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Meine Moskauer Mission

Auch im Osten hatten sich inzwischen die Dinge äußerst unerfreulich gestaltet.

Nach der Ratifikation des Friedens von Brest-Litowsk war Herr Joffe als »Diplomatischer Vertreter der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik« in Berlin eingezogen und hatte nach einigem Hin und Her in dem Palast der ehemals Kaiserlich Russischen Botschaft Unter den Linden sein Quartier aufgeschlagen. Eine große blutrote Fahne wehte über dem Gebäude, dessen neue Bewohner alsbald im intimsten Verkehr mit unseren ihre revolutionären Absichten kaum mehr verhüllenden Unabhängigen Sozialdemokraten und Liebknecht-Anhängern standen.

Als »Diplomatischer Vertreter des Deutschen Reiches« wurde Graf Mirbach nach Moskau entsandt. Der Graf war vor dem Krieg lange Jahre hindurch Botschaftsrat in Petersburg gewesen, und er hatte nach Abschluß des Waffenstillstandes an der Spitze der Kommission für die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Verkehrs, den Austausch der Zivilinternierten usw. in Petersburg gewirkt. Es wurde ihm jetzt ein umfangreicher Stab von Mitarbeitern, Sachverständigen, Kommissaren und Kommissionen beigegeben. Seine Aufgabe war nicht nur die Wiederherstellung normaler diplomatischer Beziehungen, die Beobachtung der weiteren Entwicklung und die Wahrnehmung der deutschen politischen Interessen, sondern auch die Sorge für die möglichst rasche Zurückführung unserer Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, für die Sammlung und den Abtransport der »Rückwanderer« aus den zahlreichen deutschen Niederlassungen in Rußland, schließlich die Sorge für die Herstellung guter, für Deutschland wie für Rußland vorteilhafter wirtschaftlicher Beziehungen und die Nutzbarmachung der Warenbestände und Hilfsquellen Rußlands für das wirtschaftlich schwer kämpfende Deutschland.

 

Die Lage in Rußland

Die Lage, die Graf Mirbach vorfand, als er Ende April 1918 in Moskau eintraf, war äußerst schwierig und verworren.

Die Bolschewikiregierung konnte, wie der Ausfall der Wahlen zu der Konstituierenden Duma gezeigt hatte, nur auf eine bescheidene Minderheit der russischen Bevölkerung auch der großrussischen – als ihre unmittelbare Anhängerschaft zählen. Allerdings leistete ihr auch die Partei der »Linken Sozialrevolutionäre« zunächst Gefolgschaft. Aber schon in der Frage: Annahme oder Ablehnung des Brester Friedens? war es zwischen den beiden verbündeten Parteien zu Meinungsverschiedenheiten gekommen, die sich in der Folgezeit verschärften.

An Machtmitteln standen der Sowjetregierung zur Verfügung vor allem eine Anzahl gut disziplinierter und kampferprobter lettischer Regimenter; die sogenannte »Rote Garde« war in der Hauptsache noch ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der erst noch organisiert und ausgebildet werden mußte.

Nach außen stand die Sowjetrepublik im Kampf mit Finnland, mit der Ukraine, mit den Donkosaken, den Stämmen des Kaukasus und einem großen Teil Sibiriens, Außerdem tauchten als neue Gefahr die tschecho-slowakischen Truppen auf, Kriegsgefangene und Überläufer, die im März 1918 von der russischen Regierung die Erlaubnis erhalten hatten, bewaffnet über Wladiwostok zur französischen Front zu gehen, es dann aber – im Laufe des Mai – unter der Einwirkung von Entente-Einflüssen vorzogen, sich an der Sibirischen Bahn festzusetzen und ihre Waffen gegen Sowjetrußland zu kehren. Ferner drangen die Türken im Kaukasusgebiet weit über die Grenzen der Kreise von Kars, Erdehan und Batum vor; sie bedrohten vor allem das für die Versorgung Rußlands mit Brennstoff außerordentlich wichtige Erdölgebiet von Baku. Schließlich zeigten sich im Laufe des Monats Juni Ententetruppen an der Murmanküste.

Deutschland hatte gegenüber Sowjetrußland für die Finnen und Ukrainer offen Partei genommen und diesen Waffenhilfe geleistet; auch durch den offiziellen Friedensschluß, der Rußland die Anerkennung Finnlands und der Ukraine auferlegte, waren diese Kämpfe nicht beendet. Denn im Innern dieser Länder ging der Kampf zwischen Regierungsgewalt und Bolschewisten weiter, wobei wir der Regierungsgewalt, Sowjetrußland den Bolschewisten Hilfe gewährten. Außerdem unterstützten die in Südrußland stehenden deutschen Truppen die unter dem General Krasnow gegen Sowjetrußland kämpfenden Donkosaken. Schließlich förderte Deutschland die Selbständigkeitsbestrebungen der Georgier und Grusinier.

