Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Einfahrt

Elfter Juli früh. Den sechsten Tag haben wir nun kein Schiff gesehen!

Die Schiffszeitung erzählt Schauermären von einer Hitzwelle, die über Amerika hinübergestrichen ist. Hier draußen schon fühlen wir sie zwischen Haut und Hemd hindurchstreichen, diese Hitzwelle. Von Massachusetts, sagt man, haben wir sie her bekommen. Mir ist's egal, woher, sie ist infam. Jemand macht auf einen leisen Gestank in der Luft aufmerksam: das sei schon der Geruch von Newyork. Nun, das kann gut werden. Die Matrosen haben eine schlaflose Nacht hinter sich. Diese sympathischen, angestrengten Männer in zu weiten Hosen und mit Kinderkragen auf ihren kindlichen Blusen gehen geschäftig zwischen uns Passagieren hin und wieder. Das Hinterdeck ist mit Gepäck vollgestopft. Die Postsäcke liegen bis zur Decke aufgetürmt.

Auf Zwischendeck ist alles sehr munter und steckt in Sonntagskleidern. Auf einmal haben alle Kragen um die Hälse, sogar Itzig und seine Söhne. Nur Frau Itzig hat ihre Alltagstracht bewahrt, hellgrauer Rock, weiße Bluse, das heißt . . .

Jetzt rennt alles an die Reling. Dünne graue Striche sind am Horizont zu sehen, sie steigen, es ist das Land. Ein paar Schiffe kommen von Amerika her, Schiffe endlich! Eine kleine Rauchwolke nähert sich uns, rasch. Das ist der Pilot, heißt es. Da ist also die Neue Welt. –

38 Es dauert nicht lang, und der Pilot ist ganz in unserer Nähe. Ein Boot stößt von seinem Schiff ab. Die Strickleiter mit Holzsprossen kollert an unserer Schiffswand hinunter, der Pilot kommt an Bord des »Kaiser Wilhelm der Große«.

Drei fette alte Burschen, in Stadttracht und mit Zahnstochern im Mund, pusten sich die Leiter herauf – das ist der Pilot. Ich kann nicht sagen, daß diese ersten drei authentischen Amerikaner mich mit Enthusiasmus erfüllen. Sie sehen aus, als sollten sie uns im nächsten Augenblick mit den drei elementaren amerikanischen Unarten bekannt machen, Gummikauen, Spucken, Hemdärmeln. Sie tun aber nichts dergleichen, und unser Interesse wird bald durch andere Dinge von ihnen abgelenkt.

Man sieht jetzt mehr Schiffe und graue Streifen am Horizont. Berge, Farben, Inseln. Es ist ganz klar zu ersehen, was die Macht dieser Stadt dort im Hitzenebel begründet hat. Zwischen New Jersey und Long Island klafft ein Loch, und das ist die natürliche Pforte des Hafens. Dieser Hafen ist mit einer Unzahl von kleinen, unansehnlichen, schief im Wasser steckenden Pflöcken, winzigen roten Klingelbojen und Zeichen aller Art bespickt, der Pilot ist nicht überflüssig, weiß Gott.

Häuser werden sichtbar, Bungalos, Wald; ein silberner Strich unterm Grün, das ist Long Islands Strand; ein riesiges Rad, ich' höre, es steht auf Coney Island.

Und nun steigt auch schon, weit hinten hinter Long Islands Hügeln ein fester, durchsichtiger Rauch in die Höhe, eine Nebelfestung mit Türmen und Zinnen, schmal und fest zur Seite von Staten Islands Berg, der jetzt hervorkommt, weil wir uns drehen: das ist die Südspitze von Manhattan, die Stadt der Wolkenkratzer.

Der »Moltke« der Hamburg-Amerika-Linie fährt an uns vorbei, hinaus, die italienische Flagge vorn gehißt, nach Genua – adieu! Eine kleine Insel gleitet näher, von Staten Island her, auf uns zu; sie ist wie eine kleine, 39 kapriziös ausgezackte grüne Decke, aufs Meer flach draufgelegt. Eine menschliche Gestalt von ungeheuren Proportionen, Sonne in den grünen Falten ihres Gewandes, hat Fuß gefaßt auf ihr – dies ist Liberty Island, die Statue der Freiheit, die an der Pforte der Neuen Welt liegt: Freiheit, von Herzen Hurra, Hail Columbia! Hurra!!

