Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Die Duchoborzen und Peter Verigin

Ich sagte Herrn Walker: »Von den Duchoborzen geht die Sage um, daß sie sich zuweilen, mitten während der Ernte oder auch im Winter, auskleiden, und Männer und Weiber ziehen nackt und jammernd durch die Felder, Christum zu suchen, der sich irgendwo in der Nähe aufhalten soll.«

Mr. Walker: »Well, das ist vorgekommen. Aber ich habe sie dann so lange ins Gefängnis und in die Irrenhäuser gesteckt, bis ihnen die Lust an ihren Märschen vergangen ist.«

»Verzeihen Sie – aber dazu sind doch diese armen Leute nicht aus Rußland herübergekommen! Dort hat man sie auch so lange in Gefängnisse und Irrenhäuser gesteckt, bis –«

»All das können wir hier nicht brauchen. Was wir hier wollen, sind gute, gehorsame Bürger, »law-abiding citizens«. Übrigens hab ich den Duchoborzen bei der letzten Gelegenheit gesagt, in ihrem eigenen Interesse gesagt: wenn's euch nächstens wieder mal nach Christus 175 verlangt, schreibt mir eine Zeile, ich will ihn euch schicken.«

Also sprach Mr. Walker. Man kann nicht anders, als ihm recht geben. Ein Nacktmarsch, von zweitausend Menschen im Winter ausgeführt, ist keine sehr gesunde Turnübung. Auch das Vieh in den Ställen fährt nicht gut dabei, das nach drei Tage währendem Hunger, weil niemand nach dem Futter sieht, in den Ställen verreckt oder aus den Ställen bricht und dann von den Behörden eingefangen werden muß – damit die unglücklichen Besitzer, wenn sie von ihrer vergeblichen Expedition zurückkehren, es nicht im Schnee mit allen Vieren nach oben vorfinden!

Die Duchoborzen haben ihren letzten Marsch vor fünf Jahren vollführt. Fährt man durch ihre sauberen Dörfer im Norden von Saskatchewan und sieht ihre breiten Gesichter hinter den Fenstern ihrer Giebelhäuschen oder zwischen den Sonnenblumen in ihren netten Gärtchen auftauchen, so glaubt man nicht an gefährliche Fanatiker, sondern daß es brave, bescheidene Muschike sind, die da hausen. In Wahrheit sind es die einzigen Menschen, die heute in Kanada unter dem wirtschaftlichen Prinzip des Kommunismus beisammen leben, in einer Reservation, wie alle, die sich der Staatsform nicht bequemen wollen, unter deren Schutz die law-abiding citizens ringsum ihren Kohl bauen.

Ich wohne beim Müller, der ein Schotte und Vorarbeiter in der Mühle ist, wo der Weizen der »Doukhobor Community« zu Mehl vermahlt und in Säcken bis nach Liverpool und Schanghai versendet wird.

Freund Kon in Winnipeg, der Immigrationsagent der Grand Trunk Pacific und väterlicher Freund und Berater aller Ankömmlinge slawischer Herkunft, die sich in den von der Grand Trunk-Bahn eben erschlossenen Weizenländern im Norden niederlassen wollen – Freund Kon hat mir geraten, nach Verigin zu fahren, ins Reich des »Duchoborzen-Zaren« Peter Verigin, statt nach den 176 Duchoborzen-Kolonien Elbow und Buchanan, die man mir in Ottawa genannt hat.

Freund Kon kennt die Russen hierzulande, wie er sie in seiner alten Heimat kennt. Die alte Heimat gedachte Freund Kon ein bißchen zu henken wegen irgendwelcher politischen Vorurteile. Vor drei Jahren noch hat er, als ein Armer, als der er herüberkam, oben in Alberta mit einigen seiner Landsleute Bäume im Urwald gerodet, Schwellen gelegt, Schienen an die Schwellen geschraubt – heute sitzt er zwischen den Oberen der Grand Trunk Pacific und hilft die Schicksale des Systems lenken – eine kanadische Karriere unter Tausenden, die sich in der neuen Heimat in die Höhe entwickeln.