Die Tatsache, daß wir mit den Bolschewiki und ihrer Roten Garde außerhalb der noch ganz flüssigen territorialen Grenzen Großrußlands nach wie vor die Waffen kreuzten, mußte natürlich die Aufgabe, gute Beziehungen zu dem unter der Sowjetregierung stehenden Großrußland zu schaffen und dadurch die Nutzbarmachung seiner Hilfsquellen und Vorräte für Deutschland zu ermöglichen, in einer ganz besonderen Weise erschweren. Aber abgesehen von dieser Komplikation mußte es von Anfang an zweifelhaft erscheinen, ob die Erreichung unseres Zieles in Großrußland überhaupt möglich wäre mit einer Regierung, die den von ihr mit uns abgeschlossenen Frieden ganz offen nur als »Atempause« bezeichnete und immer wieder die Weltrevolution, beginnend mit der Revolutionierung Deutschlands, als ihr Ziel proklamierte.

Jedenfalls zeigte sich bald, daß die Durchführung des Brester Vertrages und die erstrebte Anbahnung von wirtschaftlichen Beziehungen auf die größten Schwierigkeiten stieß. Unser Bestreben, die russischen Warenvorräte für uns nutzbar zu machen, scheiterte, und zwar nicht nur hinsichtlich der Nahrungsmittel, die in Sowjetrußland selbst außerordentlich knapp waren, sondern auch hinsichtlich der tatsächlich vorhandenen und brachliegenden kriegswichtigen Rohstoffe, wie Kupfer, Nickel, Gummi, Öle usw. Nach außen erschienen die Schwierigkeiten in der Hauptsache als Folge der von den Bolschewiki in Angriff genommenen »Sozialisierung« der Betriebe und Warenvorräte, durch die der freie Handel so gut wie unmöglich gemacht wurde. Die inneren Widerstände aber zeigten sich in der Tatsache, daß die geschäftlichen Verhandlungen mit der Bolschewikiregierung, die für sich die Verfügung über die in Rußland vorhandenen Bestände in Anspruch nahm, von dieser ausnahmslos dilatorisch behandelt wurden und steckenblieben.

In diesem ungeklärten und unerquicklichen Stand der Dinge kam am 6. Juli 1918 die Nachricht, daß Graf Mirbach in dem Hause der deutschen Vertretung ermordet worden sei und daß im unmittelbaren Anschluß an das Attentat die Linken Sozialrevolutionäre versucht hätten, durch einen Aufstand, der indessen rasch niedergeworfen wurde, sich der Gewalt zu bemächtigen. Die Nachrichten aus den verschiedenen Quellen über die Zusammenhänge lauteten zunächst widerspruchsvoll und gaben kein klares Bild; aber die Tatsache des Verbrechens warf für sich allein schon ein blitzartiges Licht auf die prekären, ja unhaltbaren Verhältnisse, mit denen wir in Rußland zu rechnen hatten.

Mich hatte die Sorge um die Gestaltung unserer Beziehungen zu dem Osten seit den Brester Verhandlungen nicht einen Augenblick verlassen. Sie war gesteigert worden durch alle Nachrichten, die von unseren Missionen in Moskau, in Helsingfors, in Kiew und im Kaukasus zu uns herüberkamen; noch mehr durch die Beobachtung, daß unserer Politik nach dem Osten jede einheitliche Linie fehlte, daß sie in sich widerspruchsvoll war und nur zu einer Festlegung und Zersplitterung wertvoller Kräfte, dagegen zu keinem irgendwie gearteten positiven Nutzen führte. Der alte Fehler, der die Verhandlungen in Brest-Litowsk so maßlos erschwert und den Brester Frieden so unglücklich beeinflußt hatte – der Mangel an Übereinstimmung zwischen der politischen und der militärischen Leitung –, erwies sich auch weiterhin als das Grundübel. Graf Mirbach und seine Mitarbeiter hatten nach allem, was ich damals wahrnehmen konnte und später auch bestätigt fand, sich für die richtige Politik eingesetzt und versucht, für eine einheitliche Marschroute im Sinne der Vorbereitung eines allmählichen Umschwenkens und Abbauens zu wirken. Das Auswärtige Amt, dessen Chef wohl die Auffassungen des Grafen Mirbach teilte, vermochte jedoch nicht, diesen Standpunkt durchzusetzen, ja es hat schließlich selbst die Hand zu einer wesentlichen Verschärfung des Brester Friedens geboten. Die Klärung der östlichen Fragen erschien mir in doppeltem Maße als eine gebieterische Notwendigkeit, seitdem der Verlauf unserer militärischen Operationen im Westen die Hoffnung auf den entscheidenden Sieg auf dem westlichen Kriegsschauplatz schwinden ließ und seitdem ich wußte, daß unsere Oberste Heeresleitung für die Beendigung des Krieges diplomatischen Sukkurs verlangte.

