Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die erste Phase der Brester Friedensverhandlungen

Am 22. Dezember 1917 fand in Brest die erste Verhandlung über den Frieden statt. Die Leiter der auswärtigen Politik sämtlicher beteiligten Staaten waren, abgesehen von dem russischen Volkskommissar für die auswärtigen Angelegenheiten, der sich durch Herrn Joffe, den späteren russischen »Botschafter« in Berlin, vertreten ließ, persönlich anwesend.

In seiner Eröffnungsansprache führte Herr von Kühlmann u. a. aus:

»Unsere Verhandlungen werden erfüllt sein von dem Geist versöhnlicher Menschenfreundlichkeit und gegenseitiger Achtung. Sie müssen Rechnung tragen einerseits dem historisch Gegebenen und Gewordenen, um nicht den festen Boden der Tatsachen unter den Füßen zu verlieren, andererseits aber auch getragen sein von jenen neuen und großen Leitgedanken, auf deren Boden die hier Versammelten zusammentreffen.«

Mit dem Hinweis auf das »historisch Gegebene und Gewordene« waren die Vorbehalte angedeutet, die unsere Unterhändler in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationalitäten machen mußten, sobald die praktische Anwendung dieses Prinzips in Frage kam.

 

Das russische Programm

Schon in jener ersten Sitzung entwickelte die russische Delegation ihr Programm. Sie schlug vor, folgende sechs Punkte den Verhandlungen zugrundezulegen:

  1. Keine gewaltsame Angliederung von eroberten Gebieten; die Truppen werden die von ihnen besetzten Gebiete alsbald räumen.
  2. Volle Wiederherstellung der politischen Selbständigkeit der Völker, die ihre Selbständigkeit im Kriege verloren haben.
  3. Den nationalen Gruppen, die vor dem Kriege keine politische Selbständigkeit besaßen, wird die Möglichkeit gewährleistet, die Frage ihrer Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Staat oder ihrer staatlichen Selbständigkeit durch freie Volksabstimmung zu entscheiden.
  4. Gewährleistung der Rechte der nationalen Minderheiten in national gemischten Gebieten.
  5. Keine Kriegsentschädigung. Privatschäden sind aus einem besonderen Fonds, zu dem alle kriegführenden Länder proportional beisteuern, zu entschädigen.
  6. Die kolonialen Fragen werden unter Beachtung der in den Punkten 1–4 enthaltenen Grundsätze entschieden.

Die russische Delegation schlug weiter vor, jede Art versteckter Bekämpfung der Freiheit schwächerer Nationen durch stärkere auszuschließen, so den wirtschaftlichen Boykott, die wirtschaftliche Unterjochung eines Landes durch ein anderes im Wege aufgezwungener Handelsverträge, die Verhängung von Seeblockaden, die nicht unmittelbare Kriegszwecke verfolgen.

Die Vertreter der Mächte des Vierbundes erklärten ihre Bereitwilligkeit, in eine Prüfung der russischen Vorschläge einzutreten.

Auch Graf Czernin hatte sein Programm für die Verhandlungen mitgebracht. Es kam demjenigen der russischen Delegation sehr nahe, insbesondere auch in der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Bewohner Polens, Litauens und des Baltikums und in der Frage der Räumung der besetzten Gebiete. Jetzt war also die Zwangslage da, in der die Vertreter des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns in der allerkürzesten Frist angesichts des Verhandlungsgegners die bisher versäumte Einigung wenigstens insoweit nachholen mußten, daß eine einheitliche Antwort auf die russischen Vorschläge formuliert werden konnte.

Graf Czernin selbst hat in seiner Rede vom 11. Dezember 1918 über diese Lage wie folgt berichtet:

»Bei Besprechung dieses (des österreichisch-ungarischen) Entwurfs mit den deutschen Unterhändlern ergaben sich besonders in zwei Punkten große Schwierigkeiten. Die eine betraf die Räumungsfrage. Die deutsche Heeresleitung erklärte kategorisch, daß sie einer Räumung der besetzten Gebiete vor Abschluß des allgemeinen Friedens unter keinen Umständen zustimmen könne. Der zweite Gegensatz tauchte in der Behandlung der besetzten Gebiete auf. Deutschland bestand nämlich darauf, es solle im Friedensvertrag mit Rußland bloß festgestellt werden, daß Rußland den Völkerschaften auf seinen Gebieten das Selbstbestimmungsrecht gewährt habe, und daß diese Nationen von diesem Rechte bereits Gebrauch gemacht hätten. Den in unserem Entwurf eingenommenen klaren Standpunkt vermochten wir nicht durchzusetzen, obwohl dieser auch von den anderen Verbündeten geteilt wurde. Immerhin kam bei Redigierung der dann am 25. Dezember 1917 auf die russischen Friedensvorschläge erteilten Antwort unter unserem beharrlichen Drängen eine Kompromißlösung zustande, die wenigstens vorerst den ablehnenden deutschen Standpunkt in diesen beiden Fragen nicht zum Durchbruch kommen ließ. In der Frage der Räumung der besetzten Gebiete wurde deutscherseits das Zugeständnis gemacht, daß über die Zurückziehung einzelner Truppenteile eventuell schon vor dem allgemeinen Frieden Vereinbarungen getroffen werden könnten. In der Annexionsfrage konnte eine befriedigende Formulierung dadurch erzielt werden, daß sie auf den Fall des allgemeinen Friedens abgestellt wurde. Wäre damals die Entente zu einem allgemeinen Frieden bereit gewesen, so wäre das Prinzip ‚keine Annexionen' vollkommen durchgedrungen. »

Am 25. Dezember 1917 verlas Graf Czernin in der Besprechung mit den russischen Bevollmächtigten namens des Vierbundes die also zustandegekommene Kompromißerklärung. Sie stellte voran die Bereitwilligkeit der Mächte des Vierbundes, unverzüglich einen allgemeinen Frieden ohne gewaltsame Gebietserwerbungen und ohne Kriegsentschädigungen zu unterschreiben; es müsse aber ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß sich sämtliche jetzt am Kriege beteiligten Mächte innerhalb einer angemessenen Frist ausnahmslos ohne jeden Rückhalt zur genauesten Beachtung der alle Völker in gleicher Weise bindenden Bedingungen verpflichten müßten, wenn die Voraussetzungen der russischen Delegation erfüllt sein sollten.

 

Antwort der Verbündeten

Im einzelnen erklärte Graf Czernin zu den sechs Punkten des russischen Vorschlags:

  1. Gewaltsame Aneignung von Gebieten, die während des Krieges besetzt worden sind, liege nicht in der Absicht der verbündeten Regierungen. Über die Truppen in den zurzeit besetzten Gebieten werde im Friedensvertrage Bestimmung getroffen werden, soweit nicht über die Zurückziehung an einigen Stellen vorher Einigkeit erzielt wird.
  2. Es liege nicht in der Absicht der Verbündeten, eines der Völker, die in diesem Kriege ihre politische Selbständigkeit verloren haben, dieser Selbständigkeit zu berauben.
  3. Die staatliche Zugehörigkeit nationaler Gruppen, die keine staatliche Selbständigkeit besitzen, könne nicht zwischenstaatlich geregelt werden, sondern sei von jedem Staat mit seinen Völkern selbständig auf verfassungsmäßigem Wege zu lösen.
  4. Der Schutz des Rechtes der nationalen Minderheiten bilde einen wesentlichen Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts des Völker.
  5. Die verbündeten Mächte hätten mehrfach die Möglichkeit eines wechselseitigen Verzichtes auf Ersatz sowohl von Kriegskosten als auch von Kriegsschäden betont. Hiernach würden von jeder kriegführenden Macht nur die Aufwendungen für ihre in Kriegsgefangenschaft geratenen Angehörigen sowie die im eigenen Gebiet durch völkerrechtswidrige Gewaltakte den Zivilangehörigen des Gegners zugefügten Schäden zu ersetzen sein.
  6. Die Rückgabe der während des Krieges besetzten Kolonialgebiete sei ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Forderungen. Dagegen sei die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Bewohner auf die Kolonien in den von der russischen Delegation vorgeschlagenen Formen zurzeit nicht durchführbar.

Außerdem erklärte Graf Czernin die uneingeschränkte Zustimmung der Vierbundmächte zu den von der russischen Delegation vorgeschlagenen Grundsätzen der Ausschließung jedweder wirtschaftlichen Vergewaltigung.

