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Die »Parlamentarisierung«

 

[Fortdauer der Krisis]

Mit der Ernennung des Grafen Hertling war jedoch die Krisis nicht zu Ende, Denn nun präsentierten die Mehrheitsparteien, einschließlich der Nationalliberalen, mit großem Nachdruck ihre Forderungen auf »Parlamentarisierung« der Regierungen im Reich und in Preußen, indem sie sich auf Zusicherungen beriefen, die ihnen in den Verhandlungen über die Kandidatur des Grafen Hertling, insbesondere in den Besprechungen mit dem Staatssekretär von Kühlmann, gemacht worden seien.

Herr von Kühlmann hatte allerdings am 30. Oktober den Auftrag erhalten, den Führern der Mehrheitsparteien die in der auswärtigen Politik liegenden Gründe für eine glatte und rasche Erledigung der Kanzlerkrisis und speziell für die Kanzlerschaft des Grafen Hertling klarzumachen. Er hatte keinerlei Auftrag, Fragen der inneren Politik und Fragen der Besetzung von Minister- und Staatssekretärsposten mit den Parteiführern zu besprechen. Es stellte sich heraus, daß Herr von Kühlmann sich gleichwohl in eine solche Erörterung eingelassen hatte, und zwar so weit, daß die Mehrheitsparteien behaupteten, von ihm bestimmte Zusicherungen empfangen zu haben. So beriefen sich die Nationalliberalen darauf, daß ihnen die Ernennung des preußischen Abgeordneten Dr. Friedberg zum Vizepräsidenten des Preußischen Staatsministeriums zugesagt worden sei, und die Sozialdemokraten wie die Fortschrittler wollten verstanden haben, daß der Wunsch, den Abgeordneten von Payer zum Vizekanzler ernannt zu sehen, auf keine Schwierigkeiten stoßen werde. Als mir das zu Ohren kam, bat ich erneut den Grafen Hertling, mein Abschiedsgesuch dem Kaiser zu unterbreiten, erhielt aber noch am 31. Oktober abends vom Grafen Hertling die Antwort, von meinem Rücktritt könne gar keine Rede sein; in seinen Verhandlungen mit den Parteiführern sei von meiner Person und einem Wechsel in dem Posten des Vizekanzlers überhaupt mit keinem Wort gesprochen worden. Auch der Kaiser ließ mich wissen, daß er fest auf mein Verbleiben in meinem Amt als Stellvertreter des Reichskanzlers rechne und nur in dieser Voraussetzung sich mit der Kombination Hertling einverstanden erklärt habe.

 

Besprechung der östlichen Kriegsziele

In den folgenden Tagen beauftragte mich der nun zum Reichskanzler ernannte Graf Hertling mit der Leitung der Besprechungen über die östlichen Kriegsziele, die für den 2. und 3. November angesetzt waren und an denen außer den Chefs der sämtlichen Reichsämter und preußischen Ministerien auch der Generalfeldmarschall von Hindenburg und General Ludendorff teilnahmen. Die Besprechungen waren um so wichtiger, als für den 5. November Graf Czernin seinen Besuch angesagt hatte, um in erneute Verhandlungen über die polnische Frage, und zwar im Sinne der Angliederung Polens an die habsburgische Monarchie, einzutreten. Ebenso übertrug mir der Reichskanzler die Leitung der Besprechungen mit dem Grafen Czernin, die am 6. November im Beisein des Feldmarschalls von Hindenburg und des Generals Ludendorff stattfanden.