Das Bedürfnis, über die Ostfragen durch eigenen Augenschein Klarheit zu gewinnen und meine Person für eine uns nach Osten hin Luft und Rückendeckung schaffende Politik einzusetzen, war in mir so stark, daß ich mich dem Reichskanzler als Nachfolger für den Grafen Mirbach zur Verfügung stellte.

Dieser Schritt wurde mir um so leichter, als ich nach den bisherigen Erfahrungen, namentlich während der Verhandlungen in Brest-Litowsk und Bukarest, wenig Neigung hatte, die mir übertragene Aufgabe der Zusammenfassung der Vorarbeiten für die wirtschaftlichen Friedensverhandlungen fortzusetzen. Ich hatte noch einen Versuch gemacht, den künftigen Verhandlungen eine bessere Grundlage zu geben durch eine planmäßige Heranziehung der sachverständigen Kreise unseres Wirtschaftslebens. Zu diesem Zweck hatte ich die Veranstaltung einer umfassenden Enquete beantragt. Auf Grund sorgfältig ausgearbeiteter Fragebogen sollten kompetente Vertreter der einzelnen Zweige unserer Volkswirtschaft über ihre bei den kommenden Friedensschlüssen zu berücksichtigenden Wünsche und Bedürfnisse in kontradiktorischem Verfahren gehört werden, und zwar in Gegenwart und unter Mitwirkung der für die wirtschaftlichen Friedens-Verhandlungen in Aussicht zu nehmenden Persönlichkeiten.

 

Annahme des Moskauer Postens

Im Vordergrund standen dabei die Bestimmungen und Maßnahmen, die zur Sicherung unseres Bezuges von ausländischen Rohstoffen und Nahrungsmitteln und zur Wiederherstellung unserer Ausfuhrmöglichkeiten angesichts der sowohl durch die selbsttätigen Wirkungen des Krieges, als auch durch die Kriegsmaßnahmen unserer Gegner geschaffenen Verhältnisse getroffen werden mußten. Nachdem ich die Veranstaltung dieser Enquete durchgesetzt und das Reichswirtschaftsamt als das zuständige Ressort deren Durchführung übernommen hatte, schien mir eine sachliche Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung des mir erteilten besonderen Auftrages nicht mehr zu bestehen. Es erschien mir im Gegenteil zweckmäßig, die Aufgabe der Zusammenfassung der Vorarbeiten für die Friedensverhandlungen derjenigen Behörde zu übertragen, in deren Hand die Friedens-Verhandlungen selbst lagen und künftig liegen sollten. Nur auf diese Weise ließen sich die Schwierigkeiten und Reibungen vermeiden, die während der Brester und Bukarester Verhandlungen zum Schaden der Sache entstanden waren. Ich empfahl deshalb die Eingliederung des von mir geschaffenen Bureaus mit seinem Personal in das Auswärtige Amt.

Mein Angebot, den Moskauer Rosten zu übernehmen, wurde vom Reichskanzler beim Kaiser befürwortet und von diesem angenommen, nachdem auch der neuernannte Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Herr von Hintze, nach seiner Rückkehr aus Christiania, wo er sein Abberufungsschreiben überreicht hatte, am 20. Juli seine Zustimmung erklärt hatte.

Die Lage hatte sich inzwischen weiter kompliziert.

Auf Veranlassung des russischen Volkskommissars für das Auswärtige waren in Berlin Besprechungen eingeleitet worden, um gewisse mit dem Brester Frieden zusammenhängende Fragen zu klären. Die Verhandlungen waren von deutscher Seite von dem Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Ministerialdirektor Dr. Kriege, geführt worden, den ich als scharfsinnigen und unübertroffen kenntnisreichen Völkerrechtler stets ebensosehr geschätzt habe, wie ich in die Sicherheit seines politischen Blickes Zweifel setzen mußte. Soweit es sich um rein finanzielle Angelegenheiten handelte, hatte mich Herr Kriege, schon ehe meine Entsendung nach Moskau in Betracht kam, in großen Zügen unterrichtet. In die Gesamtheit der geplanten Abmachungen, die neben finanziellen und wirtschaftlichen Vereinbarungen auch sehr wichtige politische und territoriale Abänderungen des Brester Friedensvertrags enthielten, bekam ich erst jetzt Einblick.