Ich brachte von ihm einen Brief an seinen alten Kameraden Sam Batschurin mit, und einen zweiten an den Sekretär der kommunistischen Gesellschaft. Der Präsident der Gesellschaft ist »Zar« Peter, und der Ort ist nach ihm benannt. –

Den »Zaren« möchte ich für mein Leben gern von Angesicht sehen. Leider wird's nicht möglich sein. Er ist in Britisch-Kolumbien, wo er Obstland für die Duchoborzen aufgenommen hat, die das harte Winterklima hier oben im Norden nicht mehr aushalten. Erst in zwei bis drei Tagen wird er zurückerwartet – wenn ich Geduld hätte, so lange zu warten? Nein, es geht nicht. Schade! sagt der Müller. Ein großer Mann! Aber ich muß darauf verzichten, diesen Kommunisten-Zaren von Angesicht zu schauen. Auch seinen Sekretär werde ich nicht sprechen können, der ist ihm nach Yorkton entgegengefahren.

(Yorkton . . . wo habe ich diesen Ortsnamen gehört?

Der Tonfall, in dem man mir dieses Wort sagt, bringt mir die Szene ins Gedächtnis zurück: vor vier Tagen, als ich von Brandon, Manitoba, nach Esterhazy fuhr, um sechs Uhr früh – sprang da im Zug plötzlich ein Mensch auf und fing wie verrückt im Wagen herumzulaufen an: Stop! stop! Er wollte ja nach Yorkton, und dies sei der verkehrte Zug!

177 Er war ein großer stämmiger Mann, halb wie ein Städter, halb wie ein Bauer angezogen, in einem billigen schwarzen Anzug, Hemd ohne Kragen, die Haare in die Stirn gekämmt. Die Tränen standen ihm in den Augen, er stotterte heiser, englisch war nicht seine Muttersprache, er wollte wahrhaftig aus dem mit voller Kraft fahrenden Zug hinausspringen, der Kondukteur und ich, die der Tür zunächst saßen, wir hatten beide Mühe, ihn an den Armen zurückzuhalten . . .

Bei der nächsten Station sahen wir dann den breiten Rücken des Mannes im Sonnenschein glänzen. Mit seinem Regenschirm unterm Arm lief er, in einem vom Anfang an systematischen Trab, den Schienenweg entlang nach Brandon zurück – die zwölf Meilen nach Brandon zurück – Staunen und Gelächter aus den Koupeefenstern hinter ihm her. – –)

 

Ich habe Sam Batschurin beim Abladen von Holz aus einem Waggon angetroffen und habe ihm meinen Brief übergeben. Er ist kein Farmer, sondern Kutscher in einem livery-stable. Heute nachmittag wird er einen Wagen anspannen und dann fahren wir ein bißchen herum in die Dörfer.

Der Müller fragt mich, ob ich Peter Verigin jr., den Neffen des großen Peter, in der Mühle besuchen will? Das will ich, gewiß. Und dann finde ich den jungen Verigin zwischen den Mehlsäcken. Er spricht ganz gut englisch, er scheint es gewohnt zu sein, Fremden über die Angelegenheiten der Duchoborzen zu berichten, auf meine Fragen kriege ich gut hergerichtete und unverfängliche Antworten zu hören, wir reden laut, denn über uns donnert und schüttert das Werk der Mühle.

Er ist ein junger Mensch mit einem ehrlichen russischen Gesicht. Er wird ein bißchen rot, wie er von seiner Religion spricht. Ich glaub's ihm gerne. Es ist gewiß hart für einen, der seine zehn oder mehr Stunden angestrengt arbeitet, Sätze auszusprechen wie diesen: »Christus ist 178 immer leibhaftig zwischen uns!« (Soll das im übertragenen Sinne oder im Sinne der Marschierer gemeint sein? Die Antwort ist geschickt präpariert.) »Ich glaube an den Himmel!« (An die Hölle aber glaubt er nicht.)

