Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Die Katze in der Klavierfabrik

Der Besuch der Schlachthäuser in Chicago ist einigermaßen in Verruf geraten bei den Schriftstellern, die nach Amerika reisen. Der ausgezeichnete Wells lehnte es ab, zuzusehen, wie unschuldige Tiere in Scharen zusammengetrieben und die Wehrlosen dann zum Tode befördert werden. Andre Geister geringeren Kalibers haben dann Wells Exempel nachgeahmt. Ich vermute, Grund dieses Zurückhaltens ist weniger das Mitleid mit den Tieren als die außerordentliche und endgültige Schilderung, die Upton Sinclair in seinem Meisterroman »The Jungle« von den »Packinghouses« entworfen hat. Ich sehe nicht ein, warum man um zehn Uhr früh nicht zusehen soll, wie die Rinder und Schweine gestochen werden, die man in Form von Filets und Karbonadeln sich um halb zwei zum Lunch servieren lassen wird. Wichtiger als das Schicksal der Tiere, die abgestochen werden, scheint mir das Schicksal der Menschen zu sein, die sie abstechen. Daraufhin habe ich mir Armours Schlachthäuser angesehen.

Ich traf Sinclair einen Monat später in Newyork und sprach mit ihm über sein Buch. »The Jungle«, ein Werk, das man nicht laut genug preisen und über die Flut der zeitgenössischen Produktion in die Höhe halten kann, ist das Werk eines Sozialisten. Er hat die Mißstände dieses die ganze Welt angehenden Getriebes aufgedeckt, sie der Welt zu bedenken gegeben. Ihm war's mehr darum zu tun, die Welt über die erbarmungswürdigen Zustände aufzuklären, in denen die Arbeiter der Schlächtereien leben, die wirtschaftlichen Zusammenhänge zu erklären, die diese Menschen ruinieren – als von dem Fleisch zu reden, das hier unter den unzulänglichsten hygienischen Bedingungen für den Konsum verarbeitet wird. Allein, wie Sinclair von der Wirkung seines Buches auf das amerikanische Publikum sagt: »I wanted to hit them in the heart, I hitted them in the stomach!« Er wollte sie in die 304 Herzgrube treffen, aber er hat ihnen auf den Magen geschlagen. Jetzt thront in dem dunklen, schimmligen, übelriechenden Korridor, wo die armen bleichen Mädchen von 7 Uhr früh bis 7 Uhr abends die Fleischscheiben in Blechdosen packen, eine Maniküre, weithin sichtbar für die Besucher, die an ihr vorübergetrieben werden. Als ein Zeichen dafür, daß die Fleischscheiben von täglich geputzten Fingern in die Büchsen gestopft werden, thront sie da im Korridor. Ihre polierten Nägel glänzen im Schein der Glühbirnen. Sie sitzt, ein bis in den Tod gelangweiltes Schauobjekt, mitten in dem Gestank da und liest, während die anderen um sie fieberhaft arbeiten, einen abgegriffenen Roman. Wahrscheinlich »the Jungle«.

Sonst ist aber alles beim alten geblieben. Rings um die kolossalen Festungen der Schlachthäuser erstrecken sich Quadratmeilen weit die offenen Holzställe, in denen Rinder, Schafe und Schweine auf ihre Apotheose warten. Zuweilen öffnet sich ein Tor, die Tiere strömen heraus, werden durch Schleusen und Verschläge, die sich vor ihnen auftun, durch ein Labyrinth von Pfaden und Winkelstraßen zu einem gedeckten Gang getrieben, auf eine Seufzerbrücke hinauf, an deren Ende das blökende, quietschende muhmuhende Gewimmel gradenwegs in seinen messerscharfen Tod hineinfällt.