 

Zusatzverträge zum Brester Friedensvertrag

Der wesentliche Inhalt dieser »Zusatzverträge« war der folgende:

1. Politische und territoriale Bestimmungen

Deutschland sollte sich verpflichten, sich künftighin in die Beziehungen zwischen Rußland und seinen Teilgebieten in keiner Weise einzumischen, also insbesondere die Bildung selbständiger Staatswesen in diesen Gebieten weder zu veranlassen noch zu unterstützen.

An Ausnahmen wurden jedoch vorgesehen:

Rußland, das im Brester Vertrag auf die Staatshoheit über Kurland, Litauen und Polen verzichtet hatte, sollte nunmehr den gleichen Verzicht auch für ganz Livland und Estland aussprechen. Das künftige Schicksal von Estland und Livland sollte von Deutschland im Einvernehmen mit der Bevölkerung bestimmt werden.

Rußland sollte sich mit der Anerkennung Georgiens als selbständiges Staatswesen einverstanden erklären.

Dafür sollte sich Deutschland verpflichten, die von, seinen Truppen besetzten Gebiete östlich von Estland und Livland alsbald nach Festlegung der Grenzen dieser Länder zu räumen; desgleichen die Gebiete östlich der Beresina nach Maßgabe der Leistung der Barzahlungen, die Rußland in den Zusatzverträgen übernehmen sollte. Ebenso sollte Deutschland seine Truppen aus den russischen Schwarzmeergebieten nach der Ratifikation des zwischen Rußland und der Ukraine abzuschließenden Friedensvertrags zurückziehen. Deutschland sollte sich ferner verpflichten, Operationen der türkischen Streitkräfte in Kaukasien außerhalb des im Brester Vertrag von Rußland preisgegebenen Gebietes nicht zu unterstützen, und es sollte die Gewähr übernehmen, daß türkische Truppen in einen gewissen um Baku gezogenen Kreis nicht einmarschierten.

2. Finanzielle und wirtschaftliche Bestimmungen

Rußland sollte seine sämtlichen aus dem Brester Vertrag sich gegenüber dem Deutschen Reich und deutschen Staatsangehörigen ergebenden finanziellen Verpflichtungen durch die Zahlung einer festen Pauschalsumme von sechs Milliarden Mark abgelten, die teilweise in Gold, in Rubeln und in Warenlieferungen, teilweise durch eine neue von Deutschland an Rußland zu gewährende Anleihe beglichen werden sollte. Eingeschlossen in die auf diese Weise abzugeltenden russischen Verpflichtungen sollten sein die Zins- und Amortisationsräten der in deutschem Besitz befindlichen russischen Anleihen, deren grundsätzliche Annullierung von der Sowjetregierung gleich nach der Novemberrevolution ausgesprochen worden war; ferner die Entschädigungen für die vor einem bestimmten Termin erfolgte Enteignung deutschen Vermögens irgendwelcher Art. Die bis dahin erfolgten Enteignungen wurden damit von uns anerkannt; weitere Enteignungen sollten nur in der gleichen Weise wie gegen russische Landeseinwohner und dritte Staatsangehörige und nur gegen bare Entschädigung erfolgen dürfen.

Außerdem sollten Bestimmungen getroffen werden über die Herausgabe der beiderseitigen Bankdepots und Bankguthaben, über die Rechtsverhältnisse aus Wechseln, Schecks und Valutageschäften, über gewerbliche Schutzrechte, über Verjährungsfristen und über die Errichtung eines Schiedsgerichts für zivil- und handelsrechtliche Streitigkeiten.

In der juristischen Technik zeichneten sich die in der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes ausgearbeiteten Entwürfe durch sorgfältige Genauigkeit und Präzision aus. Auch materiell konnte ich mich mit einem wesentlichen Teil ihres Inhalts einverstanden erklären. Insbesondere erschien mir die Pauschalierung der russischen finanziellen Verpflichtungen, die unendliche Einzelverhandlungen mit der russischen Regierung und damit eine unabsehbare Verzögerung der Abwicklung in glücklicher Weise vermied, als ein guter Gedanke, soweit sich die Pauschalierung auf Verpflichtungen bezog, die zur Zeit des Beginns der Verhandlungen bereits bestanden oder durch bereits durchgeführte Maßnahmen der russischen Regierung auf dem Gebiet der Enteignung bereits begründet waren. Ich warnte damals schon vor der von den rassischen Unterhändlern angeregten Ausdehnung der Pauschalierung auf die Entschädigungspflicht auch für solche Enteignungen deutscher Betriebe oder Vermögenswerte, die künftighin bis zu einem noch festzusetzenden Zeitpunkt etwa noch durchgeführt werden sollten; denn eine solche Pauschalierung pro futuro erschien mir geradezu als eine Prämie auf die radikale und überstürzte Enteignung der in Rußland noch vorhandenen deutschen Unternehmungen und Werte.