Er will es nicht wahr haben, daß sein Onkel der Zar sei. Ich beruhige ihn, das sei ja nur so eine Redensart; aber er ereifert sich: Alle, alle sind gleich! Er zeigt auf die Marken der Säcke: »Doukhobor Community«, als ob das ein Beweis wäre. Ich habe das Gefühl: Der will oder darf nicht reden. Darum halte ich ihn nicht länger von seiner Arbeit zurück.

 

Die Duchoborzen sind vor zwölf Jahren aus Rußland herübergekommen, wo sie als gefährliche Narren und Anarchisten verfolgt und dezimiert wurden ihr Leben lang. Sie sind Vegetarier und töten weder Tiere noch Menschen. Sie weigern sich, Waffen in die Hand zu nehmen, die den Zweck haben, ihresgleichen damit den Garaus zu machen. »Dem Cäsar geben, was des Cäsars ist,« steht nicht in ihrem Katechismus. Die Quäker in Pennsylvanien, Massachusetts und England waren es, die diesem armen Volk die Mittel verschafften, daß es herüberkommen konnte – aus dem Land, wo man es sterben und verkommen ließ. Arm, wie Gott sie geschaffen hat, sind sie herübergekommen. Immer waren sie fleißig und bescheiden gewesen, aber das heilige Rußland hat ihnen Hab und Gut konfisziert und entwendet, sie nach Sibirien und in die Gefängnisse gesteckt, bis sie schwarz geworden sind. Peter Verigin selbst, der drüben, obzwar ein Mann von höherer Kultur und Wissen, ein Bauer und Hirt unter seinen Glaubensgenossen war, ist 18 Jahre lang aus einer Festung in die andere getrieben worden, hat mit Schellen an Händen und Füßen Sibirien durchquert in den harten Jahreszeiten . . . .

Jetzt zählen sie hier herüben 8000 Seelen. Sie hausen in Saskatchewan und am Kootenay in Britisch-Kolumbien. Von den 8000 sind 6000 Kommunisten. Sie leben hier um 179 den Ort Verigin herum in 42 kleinen Dörfern und haben ungefähr 100 000 Acker Landes, die ins Grundbuch in Yorkton, wie man mir sagte, auf den Namen des Präsidenten Peter Verigin eingetragen sind.

Jedes dieser Dörfer wählt drei Männer und drei Frauen, diese sehen nach dem Wohl und Wehe der Männer und Frauen ihres Dorfes, es geht zu wie im Alten Testament. Einmal im Jahr kommen die Zweiundvierzigmalsechs zu einer Versammlung zusammen, in der die Angelegenheiten der »Community« besprochen werden. Es ist ein Warenhaus da, aus dem jeder nach Maßgabe seiner Arbeit und seiner Bedürfnisse herausholt, was er braucht, und eine Kanzlei mit großen Büchern, in denen jedem gut und zur Last geschrieben wird, was er schafft und verbraucht. Für die Kinder und die Alten sorgt die »Community«. Dieser edle Zug wird mir von den Kommunisten nachdrücklichst eingebläut.

Ein Trommler (so heißen im Volksmunde die Handlungsreisenden) versichert mich, daß die Duchoborzen auf ihrem ihnen von der Regierung reservierten und ihrem dazu erworbenen Land heute drei Millionen Dollar »wert« sind. Er irrt sich und sagt: Peter Verigin sei diese drei Millionen »wert«.