Diese Verhandlungen führten zu keinem endgültigen Ergebnis. Zwar hatte der Kaiser in einem am Montag, 5. November, im Schloß Bellevue stattgehabten Kronrat unter gewissen Voraussetzungen, die sich auf Grenzregulierung und Sicherung unserer Wirtschafts- und Verkehrsinteressen in Polen bezogen, seine grundsätzliche Zustimmung zu der sogenannten austro-polnischen Lösung gegeben, in der Absicht, dadurch ernste Friktionen mit der Donaumonarchie zu vermeiden und Österreich-Ungarn für das herannahende letzte und schwerste Stadium des Krieges so fest wie möglich an uns zu binden. Aber über diese Voraussetzungen ließ sich in den Besprechungen mit dem Grafen Czernin, da dieser weder in den Fragen der militärischen Grenzsicherung noch in den Wirtschafts- und Verkehrsangelegenheiten eine endgültige Stellung nehmen konnte, eine Einigung nicht erzielen. Es wurden vielmehr weitere Verhandlungen unter Zuziehung auch der österreichisch-ungarischen militärischen Stellen und der Ministerpräsidenten der beiden Reichshälften ins Auge gefaßt.

Unterdessen versteiften sich die Mehrheitsparteien immer mehr auf ihre Parlamentarisierungsforderungen. Schon am Sonntag, 4. November, teilte mir der Abgeordnete Haußmann mit, diese Wünsche, die auf Grund der Unterhaltungen mit Herrn von Kühlmann Gestalt angenommen hätten, müßten im Interesse eines ruhigen Zusammenarbeitens von Reichsleitung und Reichstag erfüllt werden. Die Fortschrittler hätten ursprünglich dem Verlangen nach Ministerposten kühl gegenübergestanden; als aber Dr. Friedberg nach Kühlmanns Erklärungen ernstlich als Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums in Betracht gekommen sei, und nachdem die Sozialdemokraten, für sich selbst auf einen Ministerposten verzichtend, den Fortschrittlern ihre Unterstützung für die Forderung nach einem preußischen Ministerposten und dem Posten des Vizekanzlers angeboten hätten, könne die Fortschrittliche Volkspartei nicht bei ihrer Zurückhaltung bleiben; seine Freunde wünschten aber, daß ich dem Reichsdienst erhalten bliebe, und ich müsse helfen, eine Lösung zu finden.

 

Das Vizepräsidium des Preußischen Staatsministeriums

Am Montag, 5. November, ermächtigte der Kaiser den Grafen Hertling, mit Herrn Dr. Friedberg wegen Übernahme des Vizepräsidiums des Preußischen Staatsministeriums in Verbindung zu treten. Am Abend des folgenden Tages teilte Graf Hertling in einer Besprechung, an der die meisten Staatssekretäre und preußischen Minister teilnahmen, mit, daß Herr Friedberg abgelehnt habe, und zwar weil ihm die inzwischen angemeldeten Ansprüche der Mehrheitsparteien zu weit zu gehen schienen und er sich nicht als Druckmittel für übertriebene Forderungen mißbrauchen lassen wolle. In dieser Besprechung erklärte ich dem Kanzler erneut, daß ich nichts sehnlicher wünschte als meinen Rücktritt; ich fügte aber hinzu, daß ich nicht daran dächte, ihn oder gar die Krone im Stich zu lassen; wenn man glaube, mich zu brauchen, stehe ich zur Verfügung; dann aber müßte ich für mich die ungeminderte Autorität meiner bisherigen Stellung als Vizekanzler beanspruchen.

Einen Augenblick schien es so, als ob die Ablehnung des preußischen Ministerpräsidiums durch Herrn Friedberg und die scharf gegen links Front nehmende Begründung dieses Schrittes durch die »Nationalliberale Korrespondenz ein Abrücken der Nationalliberalen von den Mehrheitsparteien zur Folge haben würde. Aber den Bemühungen einiger Parteifreunde des Herrn Friedberg, die unter allen Umständen die »Parlamentarisierung« herbeiführen wollten, gelang es, einen neuen Umschwung herbeizuführen. Am Tag nach seiner Ablehnung war Herr Friedberg bereit, das Vizepräsidium, falls die anderen schwebenden Fragen befriedigend erledigt würden, doch noch anzunehmen.