 

In Lostrennung Livlands und Estlands

Bedenklich erschienen mir aber vor allem die Bestimmungen über die endgültige Lostrennung Livlands und Estlands vom Russischen Reich.

Verbindung mit der Unabhängigkeitserklärung Finnlands mußte der Verlust von Livland und Estland das Russische Reich bis auf den schmalen, im Winter nicht schiffbaren Zugang bei Petersburg gänzlich von der Ostsee abschnüren. Keine Vereinbarung über freie Durchfahrt auf den baltischen Eisenbahnen und über freie Benutzung der baltischen Häfen konnte nach meiner Ansicht das künftige Rußland, einerlei welche Gestalt es annehmen sollte, diesen Verlust verschmerzen lassen. Mit Naturnotwendigkeit hätte das künftige Rußland auf die Gebiete, die es von der Ostsee abriegelten, und auf Deutschland, das diesen Riegel in der Hand hielt, den stärksten Druck ausüben müssen. Die Herstellung eines guten Verhältnisses zu dem künftigen Rußland, die durch den Brester Frieden schon stark erschwert war, mußte durch die Lostrennung von Estland und Livland geradezu unmöglich gemacht werden. Ich konnte eine solche Führung unserer Politik nur für verhängnisvoll halten. Die notwendige Sicherung der deutschen Bewohner jener Gebiete und ihrer materiellen, nationalen und kulturellen Interessen ließ sich nach meiner Ansicht auch auf anderen Wegen erreichen.

Bei der einzigen Besprechung über den Inhalt der geplanten Zusatzverträge, die ich – kurz vor meiner Abreise nach Moskau – mit dem neuen Staatssekretär hatte, gewann ich den Eindruck, daß Herr von Hintze in diesem wichtigen Punkte im Grunde seines Herzens der gleichen Meinung sei wie ich, und daß die Angelegenheit nur auf Wunsch der Obersten Heeresleitung betrieben werde. Da alles noch im Flusse war, brauchte ich die Hoffnung nicht aufzugeben, von Moskau aus im Sinne meiner Auffassung einen entscheidenden Einfluß auf die endgültige Gestaltung der Zusatzverträge ausüben zu können. Ich habe mir nachträglich allerdings den Vorwurf gemacht, daß ich den Moskauer Posten überhaupt angetreten habe, ehe dieser Punkt einwandfrei im Sinne meiner Auffassung geklärt und entschieden war.

Nicht minder bedenklich wie die Lostrennung von Estland und Livland erschien mir die Gewähr, die das Deutsche Reich Rußland gegenüber für das Fernhalten türkischer Streitkräfte von dem Gebiet um Baku übernehmen sollte. Ich machte darauf aufmerksam, daß die Übernahme dieser Gewähr, falls sie ohne vorherige Verständigung mit der Türkei und ohne deren ausdrückliche Zustimmung erfolge, uns gegebenenfalls zu einem aktiven Vorgehen gegen unsere türkischen Bundesgenossen im Bunde mit dem bisherigen gemeinsamen Feinde zwingen könne. Auch abgesehen von der ausdrücklichen Garantieübernahme für Baku erschien es mir bedenklich, in den kaukasischen Angelegenheiten mit Rußland irgendwelche Abmachungen hinter dem Rücken der Türkei und mit einer Spitze gegen die Türkei zu treffen. Ich bezweifelte, ob unser Bündnis mit der Türkei nach all dem Druck, den wir in der bulgarisch-türkischen Streitfrage hatten ausüben müssen, einer solchen Belastung gewachsen sein würde.

Diesen Bedenken ist bei den weiteren Verhandlungen des Auswärtigen Amtes mit der russischen Delegation wenigstens insoweit Rechnung getragen worden, als in dem endgültigen Text von der Übernahme einer »Gewähr« nicht mehr gesprochen, sondern die mildere Form gewählt wurde: Deutschland wird »dafür eintreten«, daß in Kaukasien Streitkräfte einer dritten Macht die näher bezeichnet Linie nicht überschreiten. Aber auch in dieser Fassung blieb die Vereinbarung nach meiner Ansicht, die sich späterhin bestätigen sollte, eine bedenkliche Belastung unseres Bundesverhältnisses mit der Türkei.

