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Kritische Zuspitzung in Berlin

Es war bezeichnend, daß der Ausschuß, der wegen der so bedrohlich gewordenen auswärtigen Lage des Reiches früher als geplant zusammengerufen worden war, nach den einleitenden Erklärungen und Mitteilungen des Reichskanzlers, des Vizekanzlers, des Staatssekretärs des Auswärtigen und eines Vertreters des Kriegsministers den Schwerpunkt seiner Erörterungen alsbald auf das Gebiet der inneren Politik verlegte. Schon am Tage vor seinem Zusammentritt hatte die Fortschrittliche Volkspartei eine Fraktionssitzung abgehalten, deren wesentliches Ergebnis Übereinstimmung darüber war, daß der Eintritt der Sozialdemokratie in die Regierung, von dem seit einiger Zeit viel gesprochen wurde, zu begrüßen sei, daß eine weitere Verschleppung der preußischen Wahlreform nicht mehr geduldet werden dürfe und daß der Artikel 9 der Reichsverfassung, der verbot, daß jemand gleichzeitig Mitglied des Bundesrats und Mitglied des Reichstags sein dürfe, aufzuheben sei. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hatte am gleichen Tag beschlossen, den Eintritt von Sozialdemokraten in' eine etwa neu zu bildende Regierung unter einer Reihe von Bedingungen zu billigen, die zu einem großen Teil gleichfalls auf dem Gebiet der inneren Politik lagen.

In diesem Rahmen bewegte sich auch, was die Fraktionsführer im Hauptausschuß vorbrachten. Die Reden der Wortführer der Mehrheitsparteien waren, bei aller Schonung der Person des Grafen Hertling, eine einzige Anklage gegen die Versäumnisse, namentlich die innerpolitischen Versäumnisse, der von ihnen selbst vor nicht ganz einem Jahr gekürten und mit ihren Vertrauensmännern durchsetzten Regierung. Der Einfluß der Militärs auf die Politik, die Handhabung der Zensur und des Vereinsrechts unter dem Belagerungszustand, die Verschleppung der preußischen Wahlreform waren die wichtigsten Beschwerdepunkte. Von derjenigen inneren Frage, die in Wirklichkeit alles Interesse in Anspruch nahm, von der Bildung einer neuen Regierung durch die Mehrheitsparteien, sprach man im Hauptausschuß auffallenderweise nicht, wohl deshalb, weil über das Los des Grafen Hertling zwischen dem Zentrum, das ihn halten wollte, und den anderen Mehrheitsparteien, die seinen Kopf verlangten, noch keine Übereinstimmung bestand.

Da traf am 26. September die Nachricht von dem Ersuchen Bulgariens an die Entente um Waffenstillstand und Einleitung von Friedens Verhandlungen in Berlin ein. Die Bestürzung über diesen offenen Abfall des bulgarischen Verbündeten war groß. Herr von Hintze gab zwar im Hauptausschuß am 27. September Erklärungen ab, daß weder für Bulgarien noch für uns ein Anlaß vorliege, das Spiel bereits verlorenzugeben; die militärische Lage in Mazedonien lasse sich durch die alsbald entsandten deutschen und österreichisch-ungarischen Verstärkungen nach dem Urteil der militärischen Sachverständigen wiederherstellen; auch stehe noch nicht fest, ob Herr Malinoff den König, die bulgarische Heeresleitung und die Sobranje hinter sich habe, oder ob er auf eigene Faust vorgegangen sei; eine Gegenaktion der bundestreuen Elemente in Sofia scheine bevorzustehen. – Aber die Klarheit ließ nicht lange auf sich warten. König Ferdinand, der gewillt war, an dem Bündnis festzuhalten, sah sich gezwungen, zugunsten seines Sohnes abzudanken und den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Der Abfall des bulgarischen Bundesgenossen gab der Kanzlerschaft des Grafen Hertling den Gnadenstoß. Auch das Zentrum gab ihn preis. Der Reichstagspräsident Fehrenbach gab dem Kanzler am 28. September, unmittelbar ehe dieser mit Herrn von Hintze zur Besprechung der Lage nach .dem Großen Hauptquartier reiste, zu verstehen, daß auch im Zentrum die Auffassung an Boden gewonnen habe, daß die Lösung der Krisis durch seinen freiwilligen Rücktritt erleichtert werden könne.

