervollen Bild von Ford Madox-Brown: »The Last of England«, das ich zu Hause in einer Mappe mit anderen Reproduktionen der englischen präraffaelitischen Schule liegen habe.

In meinem Boardinghouse erkundigte ich mich dann beim Abendessen, wohin die »Empress« fahre, und man sagte mir, daß sie nach Kanada fahre. Und dann, während ich nachts aus meinem Fenster auf die alten Bäume des kleinen Bedford square hinaussah, da wußte ich es in mir drin, etwas war geschehen, ich werde bald in die Welt hinausfahren, und ich wußte sogar schon die Richtung mir anzugeben.

 


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