 

Zuspitzung der Verhältnisse in Rußland

Während in Berlin zwischen dem Auswärtigen Amt und der russischen Delegation friedlich über die Zusatzverträge verhandelt wurde, hatten sich in Moskau, wo nach der Ermordung des Grafen Mirbach die Geschäfte unserer diplomatischen Vertretung von dem Geheimen Legationsrat Dr. Riezler geführt wurden, die Verhältnisse einigermaßen zugespitzt.

Die beiden Personen, die den Grafen Mirbach ermordet hatten, Blumkin und Andrejew, waren bekannte Mitglieder der Partei der Linken Sozialrevolutionäre und Angestellte der »Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution«, die stark mit Anhängern dieser Partei durchsetzt war. Unmittelbar vor dem Attentat war in Versammlungen der Linken Sozialrevolutionäre unter Berufung auf die Unterstützung, die Deutschland in der Ukraine dem gegenrevolutionären Hetman Skoropadski gewähre, sowie auf die Lebensmittel- und Warenlieferungen, die Deutschland dem russischen Volke abpresse, stark gegen die deutsche Vertretung gehetzt worden. Am Tage vor dem Attentat hatten auf dem allrussischen Rätekongreß namhafte Führer der Partei, vor allem Frau Spiridonowa, leidenschaftliche und aufreizende Reden gegen Deutschland gehalten und tosende Kundgebungen gegen den Grafen Mirbach hervorgerufen. Jetzt, nach dem Attentat hatten sich die Mörder des Grafen Mirbach in das Hauptquartier der Linken Sozialrevolutionäre, in die große Kaserne am Pokrowski-Boulevard, geflüchtet, waren dort mit einer Anzahl ihrer Gesinnungsgenossen eingeschlossen und belagert worden, aber schließlich unter einigermaßen rätselhaften Begleitumständen entkommen. Die russische Regierung zeigte zwar großen Eifer in der Entschuldigung für das Attentat, jedoch wesentlich geringeren Eifer in der Verfolgung der Täter und der Anstifter. Zwar überreichte sie schließlich unserem Geschäftsträger eine Liste von mehr als hundert Leuten, die wegen angeblicher Beteiligung an dem Attentat erschossen worden seien, aber die Täter und Hauptanstifter waren nicht darunter.

Die Lage erfuhr eine weitere Verschärfung durch Vorgänge an der tschecho-slowakischen Front. Dort hatte der Oberbefehlshaber der Roten Garden, General Murawiew, den Versuch gemacht, seine Truppen zum Abfall von der Sowjetregierung und zum Übertritt auf die Seite der Gegner zu veranlassen. Eine Zeitlang schien es, als ob dieser Versuch Erfolg haben sollte. Murawiew wandte sich mit einem Teil seiner Truppen gegen Moskau und proklamierte den Wiederbeginn des Krieges gegen Deutschland. An der Front entstand eine heillose Verwirrung, unter deren Eindruck auch die Sowjetregierung in Moskau ihre letzte Stunde gekommen glaubte. Der Versuch scheiterte jedoch schließlich an der Haltung der lettischen Truppen, und Murawiew wurde von seinen eigenen Leuten am 8. Juli erschossen. Aber immerhin zeigte auch dieser Vorfall, wie die Verhältnisse auf des Messers Schneide standen.

 

Die Lage in Moskau

Angesichts der ungeklärten Lage und der fortdauernden Bedrohung des Personals der deutschen Vertretung stellte der deutsche Geschäftsträger im Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt bei der russischen Regierung den Antrag auf Zulassung eines kriegsstarken deutschen Bataillons als Gesandtschaftswache. Die russische Regierung zeigte über diesen Antrag große Erregung. Herr Joffe intervenierte beim Auswärtigen Amt in Berlin, das den Antrag fallen ließ und sich mit der Zusage der Zulassung von dreihundert deutschen Soldaten – aber in Zivil! – als Schutzwache für die Gesandtschaft begnügte. Dem geschickten und energischen Auftreten des deutschen Geschäftsträgers gelang es, bei dieser Gelegenheit wenigstens die Entfernung der Militärmissionen der Entente, die bisher immer noch in Moskau ihr Unwesen getrieben hatten, durchzusetzen.