Ich verbessere:

»Sie meinen die Community.«

Der Trommler erwidert: »Ich meine Verigin.«

»Die Community!«

»Verigin!«

Ich: »Aber dies alles hier gehört doch der »Community!«

Darauf lacht der Trommler: »Yep, Siree, also meinetwegen, die Community.« –

Jeder Einwanderer wird, wenn er drei Jahre lang in Kanada gewohnt hat, von der Regierung aufgefordert, Kanadier zu werden. Kanadier zu werden ist nicht schwer und die Prozedur äußerst einfach. In einem Büro in Montreal habe ich gesehen, wie es gemacht wird. Ein 180 junger Mann kam herein, trat an einen Schalter heran, legte zwei Finger seiner rechten Hand auf eine kleine fleckige Bibel, während er in der linken derweil seine brennende Zigarette hielt – der Beamte kritzelte etwas auf einen Bogen, dann kam der nächste heran. Alles dies ging einfach und rasch zu, wie beim Barbier.

Die Duchoborzen aber weigern sich, die beiden Finger aufs Buch zu legen. Das Land, auf dem sie sitzen, fällt infolgedessen nach drei Jahren an die Dominion zurück. Die Dominion leiht ihnen pro Kopf 15 Acker, die ihnen aber auch jeden Augenblick genommen werden können.

Wie kommt es nun, daß das Land in Yorkton auf Verigins Namen ins Grundbuch geschrieben steht? Der Postmeister, ein deutscher Mennonit, hat früher im Amt in Yorkton gearbeitet und die Eintragung mit eigenen Augen gesehen. Wie das kam, weiß er mir nicht zu sagen.

Was geschieht, wenn »Königliche Hoheit«, wie der Postmeister sagt, einmal die Augen schließt? Dann fällt das Land an die Kommunität zurück, sagen die Getreuen. Dann gibt's einen Kampf aufs Messer, sagen die Rebellen, sagt auch Sam Batschurin.

 

Sam ist 25 Jahre alt und hat Weib und Kind und seine alte Mutter im Dörfchen Terpenje wohnen. Sam gehört nicht mehr der Kommunität an. Er sprüht Blitze, wenn er von der Kommunität spricht, die er übrigens wie »Kominutom« ausspricht.

»Foolish people!« Wer? Die »Kommunisten«. Er selbst hat jahrelang für die Kommunität gearbeitet. Hart und von früh bis spät. Er für sein Teil hat es satt, sagt er, für Peter Verigin zu arbeiten. Es heißt: jedem der Kommunisten werden jährlich für seine geleistete Arbeit 200 Dollar in den Büchern der Gesellschaft gutgeschrieben. Hat er keine Lust mehr, für die Allgemeinheit zu arbeiten, so erhält er beim Austritt sein Guthaben auf den Tisch gelegt. Sam und seine Familie aber haben, als sie nach jahrelanger Arbeit austraten, 15 Dollar erhalten. Sam 181 ist jetzt Kutscher in einem Liverystable und Knecht eines Kanadiers. Mit ihm ist sein ganzes Dorf aus der »Kominutom« ausgetreten.

Terpenje ist nicht der einzige Ort, der nicht mehr zur Kommunität gehört. Es gibt eine ganze Anzahl von Dörfern unter den 42, die Verigin untreu geworden ist und einfach nichts herausgezahlt bekam beim Austritt, obzwar sich in der Zahl Dörfer befinden, deren Bewohner ein Jahrzehnt und darüber für die Kommunität gearbeitet haben. Alles, worauf die Leute Anspruch hatten, blieb einfach in der Kasse der Kommunität begraben.

Wir kommen in Terpenje an, und Sam hält vor seinem kleinen sauberen Häuschen. Sam benutzt die gute Gelegenheit und stattet seiner Familie eine Visite ab. Seit er nicht mehr für Verigin sondern in einem Job arbeitet, kommt er nur einmal in der Woche am Sonntag, dazu, seine Familie zu sehn.

Dies ist ein Häuschen der Armut, aber wie hübsch und wohnlich und bunt doch im Vergleich zur Lehmhütte des Ungarn in Esterhazy! Sams alte Mutter und seine schöne junge Frau kommen uns auf der Schwelle entgegen, und es wird mir unter stummen Verbeugungen eine Schale Wasser gereicht.