Ich hatte am Nachmittag des gleichen Tages, des 7. November, abermals den Besuch des Abgeordneten Haußmann, der mir u. a. berichtete, daß in der interfraktionellen Kommission eine von ihm veranlaßte Erörterung über meine Person stattgefunden habe; dabei sei von allen Seiten, auch von den Sozialdemokraten, zum Ausdruck gebracht worden, daß keinerlei persönliche Animosität gegen mich vorliege, daß man meine Leistungen anerkenne und wünsche, daß ich auch unter der neuen Ordnung der Dinge an leitender Stelle im Reichsdienst bleibe. Da nun aber einmal Übereinstimmung darüber bestehe, daß Herr von Payer Vizekanzler werden müsse, sei man auf den Gedanken der Schaffung eines neuen Reichsamtes gekommen, dem die Bearbeitung der Angelegenheiten der besetzten Gebiete und der auf die Friedensverhandlungen bezüglichen Fragen zugewiesen werden solle. Dieses neue Reichsamt solle mir angeboten werden, und gleichzeitig sollte ich die Mitgliedschaft des Preußischen Staatsministeriums behalten. Die Mitglieder der interfraktionellen Kommission seien ausnahmslos mit diesem Vorschläge einverstanden gewesen, und der Vorschlag solle am Abend den vom Reichskanzler mit den weiteren Verhandlungen beauftragten Staatssekretären Graf Roedern und von Kühlmann überbracht werden.

Ich antwortete Herrn Haußmann, daß mir das Einverständnis derjenigen Person zu fehlen scheine, auf die es doch in erster Linie ankomme, und das sei ich selbst. Ich sei bereit, zu gehen, wenn Kanzler und Kaiser mich gehen ließen; aber ich sei nicht bereit, ein anderes Amt zu übernehmen.

 

Meine Rücktrittsabsichten

Nach dem Besuch des Herrn Haußmann begab ich mich zum Grafen Hertling; ich bestand darauf, daß im Interesse der Sache wie auch meiner Person endlich in dem einen oder anderen Sinne Klarheit geschaffen werden müsse. Ich hätte nach wie vor in erster Linie den Wunsch, meinen Abschied zu erhalten; aber ich hätte keine Neigung, mich weiterhin in parlamentarischen Besprechungen und Verhandlungen zwischen meinen Kollegen und den Parteiführern als »corpus vile« behandeln und mich täglich dreimal in der Berliner Presse als lästigen Kleber hinstellen zu lassen. Ich könne mir auch nicht denken, daß die Autorität des Kanzlers und der Krone aus dieser Art der Behandlung der Besetzung wichtiger Reichs- und Staatsämter ohne starke Einbuße hervorgehen könne. Graf Hertling antwortete mir, er teile vollkommen meine Ansicht; es müsse unter allen Umständen jetzt Schluß gemacht werden; um sechs Uhr abends sollten die Staatssekretäre Graf Roedern und von Kühlmann die Parteiführer empfangen, aber lediglich, um sie anzuhören und ihnen für den nächsten Tag die endgültigen Entschließungen in Aussicht zu stellen. Ich möchte mich durch keine Zeitungsangriffe und Zwischenträgereien irremachen lassen; er wie der Kaiser rechneten unbedingt darauf, daß ich in meinem Amte ausharrte.

Um sechs Uhr eröffneten die Vertreter der Mehrheitsparteien und der Nationalliberalen den Staatssekretären Graf Roedern und von Kühlmann, sie wünschten die Ernennung Friedbergs zum preußischen Vizepräsidenten und Payers zum Vizekanzler; beide Herren seien zur Übernahme dieser Posten bereit; die Besetzung eines preußischen Ministerpostens mit einem Fortschrittler sei einstweilen zurückgestellt, aber nicht aufgegeben; ich solle Staatssekretär für die besetzten Gebiete und die Friedensvorbereitungen werden. In diesen Forderungen seien Nationalliberale, Fortschrittler, Zentrum und Mehrheitssozialdemokraten solidarisch.