Da ist die runde Riesenscheibe aus Holz, auf der sich, an den Hinterfüßen aufgehängt, die strampelnden Schweine drehen. Vor der Scheibe steht ein kleiner vierschrötiger Kerl mit einer spitzen Stahllanze. Dreht die Scheibe einen Schweinebauch in die geeignete Höhe, so macht der Kerl in das Schwein den ersten kurzen Schnitt, von oben nach unten. Das strampelnde Opfer merkt erst jetzt, worum es sich eigentlich handelt, stößt ein Angstgequieke aus wie ein gebranntes Kind, spritzt dem Kerl einen dünnen, heißen, roten Strahl ins Gesicht, über den Leib und die Mörderhände und ist vermittels einer Kette schon zum nächsten Schlächter weiterbefördert, der einen ebenso kurzen, eleganten und systematischen 305 Schnitt an ihm vollführt. Hundert Schritte weiter ist das Tier bereits nach allen Regeln der Kunst abgebrüht, enthaart, in seine Bestandteile zerlegt, in die Kühlräume gebracht, die Spur seiner Erdentage ist ausgelöscht und sein Beruf als Menschennahrung hat feste Form angenommen.

Die Scheibe dreht sich und der Vierschrötige macht seinen ersten Schnitt. Seit dreißig Jahren steht er da und macht seinen ersten Schnitt sicher und selbstbewußt, wie ein Bankdirektor seine Unterschrift unter ein Schriftstück setzt. Er verdient viel Geld, 60 Cent die Stunde, und ist eine repräsentative Figur des heutigen Amerikas, so gut wie Dowie, Rockefeller und Roosevelt. Er hat dreißig Jahre lang das Tempo ausgehalten – 25 Tiere in der Minute, das macht 1500 in der Stunde, gleich 15 000 für den zehnstündigen Arbeitstag. Dreißig Jahre lang ist er im Speed Amerikas auf seinem Posten geblieben, Schweinemillionen hat sein Lanzenritz dorthin spediert, wo der Fleischfreßtrieb der Menschen sie hin haben wollte. Verachte ich diesen Mann wegen seines Gewerbes, seines gleichmütigen, unbewußt rohen Naturells, der inmitten von Todeszuckungen, dünnen roten Strahlen und Angstgequietsch seinen und seiner Familie Unterhalt erwirbt? Keine Spur! Ich bewundere ihn um seiner Kraft und seines Tempos willen.

Mag er immerhin ein Unmensch, ein Untier, ein Unding, eine Boschsche Höllenausgeburt sein – ein Maßstab und Messer der Menschenkraft, ein Rekordbestimmer der Tüchtigkeit, auf die's in seinem Beruf ankommt, ist er, ist er!

 

Ein Feind, nicht der Schweine, sondern seiner Mitmenschen, dazu. Das ist dieser Boschsche Höllenkerl. Seine Tüchtigkeit ist es, die ihn zum Feinde seiner Mitmenschen macht, diesen da, der den Speed aushält. Es ist ja ein Gesetz von Anfang her, der Tüchtige ist der Feind des minder Tüchtigen. Aber in diesem Land, das 306 aus der Tüchtigkeit eine Religion gemacht hat, eine Religion, deren Tempel gleich neben dem der Demokratie sich erhebt und – nicht nur in den Geschäftsstunden – stärkeren Zulauf hat, im heutigen Amerika hat dies Gesetz einen kleinen Zusatz, eine Ergänzung erfahren, und zwar diese: Der Tüchtigste ist zugleich auch der Feind des Tüchtigsten. –

Ein Mann namens Frederik Taylor war jahrelang als Ingenieur in den Bethlehem-Stahlwerken, die dem Carnegie-Trust gehören, tätig. Auf dem Weg von der Gießerei ins Bureau und zurück blieb er zuweilen auf dem Hof stehen und sah zu, wie die Roheisenklumpen, die sich dort im Freien sonnten, von Leuten auf Karren verladen wurden.

Ein kleiner Deutscher, den er in seinem Buch (»Scientific Management« by F. Taylor, ich glaube bei Macmillan erschienen) schonungsvoll Schmidt nennt, lenkte durch sein Gebaren Taylors Aufmerksamkeit auf sich. Dieser kleine Deutsche war ein kräftiger Bursche, der es zuwege brachte, täglich etwa 12½ Tonnen »Pig-Iron« auf die Karren zu laden. Für einen Taglohn von 1:15 Dollar leistete er diese Arbeit. Taylor sah dem Burschen zu und erkundigte sich beim Aufseher nach dem Privatleben des kleinen Deutschen. Schmidt war Familienvater, hatte sich von seinem Lohn ein Stückchen Land vor der Stadt erworben, auf dem er täglich eine Stunde, eh er in die Werke kam, eine Stunde, nachdem er abends heimkehrte, mit eigenen Händen ein Häuschen baute, für sich und die Seinen, um darin zu wohnen.