Sams Frau hat ein sorgenerfülltes Gesicht; sie hält ihr zehn Monate altes Kind Polja auf dem Arm; Polja ist immer krank und hat ein wachsgelbes Gesichtlein unter dem buntesten Wollmützchen, das ich mein Lebtag gesehen habe! Die Familie fühlt sich längst nicht mehr wohl in der Duchoborzengegend und denkt daran, nach Mexiko auszuwandern. Bald ist die hübsche Stube voll von Menschen aus Terpenje. Sam macht den Dolmetscher und ich probiere, so gut ich kann, die politischen Verhältnisse in Mexiko den Leuten darzustellen, um sie von ihrer unglücklichen Idee abzubringen. Sie wollen, was sich bietet, annehmen, aber das gute Obstland, im Kootenay, wo von Verigins Gnaden schon 2000 der Ihren sitzen, lockt sie nicht. Sie wollen Homesteaders werden und haben genug 182 von Kominutom. Nur die Alten und Ältesten sind dem alten Glauben und Verigin wirklich noch ergeben. Die Jungen wollen, offen oder versteckt, heraus; ja sogar der Neffe Peter, der mir heute in der Mühle von seinem Volk erzählt hat, sucht eine homestead! Wenn Onkel Peter zurückkehrt, wird er es zu seiner großen Verwunderung erfahren.

Sie hassen die Zurückgebliebenen und hassen den Zaren. Sie schicken ihr Korn lieber in eine englische Mühle, sie haben es satt, für den Zaren zu arbeiten. Er hat sie kurz gehalten zur Zeit, da sie für die Kommunität gearbeitet haben, hat es verhindert, daß sie Schulen haben, englisch oder auch nur russisch schreiben und lesen lernen; all dies mit Christus als Rückendeckung

Freilich, er hat sich nicht selber zu ihrem Führer aufgeworfen. Der Geist kommt über die Gemeinde und der Geist nistet sich in Einem der Gemeinde fest ein. Zuletzt war's eine Frau, die an der Spitze der Duchoborzen stand; als sie starb, hat sie Verigin als ihren Nachfolger bezeichnet, und Peter, der daheim in Rußland wahr und wahrhaftig ein Märtyrer gewesen ist, 18 Jahre seines Lebens lang, ist jetzt nicht nur der Zar, sondern so etwas wie der Christus der Duchoborzen – die ihm blind ergeben folgen – bis auf die Abtrünnigen, wie gesagt.

Sams Leute und ich nehmen unter tiefen Salamaleks Abschied voneinander; ich streichle noch einmal dem armen kranken Kinde Polja über die gelben Wängelein; dann knallt Sam mit seiner Peitsche und die beiden wilden Bronchos sausen im Hui durch die Felder landeinwärts.

Ich frage Sam nach den Sitten und Gebräuchen, die im Familienleben gang und gäbe sind. In sexuellen Dingen gibt's keine »Kommunität« bei den Duchoborzen, das ist eine Verleumdung durch böse Zungen. Freilich der Zar soll kein Kostverächter sein, und die Erbitterung unter den Leuten geht auch auf diese Ursache zurück, das höre ich nicht von Sam allein. Wirklich, die Frauen dahier sind außerordentlich hübsch. Die Duchoborzen 183 heiraten sehr früh, die meisten mit 16 bis 17 Jahren. Mag ein Junge ein Mädchen und dieses ihn, dann kommen an einem Sonntagnachmittag die Eltern zusammen, besprechen die Angelegenheit, und die beiden sind Eheleute vor Gott und der Gemeinde.

Wir kommen in einen kleinen Ort, ich glaube, sein Name ist Nadjeshda – in dem die Duchoborzenkirche steht. Die Kirche ist ein großer Saal mit einem Holztisch, auf dem ist ein Glas Wasser und eine Schale Salz. Wenn Gottesdienst ist, tritt, je nachdem der Geist über ihn oder sie kommt, einer oder eine aus der Gemeinde hervor, tritt zum Tisch und predigt den übrigen von Gott und Christus.