Das alles war geschehen, ehe über meine Ernennung entschieden war; ich habe von diesen Vorgängen das Wesentliche erst erfahren, als ich in den wenigen Tagen von meiner Ernennung bis zu meiner Abreise nach Moskau mich im Auswärtigen Amt zu informieren suchte. Dabei erfuhr ich auch, daß während der durch den Abfall Murawiews entstandenen Krise der Geschäftsträger mit Unterstützung des Militärattachés die Ermächtigung erbeten hatte, im Falle der Not mit dem gesamten Personal der Mission Moskau zu verlassen. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes hat damals diese Ermächtigung erteilt und, als die Moskauer Vertretung angesichts der raschen Niederwerfung der Murawiewschen Revolte keinen Gebrauch von ihr machte, sie für künftige Eventualitäten aufrechterhalten. Dagegen erfuhr ich erst in Moskau aus den Mitteilungen des Geschäftsträgers, daß die Moskauer Vertretung in der Ermordung des Grafen Mirbach den wichtigen Anlaß hatte sehen wollen, um uns aus der doch unhaltbaren Verbindung mit dem Bolschewismus zu befreien und den Weg zu einer einheitlichen Politik der Verständigung mit dem nichtbolschewistischen Rußland freizumachen. Diese Politik hatte in Berlin kein Verständnis gefunden. Der Staatssekretär von Hintze suchte mir gegenüber die offenbar schwebenden Differenzen durch eine übertriebene Nervosität der Moskauer Herren zu erklären; die anderen an den Zusatzverträgen mit besonderem Eifer arbeitenden Herren erweckten mir indessen schon damals den Eindruck, daß sie in den Moskauer Berichten nur eine unerwünschte und lästige Störung ihrer Verhandlungen über die Zusatzverträge sahen. Die Verträge selbst waren, wie ich später in Moskau feststellte, der dortigen Vertretung trotz mehrfach wiederholter Reklamationen nicht mitgeteilt worden. Das Exemplar der Entwürfe, das ich nach Moskau mitbrachte, war das erste, das die dortigen Herren überhaupt zu sehen bekamen. Über die schweren Bedenken, die bei der Moskauer Vertretung gegen wesentliche Punkte der Zusatzverträge bestanden, konnte man im Berliner Auswärtigen Amt nicht im Zweifel sein.

Jedenfalls wünschte der Staatssekretär, daß ich meine Abreise nach Moskau nach jeder Möglichkeit beschleunigen möchte, um mir so bald wie möglich an Ort und Stelle ein Urteil zu bilden. Die über die Verlegung des Sitzes der deutschen Vertretung zu treffende Entscheidung gab er dabei ganz in meine Hand.

 

Meine Ankunft in Moskau

So reiste ich bereits wenige Tage nach meiner Ernennung, am 26. Juli, von Berlin nach Moskau ab. Ich hatte mir vorbehalten, nach Gewinnung eines Überblicks zur Berichterstattung und zur Ordnung meiner persönlichen Verhältnisse nach Berlin zurückkommen zu dürfen.

An der Militärgrenze, Bahnhof Orscha, erwartete mich ein Vertreter des Volkskommissariats für das Auswärtige mit einem Extrazug und einer schwer bewaffneten lettischen Schutzwache. Die Reise auf russischem Gebiet ging glatt und rasch vonstatten. Wir hätten bequem zwischen sieben und acht Uhr abends in Moskau sein können. Etwa hundert Kilometer vor Moskau erhielt jedoch der Zugführer die Weisung, der Zug dürfe unter keinen Umständen vor zehn Uhr in Moskau einlaufen. Wir fuhren dementsprechend im Schneckentempo. Kurz vor Kunzewo, etwa vierzehn Kilometer vor Moskau, erhielt der Zug Haltesignal. Dr. Riezler erschien an meinem Wagen und forderte mich auf, mit meinem Begleiter, dem der Moskauer Vertretung zugeteilten Legationsrat Grafen Bassewitz, den Zug zu verlassen. Mau wolle es vermeiden, mich im Moskauer Bahnhof aussteigen zu lassen. Auf der Straße erwartete uns Herr Radek, damals Chef der mitteleuropäischen Sektion des Volkskommissariats für das Auswärtige, mit seinem Auto und brachte uns unbemerkt nach der Stadt hinein zu der am Djeneshnij, einer ruhigen Seitenstraße des Arbat, gelegenen Villa Berg, in der unsere Vertretung ihren Sitz genommen hatte. Herr Radek erwähnte, es liege zwar nichts Besonderes vor, aber meine Ankunft könne bekannt geworden sein, und Vorsicht könne nichts schaden.