Dieser Schmidt ist ein Dieb! sagte sich Taylor. Die zwei Stunden Arbeit, die er an seinem Häuschen tut, beweisen, daß er zwei Stunden Kraft den Bethlehem-Stahlwerken entwendet, die ihm diese Kraft doch für 1:15 Dollar pro Tag abgekauft haben, das ist klar.

Taylor ließ Schmidt kommen und frug ihn, ob er nicht gern 1:85 Dollar verdienen möchte? Schmidt bejahte diese sonderbare Frage, konnte sich aber nicht enthalten, 307 Taylor nach den Bedingungen zu fragen, die als Gegenleistung von ihm verlangt würden? Taylor rief hierauf einen Aufseher und ging mit dem Aufseher und Schmidt in den Hof zu den Eisenklumpen hinaus, wo er den beiden ein paar Körperbewegungen vorzumachen begann.

Schmidt ahmte auf Wunsch Taylors diese Körperbewegungen nach, arbeitete im Tempo, das ihm Taylor mit: Eine – zweie – dreie bestimmte, setzte sich zur Ruhe hin, wenn Taylor »Rührt Euch« kommandierte, . . . Schmidt fing an 1:85 Dollar pro Tag zu verdienen und dafür 47½ schriftlich: siebenundvierzig und eine halbe Tonne pro Tag zu verladen, (gegen 12½, die er bis zu diesem Tag bewältigt hatte), . . . Schmidt verdiente für seine vervierfachte Leistung anderthalbmal so viel wie früher. Sein Häuschen weiterbauen, das konnte er natürlich nicht mehr, dazu war er am Abend zu müde, am Morgen zu schlaftrunken. Das System Taylor aber war geboren, das System der »wissenschaftlichen Ausnutzung der menschlichen Kraft im Dienste der Fabrikarbeit«, das System des »Speedingup«, der Aufpulverung, wie ich es nennen möchte, das System der Anspannung und des Verbrauches der menschlichen Energie bis an die äußerste Grenze der natürlichen Bedingungen. –

Andre haben dieses System auf andre Gewerbe angewandt, Gilbreth z. B. auf das Maurergewerbe. Der amerikanische Maurer hebt den Ziegelstein nicht mehr mit beiden Händen, sondern mit der rechten Hand, derweil führt die linke den Spachtel in die Kalklösung. Auf diese Weise wird ein Ziegelhaus im Tempo von 350 Ziegeln die Stunde erbaut, statt wie bisher im Tempo von 120 Ziegeln die Stunde.

Ein neuer Typus des Aufsehers (oder haben die Pharaonen und Caracalla ihn schon vorgeahnt?) ist so in das amerikanische Arbeitsfeld eingetreten. Der Aufseher vor der Geburt des Taylor-Systems hatte die Pflicht, nachzusehen, ob die Arbeit richtig und pünktlich gemacht wurde. Der neue aber, der speedboss, 308 »Hetz-Vogt«, bestimmt das Tempo, die Stückezahl, die geliefert werden muß; er ist der Mann, einen Rekord von seinen Leuten zu verlangen; wer den Rekord nicht einhält, fliegt aus seinem Job und kann zusehn, wie er weiterkommt in diesem Leben. –

 

Was sind die Folgen dieser Stückarbeit, dieses mörderischen Tempos, für den Arbeiter und die Industrie?