Im übrigen muß gesagt sein, daß, genau wie bei den Mennoniten drüben, jedes der 42 Dörfchen eine eigene Sekte vorstellt, mit eigenen Anschauungen und Gebräuchen. Der Vater des Postmeisters, ein alter Mann, der mit ihnen haust, seit sie hier sind, sagt: er habe noch nicht herausbekommen, was es mit ihrer Überzeugung eigentlich auf sich habe. In geschäftlichen und weltlichen Dingen sind's die ehrlichsten und vernünftigsten Leute, aber in der religiösen Abteilung ihrer Gehirne sieht's trüb und wirr aus. Von den achttausend sind bloß fünfunddreißig wirklich wahnsinnig. Mit diesen, soweit sie nicht in Brandon im Irrenhaus sitzen, sondern frei in den Dörfern hausen, haben die andern ihre liebe Not. Wenn's keine besondere Veranlassung gibt, wie's damals im Winter eine gab, fängt es regelmäßig im Frühjahr in diesen Köpfen zu rumoren an. Da wirft zuweilen auf dem Felde mitten während der Arbeit einer sein Gerät hin, reißt sich die Kleider vom Leibe und beginnt in Zungen zu reden. Die übrigen – wenn sie der Wahnsinn nicht schon angesteckt hat – packen dann den Propheten zusammen und stecken ihn mit dem Kopf ins Heu oder verbergen ihn irgendwo ganz sicher, sie selber wollen keine Kalamität mehr mit den Behörden haben. Wenn's aber zu arg wird und der Tobsüchtige nicht mehr zu halten 184 ist, dann rufen die Kommunisten selber nach der Polizei. Anderthalb Dutzend der Ihren sitzt fest im Irrenhaus in Brandon. Andere haben sechs Monate Gefängnis abgesessen – Rückfällige gar zwei Jahre . . . Es sind junge unter ihnen und ganz alte. Natürlich fördert die Unwissenheit, in der sie dahinleben, diese Anlage in ihnen. Die Unwissenheit war auch schuld daran, daß sie, noch vor Jahren, ihre Weiber als Ackergäule vor den Pflug spannten und überhaupt die schwersten Arbeiten verrichten ließen (genau so sollen es die Indianer vor der Ankunft der Weißen gehalten haben!). Bis dann die Regierung sich ins Zeug legte. Jetzt haben sie Maschinen, aber doch noch arbeitet die Frau am härtesten im Felde.

Sam will mich nach dem Dorf fahren, wo das Badehaus der Gemeinde ist. Einmal in der Woche reinigen sie sich im heißen Wasser, nach dem Gebot ihrer Religion. Die Sonne aber geht schon unter, ich verzichte und werde das Badehaus der Duchoborzen nicht mehr erblicken. Fahr heim, sage ich Sam. Und wir fliegen nach Verigin.

 

Der Posthalter hat mich zum Abendessen eingeladen, und wie Sam vor dem Store hält, sehe ich drüben, jenseits des Bahngleises, ein beleuchtetes und blumengeschmücktes Automobil in das Häuserviereck um das Warenhaus der Kommunität einbiegen.

Von der Station, von allen Seiten her, laufen Leute dem Automobil nach. Schon im Lauf nehmen sie die Hüte ab – ich errate, quelle chance! Peter Verigin ist es, Zar Peter ist angekommen!

So rasch ich kann, mache ich dort hinüber. Wie ich drüben bin, steht eine Menschengruppe auf dem Platz zwischen den Häusern, die Männer mit bloßem Kopf, alle in einer Haltung, als wären sie in der Kirche dahier. Vor ihnen steht ein großgewachsener, stämmiger Mann, auch er hat den Hut in der Hand, wie die Menschen, zu denen er spricht. Ich sehe seinen breiten Rücken, aber ich kann vom Platze, an dem ich stehe, nichts davon 185 hören, was er sagt. Ich würde es ja auch nicht verstehen, er spricht Russisch.