Am Abend teilte mir Graf Roedern mit, der Kanzler habe ihn und Herrn von Kühlmann beauftragt, am nächsten Vormittag den Parteiführern folgende Lösung als endgültig mitzuteilen: Friedberg wird Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums; Helfferich bleibt Vizekanzler; von Payer wird Staatssekretär ohne Portefeuille mit der speziellen Aufgabe der Pflege der Beziehungen zwischen Reichsleitung und Parlament. Wenn die Fraktionsführer sich damit nicht befriedigt erklärten, so solle ihnen gesagt werden, daß der Kanzler die Wünsche des Parlaments nicht über die sachlichen Erwägungen stellen könne, die schließlich bei der Besetzung der wichtigsten Reichs- und Staatsämter ausschlaggebend bleiben müßten, und daß er unter den obwaltenden Umständen darauf verzichten müsse, jetzt überhaupt irgendwelche Personalveränderungen dem Kaiser und König vorzuschlagen. Graf Roedern schloß an diese Mitteilung die erneute dringende Bitte, ich möchte von der Einreichung eines Abschiedsgesuchs Abstand nehmen.

 

Mein Entlassungsgesuch

Über Nacht jedoch besann sich Graf Hertling eines andern. Am nächsten Morgen ließ er mich zu sich bitten und sagte mir, es falle ihm furchtbar schwer, aber nach reiflicher Überlegung aller Umstände müsse er sich doch dazu entschließen, von meinem wiederholten Anerbieten, den Posten des Vizekanzlers freizugeben, Gebrauch zu machen. Er müsse, wenn wieder Ruhe einkehren solle, den Mehrheitsparteien das Zugeständnis machen, den Vizekanzlerposten an Herrn von Payer zu geben. Meine Person müsse aber dem Reiche erhalten bleiben, und er bitte mich deshalb, alle Bedenken und Empfindlichkeiten zurückzustellen und das neu zu schaffende Reichsamt für die besetzten Gebiete und die Friedensvorbereitungen zu übernehmen.

Ich erklärte mich bereit zur sofortigen Einreichung meines Abschiedsgesuchs, das ich bisher nur auf den bestimmten Wunsch des Grafen Hertling zurückgehalten hatte, lehnte es aber ab, ein neues Amt zu übernehmen. Speziell die Vorbereitung der Friedensverhandlungen müsse angesichts des alle Ressorts umfassenden Arbeitsbereichs in den Händen des Kanzlers selbst oder des Vizekanzlers liegen; wenn ersterer durch seine anderen Geschäfte an der Wahrnehmung dieser Aufgabe verhindert sei und der Vizekanzler wegfalle oder aus anderen Gründen für die Vorbereitung der Friedensverhandlungen nicht in Betracht komme, so bliebe nach meiner Ansicht nur übrig, diese Aufgabe einer dem Auswärtigen Amt zu attackierenden Stelle zu übertragen. Als ich bei meiner bestimmten Ablehnung blieb, bat mich Graf Hertling, als Minister ohne Portefeuille .Mitglied des Preußischen Staatsministeriums zu bleiben. Ich glaubte auch dieses Angebot ablehnen zu müssen, da eine Persönlichkeit, die weder ein preußisches Ressort noch ein Reichsamt vertritt, nach meiner Ansicht in dem Preußischen Staatsministerium nichts zu suchen und zu sagen habe. Außerdem aber gehe die jetzt vom Reichskanzler und Ministerpräsidenten ins Auge gefaßte Beendigung der über fast zwei Wochen hinge schleppten Verhandlungen so sehr gegen meine konstitutionelle Staatsauffassung, daß ich es ablehnen müsse, durch mein Verbleiben im Preußischen Staatsministerium eine Mitverantwortung für den Weg zu übernehmen, den die Krone geführt worden sei.

Graf Hertling war etwas betroffen. Er bekannte, die Erledigung der Sache gehe auch gegen seine Staatsauffassung. Aber er sehe keinen anderen Weg als diesen, oder seinen Rücktritt mit der Konsequenz der Militärdiktatur. Deshalb glaube er, zu einem »sacrificio dell' intelletto« gezwungen zu sein. Er kam dann auf meine Person zurück und stellte die Form, in der ich bleiben wolle, ganz in meine freie Wahl. Ich bat erneut, mich rein und glatt gehen zu lassen. Er fragte, ob ich bereit sei, den Botschafterposten in Konstantinopel oder in Wien anzunehmen. Ich lehnte auch dieses ab mit dem Hinweis darauf, daß beide Posten besetzt seien und ich niemand verdrängen wolle. Ich könne nur wiederholen, daß, wie die Dinge sich entwickelt hätten, mein einziger Wunsch sei, ins Privatleben zurückzukehren; als freier Privatmann würde ich meinen Rat und meine Mitwirkung, wo sie verlangt würden, nicht versagen.