Erst rangiert der Tüchtige den Untüchtigen aus, das ist selbstverständlich. Dann aber rangiert der Tüchtigste sich selbst, wie gesagt, den Tüchtigsten aus. Denn bei dieser Art von Arbeit wird natürlich ein solch ungeheures Plus an Waren produziert, daß die Fabriken immer öfter und für immer längere Zeit zusperren müssen, weil sie so schon nicht mehr wissen, wohin mit ihren aufgehäuften, aufgestapelten Lagern. Amerika produziert dreimal so viel Waren, als es selber konsumiert, und der Export hält mit dieser Überproduktion nicht Schritt. (Schmidt von den Bethlehem-Stahlwerken ist die unmittelbare Ursache der chinesischen Revolution, sei nebenbei bemerkt. Hätte der Stahltrust seine Exportgelüste nach dem Reich der Mitte bezähmt, so wäre Herr Sun Jat Sen nicht geradeswegs aus der Wall-Street in die Weltgeschichte hineingestiegen!)

Der Arbeiter also feiert einen Teil des Jahres, zehrt seine elenden Ersparnisse, wenn er dergleichen überhaupt hat, gänzlich auf und hat sich somit aus seiner eigenen Tüchtigkeit einen guten soliden Strick gedreht, wie man sieht.

Das System aber, das hundsföttische Stückarbeit-Schindsystem in seiner neuesten Variante blüht, erobert sich in dem weiten Amerika einen Fabrikationszweig nach dem andern, eine Fabrik nach der andern, streckt schon seine Fangarme zu uns herüber, nach dem Creuzot, nach Essen, nach dem Vogtland, überallhin. . . .

Eine weitere Konsequenz dieser Kraftausnutzung bis ins Extreme ist die – vorläufig – spezifisch-amerikanische Einrichtung der »Age Line«, der Altersgrenze. 309

Arbeitswillig   —   Verbraucht

Es ist in Amerika für einen Arbeiter, der die 40 überschritten hat, sehr schwer, eine Stellung in einem Fabriksbetriebe oder einem Geschäftsbetriebe zu finden. Es ist aber auch sehr schwer, mit 40 Jahren eine Stelle zu behalten. Der speedboss erstattet dem Chef eine kleine Anzeige, der brave, tüchtige Arbeiter erhält am Sonnabend in dem Kuwert mit seinem Wochenlohn einen Schreibmaschinenwisch und kann damit direkt ins Wasser gehn. Das ist das Gescheiteste, das er tun kann. Der Boß telephoniert an ein Bureau, Montag morgen um 6 stehen fünfhundert junge Männer vor dem Fabriktor, auf dem die Tafel hängt:

»We dont employ people over 40!«

und der Boß hat die Wahl unter den Kräftigsten und Jüngsten. –

In Newyork hat man mir einen Arbeiter gezeigt, der sich die Haare färbte; daß sich Arbeiter, eh sie in ihren Job gehn, die Schläfen mit Schuhwichse schmieren, gehört zu den alltäglichen Beobachtungen; welche legen Rot auf; andre geben 10 Dollar im Monat für »drugs« 310 aus, das heißt: für Arsenikpräparate, die die Herztätigkeit während der Arbeitsstunden künstlich stimulieren.

In Chicago las ich in einer Zeitung einen Artikel mit der Überschrift: »Was kann ein vierzigjähriger Arbeiter, der seinen Job verloren hat, beginnen?« Antwort: er kann z. B. Portier vor einem Kinematographentheater werden.

(Wie die organisierten Gewerkschaften, die die besten und tüchtigsten Arbeitskräfte um sich versammelt haben, dieser Tyrannei begegnen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß die großen Truste keinen organisierten Arbeiter aufnehmen mögen. Die »Unions« aber stehen, zufolge ihrer skandalösen Schikanen, die sich zumeist gegen die privaten und gewiß unschuldigen Arbeitgeber richten, im ganzen Lande in gewiß nicht unberechtigtem Verruf. Hierüber später.)