Er erzählt den Duchoborzen, was er in Britisch-Kolumbien ausgerichtet hat. Er bringt ihnen Grüße aus dem Kootenaytal. Hier und da verneigen sie sich, sehr tief, voreinander, der Mann vor der Menge, die Menge vor dem Mann. Es wird ganz dunkel, der Mond kommt irgendwo herauf, ich stehe wie ein Reporter im Mondenschein und warte auf die Gelegenheit, mich dem Zaren zu nähern. Ich gehe um die Gruppe herum und kann jetzt im Schein eines beleuchteten Fensters dem Sprechenden ins Gesicht blicken.

Es ist der Ausreißer aus dem Brandoner Schnellzug.

Herrgott, sollten alle diese Anklagen, die ich heute von fünf, sechs, sieben verschiedenen Seiten gegen diesen Menschen habe vorbringen hören, falsches Geschwätz, Neid und giftige Nachrede sein? Am Ende und im Grunde ist dieser da weiter nichts als ein Fanatiker von reinem Wasser, ein naiver Draufgänger und Gesichteseher, Stimmenhörer und in praktischen Dingen ein verbohrter Bauer? Dieser russische Märtyrer, der um seines Glaubens willen barfuß durch Sibirien gehetzt, in der Schlüsselburg und Orel und der Paulsfestung gequält worden ist und jetzt im Automobil dahergefahren kommt, drei Millionen wert ist, vor all den anderen rund um ihn, die nichts haben und nichts wissen, weil er es ihnen nicht erlaubt!

Nach langen und tiefen Verbeugungen trennt sich der Redner von den Duchoborzen. Diese stehen noch eine Weile aufgeregt miteinander redend auf dem Hof, der jetzt ganz in Nacht gehüllt ist.

Ein Mann mit einer Laterne kommt an mich heran. Es ist der Sekretär, der mit Verigin aus Yorkton eben angekommen ist. Er hat gehört, ich habe einen Brief an ihn, er muß nur erst das Automobil versorgen, dann kommt er zu mir ins Büro.

Die Duchoborzen stehen da und hören mit ehrerbietigen Mienen das wüste Geknatter an, mit dem die 186 angekurbelte Maschine auf ihren Gummirädern rücklings in die Scheune hineinfährt.

Im Büro bringe ich dann mein Anliegen vor. Ich möchte, da ich ja jetzt die Chance habe, Herrn Verigin hier anzutreffen, an ihn zwei, drei kurze Fragen stellen über die Community, am liebsten heute noch, sollte er aber von der Reise zu müde sein, so morgen früh. Um neun will ich morgen nach dem Westen weiter.

Der Sekretär ist müde, aber gutwillig. Ich sehe es ihm an und kann's ihm nicht verdenken, daß er mich heim zum Müller und sich in sein Bett wünscht, von Yorkton sind's ja gut acht Stunden Automobilwegs bis Verigin.

Ich möchte also, wie gesagt, einiges über das wirtschaftliche Prinzip des Kommunismus, unter dem die Duchoborzen hier leben, zu hören bekommen. Der Sekretär läßt sich das Wort communism, das ich ja ganz gut und deutlich ausspreche, einigemale vorsagen und zuletzt bittet er mich, es ihm auf ein Blatt aufzuschreiben. Ich schreibe also mit großen Buchstaben das Wort

»communism«

auf ein Stück Papier. Der Sekretär sieht das Wort an, dann mich. Er versteht uns beide nicht, nicht das Wort und mich auch nicht. Er weiß, was Community ist, er ist ja angestellt bei ihr, aber was communism bedeutet, weiß er nicht, hat nie davon gehört.