Aber dieses Mal wollten die Mehrheitsparteien gründliche Arbeit machen. Ein Personenwechsel genügte ihnen nicht mehr, sie wollten einen Systemwechsel: die volle Verwirklichung des parlamentarischen Regimes.

 

Forderung des Systemwechsels

Es ist eine Gewohnheit der Völker, daß sie für schwere Schicksale Sündenböcke brauchen. Zum Sündenbock machte man jetzt bei uns nicht nur Personen, nicht einmal in erster Linie Personen, sondern das »System«. Darin kam das große Maß der vom Persönlichen abstrahierenden Objektivität des Deutschen zum Ausdruck, und gleichzeitig auch das große Maß des dem Deutschen eigenen Doktrinarismus. Denn der Systemwechsel wurde jetzt als Allheilmittel und als Rettung aus der Not des Vaterlands von denselben Mehrheitsparteien – und ihnen folgend von ihren Anhängern im Lande – verlangt, die seit einem Jahr in der Reichsregierung durch ihre Vertrauensmänner vertreten waren und die Sünden der Reichsregierung im Begehen und Unterlassen mitgemacht, geduldet und gedeckt hatten. Der »Obrigkeitsstaat« sollte jetzt durch den »Volksstaat« ersetzt werden. Vom Volksstaat und seiner »Volksregierung« erwartete der Idealismus der deutschen Demokratie das große Wunder, Ich setze, um diesen Gedankengang deutlich zu machen, eine bezeichnende Steile aus einem Artikel der »Frankfurter Zeitung« vom 27. September 1918 hierher:

»Die Lage Deutschlands, unseres Staates und unseres Volkes, ist heute so ernst und so schwer wie niemals zuvor. Niemand darf sich darüber täuschen, niemand auch die Pflicht verkennen, die ihm daraus erwächst, Spannen wir jetzt nicht alle Kräfte bis zum Äußersten, in stoischem Ertragen und in heroischer Leistung, dann kann es kommen, daß die Gegner doch noch ihr Ziel erreichen. Was bringt unser Volk jetzt zu so höchster Krafthergabe? – Nur das Volk selbst aus eigenem, innerstem Impulse kann sich dazu erheben! Nur indem es endgültig sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, wird es das ungeheure Maß von Verantwortungsgefühl und Opferbereitschaft finden, das jetzt nottut. Der Masse, der eine Obrigkeit zuredet und befiehlt, wird das nicht abzuringen sein; dem Volke, das die Entscheidung über seine Gegenwart und seine ganze Zukunft sich selbst anvertraut fühlt, wird und muß es gelingen. Das ist der gewaltige Sinn der Demokratie und der ungeheure Kraftstrom, der aus ihr fließt. Und diesen Kraftstrom gilt es jetzt zu entfesseln.«

Von diesem Gedanken waren jetzt manche durchdrungen, die an sich der demokratischen Weltanschauung fernerstanden. Zu seinem Anwalt machten sich jetzt im Großen Hauptquartier nicht nur Graf Hertling selbst, der dem Kaiser seine Entlassung anbot, sondern auch der Staatssekretär des Auswärtigen von Hintze und der gleichfalls zu den Beratungen zugezogene Reichsschatzsekretär Graf Roedern. Auch die Generale der Obersten Heeresleitung schlossen sich diesem Gedanken an. Und in der Tat, wer wollte leugnen, daß jetzt, wo die schwersten Stunden des Vaterlandes nahten, alles darauf ankam, alle Kraft des deutschen Volkes aufzurufen und der einen großen Sache dienstbar zu machen? Nur genügt es in solchen Zeiten der höchsten Not nicht, Kräfte zu entfesseln; die Kräfte müssen auch geführt werden. Dazu gehören Persönlichkeiten. Persönlichkeiten aber haben die Parteien, die. sich jetzt anschickten, als Mandatare des deutschen Volkes die Regierung in die Hand zu nehmen, wieder hervorgebracht noch vertragen.


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