Heute zerreiße ich den Rest meiner Empfehlungsschreiben, die ich an allerhand große Kaufleute, Fabrikanten, Millionäre Chicagos mitbekommen habe und in meinem Koffer führte die ganze Reise lang. Siebzehnmal mindestens habe ich nun denselben Dialog mit Kaufleuten, Fabrikanten, Millionären geführt. Nach fünf Minuten fing mein Gegenüber an, auf die »Labour Unions« zu schimpfen, nach zehn hielten wir bei den Wohltätigkeits-Organisationen, und als mein Gegenüber dann aufsprang, zum Fenster lief, mir den Wolkenkratzer auf der anderen Seite der Straße zeigte zum Beweis für das wunderbare Wachstum des Vaterlandes, da wußte ich, die Zeit sei gekommen, meinen Paletot vom Nagel zu holen. Denn was nachher kam, waren vier neue Empfehlungsbriefe an Kaufleute, Fabrikanten, Millionäre, die den frommen Wunsch maskierten: Scher dich zum Teufel, Europäer. –

Was geschieht mit den Alten, Ausrangierten, Abgetanen, denen, die mit 40 noch nicht ihr Schäfchen auf dem Trocknen haben, ja es nicht mal zur Würde eines speedboss gebracht haben, mit den Opfern?

Zum Glück stirbt der amerikanische Arbeiter jung. – 311 Zu seinem Glück. – Zum Unglück Amerikas nimmt der Prozentsatz der Selbstmorde, der Geisteskrankheiten, der Verbrechen aus Not in Schauer erregendem Maße zu. – Irren-, Zuchthäuser schießen in die Höhe und können ihren Inhalt kaum fassen. – In Industriestädten bin ich nach Sonnenuntergang angebettelt worden wie nur noch in Rom und Neapel. – Wer von der hoffnungslosesten Erniedrigung der menschlichen Kreatur ein Bild gewinnen will, mag in die Volkshotels in Kansas City, in South Clark Street in Chicago, ja, in die vielgerühmten Mills-Hotels auf der Newyorker Ostseite gehn, mag um 1 Uhr nachts die »bread-line«, die Brotlinie vor den Toren einiger großer Speisehäuser, der Heilsarmee, der Brot- und Suppen-Missionen sich formen sehn, Häuservierecke lang, zweitausend, dreitausend kräftige Männer, die wortlos und geduldig warten, Hungernde, Arbeitslose, Bescheidene, Bettler, in der Nacht. . . .

Er mag sich auch in den Wohltätigkeitsämtern der großen Städte nach den »Hinterbliebenen« der Vagabunden erkundigen, die sich mit ihrem letzten Wochenlohn in der Tasche auf Nimmerwiedersehn nach dem lockenden wilden Westen aufgemacht haben!

 

Ein amerikanisches Problem schwerster Art ist das des Landstreichers, des Tramp. Die jüdische Bevölkerung, die jüdische Einwanderung stellt einen erschrecklich hohen Prozentsatz zu dieser »Berufsgattung«. Der arme jüdische Arbeiter, der schon entnervt, geschlagen vor der Schlacht, von den heimatlichen Pogromen anämisch geworden, ins Land der Freiheit und der siegreichen Energie kommt, hält selbstverständlich dem Speed nicht lange stand.

Tramp unterwegs

Er hat die Wahl zwischen Selbstmord, Erschöpfungstod, Wahnsinn und Verbrechen. Er wählt die Landstreicherei. Sans Adieu verläßt er, zumeist in einem Alter von 37 bis 40 Jahren, Weib und Kinder, wird ein »Bum« und verschwindet im Westen oder im Süden.

312 Der Amerikaner ist gutherzig, verhungern läßt er einen so leicht nicht. Der Arme tut keinem Armen was zuleide. Nur der Reiche tut dem Armen gebrannte Leiden an. Selbst der große Philanthrop und Friedensapostel Carnegie erweist sich bei näherem Hinschauen als der tückischste, erbarmungsloseste Leuteschinder. In den Pittsburger Werken gibt's noch eine 24-Stunden-Schicht, die berüchtigte Schicht des »Doppelten Lunch-Korbs«. Sämtliche »Schmutzaufrührer« des intellektuellen Amerikas haben sich an der Mauer um diese Pittsburger Ungeheuerlichkeit Beulen in die Schädel gerannt. Sobald es sich aber nicht mehr um Geschäft und Eintausch von Energie und Kraft gegen Geld und Nahrung handelt, kehrt Arm und Reich sozusagen wieder sein fühlendes Inneres nach außen.