Gleich dahinter, allerdings, die breiten niederen roten Häuser, halb Lazarett, halb Gefängnis, mein Freund erklärt mir, das sei Ellis Island, die Einwanderer-Insel, die schreckliche. (Von ihr später, viel später.)

Allerhand kleine Schiffe haben sich jetzt an unseren Flanken festgelegt; wir stehen still, wie ein Pferd, von Mücken belagert. Da ist das weiße Postschiff, das Sanitätsschiff, ich weiß nicht, was für welche noch. Die Jacht des New York Herald bringt die ersten wirklichen Zeitungen an Bord, Börsenkurse summen um uns her, aber auch andere Zahlen: heute 103 Grad Fahrenheit, achtzehn Tote bis Mittag. Bis herauf zum Sonnendeck, wo ich stehe, schwirren all die Zahlen her. Ich fahre jetzt, wir fahren auf die Riesenstadt zu, das Erste, was man von Amerika zu sehen kriegt und das Ungeheuerlichste zugleich. Es wächst, wächst am Horizont, höher, schaut jetzt aus wie eine Hand, die sich schmal und langsam in die Höhe streckt, man weiß nicht zum Willkomm oder wie eine Drohung.

Wie eine Hand, wahrhaftig, kommt Manhattan aus dem Meer in die Höhe gestiegen, jeder Finger ist dreißig Stockwerk hoch und darüber.

Wir fahren jetzt langsam, langsam. Die Seeluft ist weg, vergessen, es ist schon sehr heiß, obzwar's noch seine guten Wege hat mit Hoboken.

Bei einer Wendung des Schiffes sehe ich die Hand dort vorne sich spalten. Die mittleren Finger gehen auseinander, zwischen ihnen sieht man einen Strich, der mit Luft gefüllt ist – das ist Broadway, die große Straße der Stadt. Absonderlich, wie das dort ausschaut. Garnicht 40 wie Wirklichkeit, sondern wie eine dünne Kulisse mit nichts dahinter, wahrhaftig.

Viel deutlicher ist schon die Reklameinschrift rechts unten, in Brooklyn zu sehen. So etwas wie ein wagerechter Wolkenkratzer, knapp über der Hafenlinie, etliche Kilometer lang – ein Bitterwasser wird angepriesen!

Die Pyramiden Ägyptens versetzen einem einen ähnlichen Schlag ins Genick, wie die Wolkenkratzerstadt Manhattan von der Bai aus zum erstenmal gesehen, sagte mir der Vornehme. Nun, ich mach mich auf den Schlag bereit. Ich wünschte, man würde die Bitterwasser-Reklame dort wegkratzen, auch sie hat etwas Monumentales, ich warte und bereite mich auf den Schlag vor. Ich habe die Pyramiden nicht gesehen, aber hier, was ich jetzt im Drauflosfahren auf die Insel Manhattan-Newyork empfinde, ist ein bizarres, gemischtes Empfinden von Unbehagen, Widerstreben, Staunen, ohne Befreiung des Gefühls vom Denken, alles eher als ein großes, unbedingtes, aufatmendes: Ah!

Und die Manhattan-Spitze dreht sich weiter. Broadway ist weg und die Häuser sind jetzt gut zu sehen, große viereckige Ziegelsteine mit Poren, nein, besser gesagt, 41 große aufrecht hingestellte holländische Waffeln, nein, riesige Siebe mit Löchern drin, das ist's: Siebe, mit ungeheuer vielen Löchern. Da stehen sie beieinander. Man kann sich nicht denken, daß da drinnen Menschen leben sollen, daß hinter jenen Löchern dort menschliche Wesen mit Augen, Nasen und Haaren auf dem Kopf ihr Leben verbringen. Oben sind an die Siebe winzige weiße wehende Rauchfähnchen angebunden, die Winzigkeit dieser Fähnchen macht den Anblick dieser Mordskasten vor uns noch unbehaglicher, jawohl. Ich drehe mich anders herum, lasse die Stadt dort hinten sich ruhig um ihre Achse drehen und besehe mir die Stadt der Schiffe hier unten, statt der Stadt des Steins.