In Erwiderung auf diese Erklärung machte der Führer der russischen Delegation zwar einige Vorbehalte, erklärte jedoch zum Schluß, daß die in der Antwort der Vierbundmächte enthaltene offene Ablehnung aller aggressiven Absichten die Möglichkeit biete, sofort zu Verhandlungen über einen allgemeinen Frieden unter allen kriegführenden Staaten zu schreiten. Mit Rücksicht hierauf schlage er vor, eine zehntägige Unterbrechung der Verhandlungen eintreten zu lassen, um den übrigen kriegführenden Völkern die Möglichkeit zu geben, sich auf der jetzt gewonnenen Grundlage den Verhandlungen anzuschließen. Nach Ablauf dieser Frist müßten die Verhandlungen unter allen Umständen fortgesetzt werden. Auf den Vorschlag des Grafen Czernin und des Herrn von Kühlmann erklärte er sich jedoch bereit, sogleich in die Besprechung der Einzelfragen einzutreten, die auch im Falle eines allgemeinen Friedens zwischen Rußland und den vier Verbündeten zu regeln wären.

 

Eingreifen der Obersten Heeresleitung

Durch die von dem Grafen Czernin abgegebene Erklärung waren, soweit das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten der besetzten Gebiete in Frage kam, die Meinungsverschiedenheiten nicht beseitigt, sondern nur verdeckt. Die künstlich aufgerichtete Kulisse mußte spätestens fallen, wenn – wie vorauszusehen war – aus den allgemeinen Friedensverhandlungen nichts wurde. Sie fiel aber schon vorher, und zwar auf Grund des Eingreifens der Obersten Heeresleitung. Diese fand die von dem Grafen Czernin abgegebene Erklärung nicht im Einklang mit den im Großen Hauptquartier mit dem Reichskanzler und Herrn von Kühlmann getroffenen Absprachen und übersah wohl auch nicht ganz die taktische Verhandlungslage. Sie remonstrierte scharf.

»Der Leiter der deutschen Friedensdelegation,« so berichtet Graf Czernin, »geriet in Gefahr, gestürzt zu werden, in welchem Falle wahrscheinlich ein Exponent der schärfsten militärischen Auffassung die Leitung der deutschen auswärtigen Politik in die Hand bekommen hätte. Da dies aber auf den weiteren Gang der Friedensverhandlungen nur eine ungünstige Wirkung ausüben konnte, mußte unsererseits alles aufgeboten werden, Herrn von Kühlmann zu halten. Zu diesem Zweck wurde ihm zur Weitergabe nach Berlin mitgeteilt, daß, wenn Deutschland bei seiner scharfen Politik beharren werde, Österreich-Ungarn sich veranlaßt sehen würde, mit Rußland einen Separatfrieden abzuschließen. Diese Erklärung ist in Berlin nicht ohne Eindruck geblieben und hat wesentlich dazu beigetragen, daß Kühlmann sich damals behaupten konnte.«

Die Wirkung des Eingreifens der Obersten Heeresleitung war, daß bei der Beratung über die mit Rußland zu regelnden Einzelfragen Herr von Kühlmann im Einverständnis mit dem Grafen Czernin am 27. Dezember 1917 einen Artikel 1 und 2 des mit Rußland abzuschließenden Friedens Vertrages machte, der im wesentlichen besagte:

1. Rußland und Deutschland erklären die Beendigung des Kriegszustandes. Deutschland würde bereit sein, sobald der Frieden mit Rußland geschlossen und die Demobilisierung der russischen Streitkräfte durchgeführt ist, die besetzten russischen Gebiete zu räumen, soweit sich nicht aus 2 ein anderes ergibt.

2. Nachdem die russische Regierung für alle im Verband des Russischen Reiches lebenden Völker ein bis zur völligen Absonderung gehendes Selbstbestimmungsrecht proklamiert hat, nimmt sie Kenntnis von den Beschlüssen, worin der Volkswille ausgedrückt ist, für Polen, sowie für Litauen, Kurland, Teile von Estland und Livland die volle staatliche Selbständigkeit in Anspruch zu nehmen und aus dem russischen Reichsverbande auszuscheiden. Da in diesen Gebieten die Räumung nicht gemäß den Bestimmungen unter 1 vorgenommen werden kann, so werden Zeitpunkt und Modalitäten der nach russischer Auffassung nötigen Bekräftigung der schon vorliegenden Lostrennungserklärungen durch ein Volksvotum auf breiter Grundlage, bei dem irgendein militärischer Druck in jeder Weise auszuschalten ist, der Beratung und Festsetzung durch eine besondere Kommission vorbehalten.

 

Das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten

Demgegenüber hielt die russische Regierung an ihrem Standpunkt fest, daß als Ausdruck des Volkswillens nur das Ergebnis einer gänzlich freien, in Abwesenheit jeglicher fremden Truppen erfolgenden Volksabstimmung angesehen werden könne; sie erklärte sich jedoch damit einverstanden, daß zur Prüfung der technischen Bedingungen für die Verwirklichung eines derartigen Referendums sowie zur Festsetzung bestimmter Räumungsfristen eine Spezialkommission eingesetzt werde.