Graf Hertling bat mich schließlich um die Ermächtigung, meinen an ihn gerichteten Brief vom 28. Oktober dem Kaiser vorlegen zu dürfen. Ich erklärte mich nicht nur damit einverstanden, sondern erklärte mich bereit, soviel an mir liege, den Kaiser von der Unhaltbarkeit meiner Stellung zu überzeugen.

Eine halbe Stunde später hatte der Reichskanzler mein an den Kaiser gerichtetes Gesuch um Entlassung aus meinen Ämtern als Stellvertreter des Reichskanzlers und Mitglied des Preußischen Staatsministeriums in Händen.

Dem Kaiser, der den Grafen Hertling am Nachmittag empfing, stellte dieser vor, daß er, falls Seine Majestät mein Gesuch um Enthebung von dem Amte des Vizekanzlers und die Berufung des Herrn von Payer auf diesen Posten ablehne, seine Mission als gescheitert ansehen und sein Amt als Reichskanzler niederlegen müsse. Graf Hertling hat mir später erzählt, der Kaiser habe erst, nachdem er von meinem Brief vom 28. Oktober Kenntnis genommen hatte, sich zu der Bewilligung meines Abschieds bereit gefunden. Der Kaiser teilte mir die Genehmigung meines Abschiedsgesuches in einem ungewöhnlich herzlichen Handschreiben mit, an dessen Schluß er die Erwartung ausdrückte, daß ich mich zur Erfüllung besonderer Aufgaben zu seiner Verfügung halten wurde.

Er hat mir diese Erwartung auch persönlich ausgesprochen mit dem ausdrücklichen Hinzufügen, daß er insbesondere für die Friedensverhandlungen auf meine Dienste rechne.

Mit meiner Entlassung und der Ernennung des Herrn von Payer zu meinem Nachfolger als Stellvertreter des Reichskanzlers war die Krisis abgeschlossen. Der Übergang von dem sogenannten »konstitutionellen Regime« zum »parlamentarischen Regime« war in der Sache vollzogen. An der Spitze der Regierung des Reiches und Preußens stand als Reichskanzler und Ministerpräsident nunmehr ein Mann, der lange Jahre hindurch als Abgeordneter der Führer der Zentrumspartei gewesen war. Sein Vertreter im Reich war der anerkannte Führer der Fortschrittlichen Volkspartei und gleichzeitig der Mann des Vertrauens der Mehrheitssozialisten, die mehr noch als seine eigenen Parteigenossen auf seiner Ernennung zum Vizekanzler bestanden hatten. Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums war der nationalliberale Parteiführer Dr. Friedberg. Soweit das Reich in Betracht kam, stellte diese Kombination eine Vertretung der parlamentarischen Mehrheitsgruppierung dar, wie sie sich seit dem Beginn der Julikrisis entwickelt hatte. Für Preußen allerdings stand hinter dem »Kabinett Hertling« keine parlamentarische Mehrheit, zumal da weder die Nationalliberalen noch das Zentrum des Preußischen Abgeordnetenhauses geschlossen hinter dem wichtigsten Programmpunkte der neuen Regierung, dem gleichen Wahlrecht, standen. Die das parlamentarische System vertretenden Parteien gingen hier über das auf Grund des Dreiklassenwahlrechts gewählte Parlament zur Tagesordnung über und antizipierten die künftige, auf Grund des gleichen Wahlrechts zu wählende Volksvertretung, in der sie für sich die Mehrheit glaubten erwarten zu können.