Wirklich, diese Stadt der Schiffe, die Manhattan einsäumt, ist einzig, überwältigend.

Schlote und Maste, ungeheure Hallen, auf den Pieren hinaus ins Wasser geschoben; aus ihnen lösen sich zuweilen schwere braune Inseln los und gleiten in den Strom, den Hudson, in den wir jetzt einfahren. Es sind die Fähren. Sie tragen Eisenbahnzüge, Wagen, Automobile, Vieh und Menschen auf ihren Rücken. Ein dumpfes, klagendes Gebrüll und die Insel ist vorbei geschwommen. Alte Schiffe, mit Pendeln auf dem Rücken, 42 lenken an uns vorbei. Ein Abfallschiff stinkt penetrant seines Weges daher, hinaus auf eine Insel bei Rockaway; es trägt den Duft »Newyorks« hinaus, den wir schon von weitem gewittert haben. Jetzt zeigt man sich die weißen, fünf Stockwerke hohen Schiffe der Hudson-Linie; schon denke ich daran, daß ich auf einem dieser Paläste bald hinauffahren werde ins Land und fort von Newyork. Und die Stadt der Riesensiebe verschiebt, verschiebt sich. Die Wolkenkratzer sind grau, gelb, bräunlich, zumeist aber monoton graugelb. Plötzlich sehe ich etwas wahrhaft Schönes in der Ferne über dem Gewimmel der löcherigen Häuser auftauchen. Eine riesige rote Spinne, die auf ihrem Rücken eine rote stachelige Blume trägt, kriecht mit langen Spinnenbeinen über die Dächer weg – es ist das Eisengerüst des neuen Municipal-Building, eine Konstruktion, die eines der höchsten Häuser Newyorks krönen wird. Dieser rote Fleck ist schön; ich habe etwas gemerkt und schreibe es mir auf. Das Gerüst ist schön und das Fertige ist häßlich. Das heißt die Energie, die hinter diesen Ungetümen steckt, geht mich näher an als die Resultate, die sie hervorgebracht hat. Wir sind in Newyork, und der Choc ist ausgeblieben. Ich wäre ein Lügner, wollte ich behaupten, ich hätte eins im Nacken gespürt.

Aber unter diesem Allzugroßen, nicht Überwältigenden lebt die Stadt. Manhattan, das spitzige Tier, sticht wie ein Tausendfüßler mit seinen unzähligen Pieren wie mit giftigen Stacheln nach uns. »Kaiser Wilhelm der Große« gleitet ruhig an ihnen vorbei, zwischen Manhattans und Hobokens Stachelspalier hindurch, den Pieren des Norddeutschen Lloyd entgegen.

An Bord kümmert sich keiner mehr um den anderen. Alle Augen sind auf ein weißes viereckiges Loch gerichtet, das, nicht mehr weit von uns, in einem schwarzen breiten niederen Haus auf der Hoboken-Seite flimmert. Dort warten Menschen in hellen Kleidern auf unser Schiff, schwenken Tücher, sind aufgeregt und flimmern in der wahnwitzigen Hitze.

43 Neben mir zieht einer seinen Rock aus und entfaltet eine kleine weiße Fahne mit rotem Viereck darin – eine ähnliche antwortet ihm aus dem weißen flimmernden Loch.

Die großen Lettern North German Lloyd, die in der Nacht über dem Hudson aufglühen und verschwinden, sind jetzt auf den drei Pieren vor uns zu lesen. Wir drehen uns langsam und laufen den südlichen der drei Piere an. Unten vor dem offenen Tor des schwarzen breiten Hauses steht ein kurzer, unnatürlich dicker Kerl breitspurig da und blickt unter seinem Sombrero patzig zu uns hinauf. Die Menschen aus dem flimmernden Loch sind jetzt alle auf die Ankunftsseite hinüber gelaufen und brechen in ein delirierendes Erkennungsgebrüll aus. Von unserm Schiff antwortet man. »Kaiser Wilhelm der Große« knarrt mit einem Ton, der sich norddeutsch anhört wie: »Uff!« an den Pier an. Ich nehme meinen Paletot und meine Handtasche und gehe übers Brett hinunter nach Amerika.

 


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