Sodann wurde entsprechend dem russischen »Vorschläge die Vertagung bis zum 4. Januar ausgesprochen, um Rußlands Verbündeten die Möglichkeit des Beitritts zu den Verhandlungen zu geben.

Die sachliche Meinungsverschiedenheit zwischen dem deutschen und dem russischen Standpunkt in der Frage der Räumung des besetzten. Gebietes und der Selbstbestimmung der Nationalitäten, die durch die vom Grafen Czernin am 25. Dezember vorgetragene allgemeine Formulierung verdeckt worden war, hatte nunmehr durch den Kühlmannschen Vorschlag vom 27. Dezember eine scharfe Beleuchtung erfahren. Immerhin war die Verhandlung bis zu dem am 28. Dezember gefaßten Vertagungsbeschluß in guten Formen geführt worden.

In Petersburg dagegen schlug man sofort eine andere Tonart an. Durch die offiziöse Petersburger Telegraphenagentur wurde über die Sitzung vom 28. Dezember ein Bericht verbreitet, der dem Vorsitzenden der russischen Delegation im Wege freier Erfindung die schärfsten Worte der Kritik und des Protestes gegen die Kühlmannsche Formulierung in den Mund legte, in der Absicht, die deutsche Vertretung eines illoyalen und unanständigen Vorgehens zu beschuldigen. Außerdem ließ die Petersburger Regierung eine wahre Flut von Funksprüchen und Aufrufen los, die gröbliche Beschimpfungen der deutschen Heerführer und Heereseinrichtungen sowie Aufforderungen revolutionären Charakters an die deutschen Truppen und Arbeitermassen enthielten.

 

Rußland gegen die deutsche Formulierung

Der schon bei Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen durch das Verhalten der russischen Delegation und, mehr noch, der russischen Regierung entstandene Verdacht, daß es den führenden Männern des bolschewistischen Rußland in erster Linie auf die Propaganda für die Revolutionierung der breiten Massen und der Armeen der anderen kriegführenden Länder ankomme, wurde jetzt zur unabweisbaren Gewißheit. Wenn irgend etwas diese Gewißheit weiter verstärken konnte, so war es der am 2. Januar 1918, zwei Tage vor dem für den Wiederbeginn der Verhandlungen in Brest-Litowsk vereinbarten Termin, an die Regierungen der Vierbundmächte gemachte Vorschlag, die Friedensverhandlungen nach Stockholm zu verlegen, zumal da dieser Vorschlag von der summarischen Feststellung begleitet war, daß die russische Regierung den vom Grafen Czernin am 25. Dezember 1917 gemachten Vorschlag – also nicht etwa erst die Kühlmannsche Formulierung vom 27. Dezember – als dem Grundsatz der freien Selbstbestimmung der Völker widersprechend ansehe.

Graf Hertling teilte daraufhin in dem am 4. Januar 1918 zusammengetretenen Hauptausschuß des Reichstags mit, er habe Herrn von Kühlmann ermächtigt, die Verlegung der Friedensverbandlungen nach Stockholm abzulehnen; abgesehen davon, daß wir nicht in der Lage seien, uns von den Russen den Ort der Verhandlungen vorschreiben zu lassen, sprächen gegen Stockholm technische Schwierigkeiten der telegraphischen Verbindung mit den Hauptstädten der beteiligten Staaten sowie die Gefahr von Machenschaften der Entente. Graf Hertling konnte seiner Mitteilung hinzufügen, daß inzwischen bevollmächtigte Vertreter der Ukraine, die sich am 19. Dezember 1917 zur selbständigen Volksrepublik erklärt hatte, in Brest-Litowsk eingetroffen seien, und daß wir ganz ruhig mit den Vertretern der Ukraine weiterverhandeln würden.

Die feste Haltung Deutschlands und seiner Verbündeten hatte zur Folge, daß bereits am 5. Januar die Petersburger Regierung mitteilte, daß angesichts des Eintreffens der Delegationen des Vierbundes am alten Verhandlungsort auch die russische Delegation, dieses Mal unter der Führung des Volkskommissars für die auswärtigen Angelegenheiten, des Herrn Trotzki selbst, nach Brest-Litowsk kommen werde in der Überzeugung, daß man sich dort über die Verlegung der Verhandlungen auf neutralen Boden unschwer einigen werde.


 << zurück weiter >>