 

Übergang zum parlamentarischen Regime

Ich weiß mich frei von persönlicher Empfindlichkeit und stehe nicht an zu bekennen, daß in den mehr als drei Kriegsjahren das alte »konstitutionelle Regime« versagt hatte. Mehr als jemals in Friedenszeiten war die Regierung in diesem Kriege, der vom deutschen Volke das Höchste und Letzte verlangte, auf die gutwillige und verständnisvolle Unterstützung durch die Volksvertretung angewiesen. In den ersten Kriegsjahren wurde ihr diese Unterstützung in dem Schwunge vaterländischer Begeisterung und in der Erkenntnis der Hochgefahr für Reich und Volk ohne Mäkeln und Markten gewährt. Aber allmählich wurde in der Empfindung des Volkes und seiner Vertretung das Außerordentliche zum Alltäglichen. Der erste Grundsatz des Burgfriedens, daß während des Krieges von keiner Seite eine Veränderung des innerpolitischen Status quo verlangt, geschweige denn erzwungen werden sollte, wurde preisgegeben, und damit wurde neben dem Krieg nach außen der Kampf im Innern entfesselt. Ein Kampf unter ungleichen Bedingungen. Denn in ihm waren diejenigen Volksteile und Parteien die stärkeren, die sich nicht scheuten, für die Durchsetzung ihrer Forderungen die Not- und Zwangslage auszunutzen, die der Krieg über das Reich verhängte. Die Sozialdemokratie war es, die – treibend und getrieben – hier voranging. Ihre Führer haben schon frühzeitig in dringlicher Form innerpolitische Forderungen präsentiert, sicherlich zum Teil in der guten und ehrlichen Absicht, die unter dem Druck des Krieges immer schwerer leidenden Massen gegenüber der gefährlichen Agitation der Unabhängigen Sozialdemokraten nicht nur bei der Partei, sondern auch bei der Sache des Vaterlandes festzuhalten. Die Fortschrittliche Volkspartei, das Zentrum und die Nationalliberalen folgten mehr oder minder zögernd, teils in der Überzeugung, daß nur eine Erweiterung der Volksrechte unser Volk moralisch zum Durchhalten befähigen könne, teils aber auch aus Parteikonkurrenz, vor allem aber aus dem Gesichtspunkt heraus, daß der Krieg verloren sei, wenn die Sozialdemokratie mit ihrer Gefolgschaft abschwenke und etwa die Kriegskredite verweigere.

 

Volksvertretung und Regierung

Mit dem Aufwerfen der innerpolitischen Streitfragen und dem Wiederaufleben des Parteikampfes hörte auch die reibungslose Unterstützung der Regierung durch den Reichstag auf. Die alte Übung der Friedenszeit trat wieder in Kraft, nach der die Reichstagsparteien in der Reichsleitung den natürlichen Gegner sahen, nach der jede Kritik und jeder Angriff gegen die Regierungsvertreter eine lobenswerte parlamentarische Tat war und der Abgeordnete es fast als eine Verlegenheit empfand, für die Regierung« als »freiwilliger Regierungskommissar« eintreten zu müssen. Schon im Frieden ließ sich mit diesem System nur schwer regieren, im Krieg wurde es zur Unmöglichkeit. Eine Regierung, die den größten Krieg der Weltgeschichte zu führen hatte, durfte nicht durch Reihungen mit dem Parlament, oft der kleinlichsten Art, bis nahezu an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit in Anspruch genommen werden; sie durfte nicht fortgesetzt durch Angriffe aus der Volksvertretung heraus und von der an den Vorgängen in der Volksvertretung sich erregenden Presse und öffentlichen Meinung gegenüber dem Ausland in ihrer Autorität geschwächt werden. Beides aber trat mit der zunehmenden Dauer des Krieges in steigendem Maße ein. Es wurde mir mitunter als Unfreundlichkeit gegenüber dem Reichstag verdacht, wenn ich mir erlaubte, darauf aufmerksam zu machen, daß die Reichsleitung, und namentlich die Herren des wirtschaftlichen Reichsressorts, in diesem Kriege noch etwas anderes zu tun hätten, als tagaus tagein in meist recht fruchtlosen Verhandlungen im Reichstag und seinen Ausschüssen ihre Zeit zu verbringen. In Wirklichkeit ist durch die Zeit und Kraft, die der Reichstag nur und meinen Mitarbeitern überflüssigerweise entzogen hat, die wirtschaftliche Kriegführung immer empfindlicher geschädigt und beeinträchtigt worden. Und das gewohnheitsmäßige Betonen und Unterstreichen eines jeden Gegensatzes zur Reichsleitung, dazu der mit der Dauer des Krieges immer fühlbarer werdende Mangel an Selbstbeherrschung seitens großer Teile der Volksvertretung mußten dazu führen, im feindlichen Auslande nicht nur das Wort und die Handlungen unserer leitenden Staatsmänner zu entwerten, sondern auch das Bild unserer inneren Zerrüttung hervorzurufen und die Hoffnung zu erwecken, daß sich das deutsche Volk gegen seinen Kaiser, gegen seine Regierung und gegen eine angeblich herrschende Kaste werde ausspielen lassen. Wir haben dem Präsidenten Wilson sein gefährlichstes Stichwort selbst geliefert.