Was riskiert der arme jüdische oder andersgläubige »Bum« bei der ganzen Geschichte? Schlimmer als in seiner Schwitzbude und seinem Massenquartier kann's ihm im Freien und bei den Leuten der weiten Einöde auch nicht gehn. Hat er sich erst zum Pazifik durchgeschlagen, so ist er ein Lazzarone oder doch etwas Ähnliches und fein heraus. Und wenn auch nicht? Den Tod sieht er immer noch als Tröster und milden Herbergsvater in der Ferne winken.

Mögen sich die Wohltätigkeitsvereine seiner »Hinterbliebenen« annehmen. Was schiert ihn Weib und Kind? 313 In ihrer Not und Verwaistheit wird ihnen wahrscheinlich sicherer durchs Leben geholfen werden, als er es zu seinen »Lebzeiten« vermocht hätte. Hat Er sie etwa auf dem Gewissen, sein Weib und seine Kinder?

 

Ohne einzelne Fabriken, die ich gesehen habe, zu denunzieren, muß ich sagen, daß ich auf dermaßen unhygienische, mörderische und verbrecherisch vernachlässigte »Shops« doch nicht vorbereitet war.

Daß ich selber heiler Haut aus diesen Räumen herauskam, in denen Treibriemen ohne Schutzgitter herumsausen, siedende Wachsmasse frei herumspritzt, Ätherstoffe ohne Maske auf Schuhleder gerieben werden, tausend Unzukömmlichkeiten auf Schritt und Tritt auffallen und einem das Gefühl revoltieren, dafür sage ich hiermit meinem Schutzengel, der mich auf der ganzen Reise getreulich begleitet hat, öffentlich tiefgefühlten Dank.

Unfallsversicherungen, Altersversorgung, Invaliditätspension und ähnliche zivilisierte Dinge kennt das demokratische Land des freien Wettbewerbes nicht. Neben den Bettlern mit heiler Haut fallen einem die Verstümmelten aller Kategorien peinlich auf. Rabelais könnte sich keine groteskeren Gesellen wünschen als diese im Getriebe des amerikanischen Fabrikwesens zu Schaden gekommenen Gestalten, die einem in den Straßen, in den Kneipen, an den Drehkurbeln der Lifte begegnen.

Es muß aber nicht gerade der körperlich Verstümmelte sein, dem sich das volle Mitleid des Betrachters zuwendet. Ärger ist es, was die heutige Produktionsweise mit der Seele des Arbeitenden anfängt. –

Die Scheibe, die die quietschenden Schweine dem 314 kleinen Vierschrötigen zuführt, in den Armour-Werken, wird durch das Gebot des speedboss in Bewegung gesetzt, und wenn sie sich bis heute mit einer Schnelligkeit von 25 Tieren in der Minute gedreht hat, so genügt ein Kurbelgriff, um sie sich morgen mit einer Schnelligkeit von 30 Tieren in der Minute herumdrehen zu lassen.

Wenn das armselige Wesen oben im Packsaal täglich 15 000 Blechdosen in Papier einwickelt – ihre Hände bewegen sich rasend rasch, so daß man die Finger kaum sieht – so genügt ein mißgelaunter Blick der Aufseherin, und sie wird morgen, bei Entlassungsstrafe, 16 000 und 17 000 Dosen einwickeln usw.

Unten in der Schlachthalle stehen die Schlächter in einer Reihe. Vor ihnen ziehen, mit dem dampfenden Leib, der noch blutet oder der schon durch das Laugenbad gegangen ist, die Tiere an den Ketten aufgehängt vorüber. Jeder von den Schlächtern hat eine einzige Bewegung auszuführen. Einer rasiert mit einem kurzen scharfen Messer die obere Partie um den Schwanz herum; der nächste in der Reihe rasiert die untere; der nächste trennt mit einem Schnitt den Schwanz vom Rückgrat ab; der nächste reißt das Eingeweide des Tieres aus dem Bauch heraus; der nächste wirft es auf einen Karren, der sich mechanisch unter ihm fortbewegt; der nächste trennt aus dem Eingeweide im Karren die Leber weg, usw.