Ich ziehe mein Notizbuch hervor und mache mir eine Notiz: »Sekretär kennt Bedeutung Wortes communism nicht.« Plötzlich wird der Sekretär munter. Er legt seine Hand auf meine Schulter und will jetzt eine Auskunft von mir haben.

Ich soll ihm erklären, warum ich in meinem Notizbuch die Blätter nur auf der einen Seite beschreibe?

Ich erkläre ihm diesen Trick, diese technische Spitzfindigkeit. Darauf begibt er sich, gähnend und todmüde, mit dem Zettel, auf dem

»communism«

geschrieben steht, hinüber ins Nachbarhaus zu Peter Verigin.

187 Nach einer Weile höre ich, daß mir die Audienz für morgen früh um acht bewilligt sei, und so bin ich nächsten Morgen um acht, meine Handtasche auf dem Boden neben mir, wie ein Reporter in der Morgensonne, zur Stelle und warte auf Peter Verigin. – Er ist mit dem Automobil auf dem Lande herum, und es wird halb und dreiviertel neune. Endlich erscheint das Automobil am Horizont.

Verigin kommt, vom Sekretär geleitet, auf mich zu, und ich sehe: er erkennt in mir auf den ersten Blick, mit einem kleinen Aufzucken der Augenbrauen, den einen von den beiden wieder, die ihn hinter Brandon verhindert haben, aus dem Zug zu springen.

Über sein großes, offenes Gesicht geht die Unruhe schnell dahin, dann bittet er mich durch den Sekretär, der sein Dolmetscher ist, die Fragen zu stellen. –

»Halten Sie es für durchführbar, daß heute in einem staatlichen Organismus Menschen unter dem wirtschaftlichen Prinzip des Kommunismus beisammenleben?«

Antwort: »Der Kommunismus, unter dem die Duchoborzen beisammenleben, ist kein wirtschaftliches Prinzip. Er ist ein religiöses und kein soziales Prinzip. Wir alle arbeiten für Gott und nicht für uns selber, darum bewährt sich das System.«

»Befürchten Sie nicht, daß die Regierung eines Tages den Stand der Dinge ändern und Ihnen nahelegen wird, in den Verband des Landes einzutreten und sich Kanadier zu nennen mit all den Verpflichtungen, die das mit sich bringt?«

»Wir stehen sehr gut mit der Regierung und haben eben im Kootenay das größte Zuvorkommen gefunden.«

»Haben Sie Briefe von Tolstoi, aus denen man seine Anschauungen über Ihre Stellung als Führer der Duchoborzen erfahren könnte? Sind diese Briefe jemals veröffentlicht worden?«

»Herr Verigin war mit Tolstoi befreundet und besitzt Briefe von ihm, die sich auf die Duchoborzen beziehen, betrachtet sie aber als Privatbriefe.«

188 »Wie erklären Sie sich, daß es unter den Duchoborzen jetzt so viele gibt, die von der Kommunität, also von ihrem alten Glauben, abfallen und es vorziehen, ihre Existenz auf eigene Faust aufzubauen?«

Antwort: »Herr Verigin fürchtet, Sie werden Ihren Zug versäumen.«

Tiefe Verbeugung. Automobil ab.

 

So verlief mein erstes Interview mit einem Mächtigen der Erde.

Ich hatte noch einige Fragen vor, darunter die: ob es die Religion denn zulasse, daß Menschen die Erde Gottes von anderen Menschen kaufen und an andere Menschen verkaufen, wie ein Ding, das ihnen gehört?

Aber, wie gesagt, das Interview war zu Ende.

Ich habe auf meinen Zug, der Verspätung hatte, noch drei Viertelstunden lang gewartet. Peter Verigin fuhr derweil weit, weit draußen in seinem blumengeschmückten Automobil den Horizont entlang auf sein Gut Otradnoe zu, acht Meilen weit von der Station, die nach ihm Verigin heißt und im nördlichen Saskatchewan gelegen ist.

 


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