Ich habe persönlich unter diesen Zuständen seit der Übernahme des Reichsamts des Innern auf das schwerste gelitten, zumal da für mich die Reibungen mit dem Parlament durch die im Verlauf dieser Darstellung angedeuteten Reibungen mit der Obersten Heeresleitung empfindlich verschärft wurden, Es war deshalb nicht eine Redensart, sondern mein bitterer Ernst, wenn ich schon gelegentlich der Verabschiedung des Herrn von Bethmann Hollweg den Kaiser bat, mir in Rücksicht auf die Gegnerschaften in Parlament und Presse, die ich mir zugezogen hatte, meine Entlassung zu gewähren, und wenn ich dem Grafen Hertling, als er zur Übernahme des Reichskanzleramtes nach Berlin berufen wurde, mündlich und schriftlich diese Gegnerschaft als eine für ihn ebenso unerwünschte wie vermeidbare Belastung bezeichnete.

Es gab in der Tat nur zwei Wege: entweder den Konflikt mit der Mehrheit des Reichstags entschlossen aufzunehmen, oder den Versuch zu machen, durch die persönliche Zusammensetzung der Regierung ein möglichst reibungsloses Hand-in-Hand-Arbeiten von Reichsleitung und Volksvertretung zu sichern.

Es mag sein, daß es überhaupt nicht zum Konflikt gekommen wäre, wenn es Kaiser und Kanzler ernstlich auf einen Konflikt hätten ankommen lassen. Aber das Wagnis eines ernstlichen Konfliktes in einem Krieg, in dem wir nicht nur auf die unbedingte Pflichterfüllung des Heeres, sondern auch auf die gutwillige Mitarbeit aller schaffenden Hände in der Heimat angewiesen waren, erschien zu groß.

Man beschritt also den zweiten Weg.

Von Anfang an habe ich auf das tiefste bedauert, daß sich die als notwendig erkannte Fortbildung unserer verfassungsmäßigen Zustände in Formen und unter Begleitumständen vollzogen hat, die unwürdig waren und die geradezu demoralisierend wirken mußten. Graf Hertlings Position war durch den Rückhalt, den er beim Zentrum hatte, stark genug, um die Möglichkeit zu haben, die Führung bei der parlamentarischen Ausgestaltung seiner Regierung in die eigene Hand zu nehmen. Er hatte es nicht nötig, sich und die Krone nach langem Hin und Her einfach dem Diktat der interfraktionellen Kommission zu unterwerfen. Aber zur eigenen Führung in schwierigen Lagen reichte die Kraft des alten Herrn offenbar nicht mehr aus.

So wurde Entstehung, Verlauf und Ende dieser zweiten Kanzlerkrisis zu einer schweren Erschütterung der Staatsautorität, zu einer Ermutigung der radikalen, ja umstürzlerischen Elemente im eigenen Lande und zu einer neuen Hoffnung für unsere Feinde.


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