Jeder dieser Menschen hat, von 7 Uhr früh bis 7 Uhr abends, denselben kleinen, aber wichtigen Handgriff zu vollführen; er muß aufpassen, daß er ihm gelinge, denn die Kette kennt keinen Aufenthalt. Sprechen, sich den Schweiß von der Stirne wischen, das Blut, das von den Kadavern spritzt, wegstreichen, wie könnte er das. Er kaut Tabak, das ist seine einzige Erholung, seine Erlösung. Was kümmert's ihn, wohin er seinen Tabakssaft spritzt, auf welche Weise er seine Nase erleichtert?

Vor ihm ziehn die Tiere an der endlosen Kette vorüber, hinter ihm ist der Aufseher her. Passiert nur ein einziges Tier, ohne daß der Schlächter seine Arbeit an 315 ihm verrichtet, so ist der Schlächter erledigt, und zwar gründlich.

Rechne es dir aus, wie oft ein Mensch, eine Kreatur mit diesem wundervollen Mechanismus des Herzens, des Nerven- und Gangliensystems, mit der staunenswerten Muskulatur des Armes, der Gelenke, der Hände und Finger in 10mal 60mal 60 Sekunden, die gleiche, immer gleiche Bewegung ausführen muß, damit jener Mechanismus, jenes Mysterium nicht stocke, erlösche, damit es notdürftig fort sich friste durch eine dunkle Nacht hinüber zu einem trostlosen Morgen.

Drüben in den schönen, lichten und blanken Hallen der berühmten Uhrenfabrik von Elgin sitzen 3700 Menschen, von denen jeder eine einzige kleinwinzige Verrichtung zu besorgen hat. Täglich werden dort 2500 Uhren hergestellt, jede Uhr hat 211 Bestandteile. Welche Blicke treffen dich, wenn du neugierig und wißbegierig an den Tischen der Arbeiter vorüberschreitest? Haben Dante in den Pfühlen der Verdammnis solche Menschenblicke getroffen? Und doch sind die, die von ihrer Arbeit aufblicken können, noch die glücklich zu preisenden unter den Sklaven dahier. Vor den meisten zischt und wettert und schlägt eine Maschine, die sie zu bedienen haben. Haarscharfe Nadeln bohren haardünne Löcher in kleine Kupferplättchen, ein Augenblick, ein um einen Millimeter zu weites Vorwärtsschieben des Fingers, und die Nadel fährt ins Fleisch, in den Fingernagel, das Brot verschwindet mit dem Bewußtsein, das den Körper mildtätig ein paar Augenblicke lang von seinen Schmerzen erlöst.

 

In vielen Fabriken, Warenhäusern usw. wurden mir kleine Broschüren über die Baseball-, Tennis- und Fußball-Mannschaften in die Hand gedrückt, sie handelten von den Taten dieser Mannschaften, der Fabriksmannschaften, in den freien Stunden nach getaner Arbeit.

Aber ich habe auch die »Whisky-Zeile« gesehen an der Grenze der Schlachthäuser und der Stadt, – wo der 316 Arbeiter seinen »Augenöffner« am Morgen hinuntergießt, ehe er an die Arbeit geht, um seinen Magen zur Aufnahme der Nahrung gefügig zu machen, die ihm bis zur Mittagspause hinüberhelfen soll – am Abend aber den Befreiungstrunk hinunterspült, womit er den Ekel und die Verzweiflung nach dem Tagewerk, nach den 10 Stunden, die ihm seine Seele vergiftet haben, loswird.

Mehr als das, was der Arbeiter nach den Arbeitsstunden mit seiner Zeit beginnt, interessiert es mich, zu erfahren: wie geht es ihm während dieser Stunden seiner Fron? Und die Sorge um das Seelenheil des Arbeiters während dieser Stunden ist, scheint's mir, ein weitaus wichtigeres Problem als alle Baseballteams.

Die Spezialisierung der Arbeit, durch die Massenproduktion hervorgerufen, bringt den Arbeiter immer mehr auf das Niveau des leblosen Maschinenbestandteils, des präzis und automatisch funktionierenden Stahlhebels oder Rades herab.

Der monotone Rhythmus ein und derselben Gebärde, eines und desselben Geräusches ertötet die Intelligenz, die Instinkte der selbständigen Aktion und die Triebe zur Unterscheidung, Wahrnehmung und Synthese; die Funktionen des Kleingehirns hören auf und das vollendetste Geschöpf der Natur sinkt mehr und mehr zum Tier hinab.

In den großartigen Universitätsstiftungen von Carnegie, Rockefeller, Morgan sitzen Menschen, die der Maschine den letzten Grad der Vervollkommnung zu geben suchen, um hierdurch ihre Mitmenschen in den Zustand der tiefsten Sklaverei hinunterzustoßen.

Dieser Tage hat im Klub der Kaufleute Chicagos der Dekan der Ingenieurfakultät an der Universität Cincinnati, Dr. Hermann Schneider, einen Vortrag gehalten. Er gab einige Erfahrungen zum besten, die in jüngster Zeit um die Erhaltung der kostbarsten Eigenschaft, der Quintessenz der Arbeitskraft, die Frische und Lust des Aufschwungs, gemacht worden sind. Es handelte sich dabei, 317 dies sei gleich gesagt, weniger um die Seelen der Arbeiter als um die Seele des Speed sozusagen.

Über einige Experimente, zum Beispiel das Vorlesen populärer Novellen in Zigarrenfabriken oder den unschuldigen Gesang in Blusennäherinnen-Ateliers, haben mir seither Freundinnen in Newyork berichtet. Das Experiment aber, von dem Dekan Dr. Schneider berichtete, ist so pittoresk, daß ich nach ihm das ganze Kapitel dahier betitelt habe. –

In einer Klavierfabrik in Ohio war's mit den Mädchen, die zur Fabrikation eines einzelnen an sich ziemlich belanglosen Bestandteiles verwendet wurden, nicht mehr zum Aushalten. Die armen Dinger wurden bleich, müde, apathisch und blieben schließlich ganz weg, um nicht wahnsinnig zu werden von der Monotonie ihrer Arbeit.

Der Boß der Abteilung sann hin und her, versuchte dies und das, versuchte es mit hübschen Dekorationen im Arbeitsraum, bequemen Sesseln, nichts half. Immer wieder desertierten die Mädchen dieser Abteilung, der Betrieb stockte, beeinträchtigte die anderen Betriebe ringsum, die ganze Fabrik. Endlich kam dem Boß die erlösende Idee. Er verschaffte sich eine schöne große maltesische Katze und brachte sie eines Morgens in den Arbeitssaal zu den Mädchen mit. Die Katze wurde sofort der Liebling und Abgott der Abteilung. Jedes Mädchen brachte ihr etwas, die eine irgendeinen Leckerbissen, die andere ein Bändchen, jene ein Glöckchen mit.

Der Korb der Katze wurde der Mittelpunkt aller mütterlichen Instinkte dieser armen Mädchen, die mit keiner Puppe spielen, kein Kind wiegen durften, sondern deren Los es war, zu arbeiten, zu arbeiten, ohne Unterlaß, ohne Hoffnung, endlos . . .

»Die geschäftliche Ausnutzung der eingeborenen Sympathie des Weibes für die Katze hat die Arbeitsleistung in dieser Abteilung um etwa zehn Prozent gehoben,« sagte Dekan Schneider. »Der gute Einfall des Vormannes tat auch in anderen Abteilungen seine Schuldigkeit. Man 318 hat in diesen ähnliche Stimulantien eingeführt, alle haben sich auf's beste bewährt.«

 

Chicago hat mich krank gemacht. In dieser Stadt habe ich die blutige Schande der heutigen Zivilisation von Angesicht gesehen, gesehen und erkannt. Soll ich fort? Wohin? Der Hölle entrinnen? Wo ist sie nicht? Die heutige Welt ist die Hölle.

 


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