Ich hatte noch am gleichen Abend und am nächsten Vormittag Gelegenheit, meine wichtigsten Mitarbeiter kennenzulernen, mir von ihnen über den Stand ihrer Geschäfte berichten zu lassen und ihre Ansicht über die Lage zu hören. Alle, Militär und Zivil, stimmten darin überein, daß die Bolschewikiregierung von innen und außen schwer bedroht sei; daß es ihr an jeder Spur von gutem Willen fehle, aufrichtig mit Deutschland zusammenzugehen, daß sie zwar in der ernsten Lage, in der sie sich befinde, einen Bruch mit uns vermeiden, ja nach Möglichkeit sich unsere moralische und materielle Unterstützung sichern wolle, jedoch jede Deutschland zugutekommende Maßnahme unter dem Anschein und dem Versprechen des Entgegenkommens durch den zähesten passiven Widerstand vereitele; daß das offensichtliche Bestreben gewisser im Auswärtigen Amt einflußreicher Leute, mit der Bolschewikiregierung intim zusammenzuarbeiten und namentlich mit ihr die Zusatzverträge abzuschließen, das ganze nichtbolschewistische Rußland geradezu gegen Deutschland aufpeitsche, ohne uns den geringsten greifbaren Vorteil zu bringen; daß schließlich die deutsche Vertretung in Moskau, trotz verstärkter Bewachung durch ein Lettenkommando, nach wie vor ernstlich bedroht und ein gedeihliches Arbeiten nicht möglich sei. Die von Berlin in Aussicht genommene Entsendung von dreihundert Mann in Zivil wurde von den Militärs als ein gänzlich unzureichender Schutz bezeichnet.

 

Erste Unterredung mit Tschitscherin

Mein erster Besuch galt dem Volkskommissar für das Auswärtige, Herrn Tschitscherin, der sein Quartier im Hotel Metropol am Theaterplatz abgeschlagen hatte. Dem Drängen meiner Berater folgend, besuchte ich ihn unangesagt; auch benutzte ich nicht das Gesandtschaftsauto, sondern ein Dogcart. Nach wenigen Minuten verlor das Pferd ein Eisen. Ich ging mit Dr. Riezler, der mich begleitete, unerkannt und unbeobachtet zu Fuß durch die gefährliche Stadt, die kaum einen anderen Eindruck machte als später das revolutionäre Berlin.

Herr Tschitscherin, in seinem Äußeren ein verhärmter und verschüchterter Gelehrter mit schwermütigen, traurigen Augen, sprach mir sofort von seinen Sorgen um Baku, das von den türkischen Truppen unmittelbar bedroht sei, und berief sich auf die Zusagen, die von unserer Regierung Herrn Joffe wegen des Schutzes von Baku gemacht worden seien. Ich bezweifelte auf Grund meiner Berliner Informationen, daß die Türken einen Schlag gegen Baku beabsichtigen könnten, und gab die Versicherung, daß die deutsche Regierung von den mit ihrem Bundesverhältnis zur Türkei verträglichen Mitteln Gebrauch machen werde, um die Türken zur Zurückhaltung zu veranlassen. Über die Zusatzverträge sagte Tschitscherin, daß er noch nicht im Besitz der in Berlin zwischen den beiderseitigen Delegationen vereinbarten Redaktion sei; daß nach deren Eingang die Verträge von dem Rat der Volkskommissare einer eingehenden Prüfung unterzogen werden müßten, bevor er Stellung nehmen könne. Warm wurde er, als er auf die inneren Verhältnisse zu sprechen kam. Die Industrieproletarier hatten die Revolution gemacht; aber sie seien in Rußland der Zahl nach eine geringe Minderheit. Deshalb hänge das Schicksal der Revolution vom Dorfe ab, das sich bisher indolent oder gar feindlich gezeigt habe. Sie seien jetzt dabei, die »Dorfarmen« gegen die »Dorfreichen« zu mobilisieren. Überall auf dem Dorfe würden jetzt Sowjets gebildet und in die Macht eingesetzt. Zu diesen Sowjets dürften natürlich nur die Besitzlosen wählen. Auf diese Weise werde es der Sowjetregierung gelingen, auch das Land in ihre Gewalt zu bekommen.

In den folgenden Tagen suchte ich mir in intensivster Arbeit und in Besprechungen mit meinen Mitarbeitern wie mit anderen für mich erreichbaren landeskundigen Personen ein genaues Bild von der Lage und den sich aus ihr für die deutsche Politik eröffnenden Möglichkeiten zu machen. Das Bild, das sich für mich ergab, war folgendes:

Sowjetrußland stand in einer schweren äußeren und inneren Krisis.

Im Osten machten die Tschecho-Slowaken und die mit ihnen kooperierenden Sibirier bedrohliche Fortschritte. Sie bemächtigten sich der mittleren Wolga mit den wichtigen Städten Kasan, Simbirsk, Samara, Sysran und bedrohten Saratow. Gerade in der Zeit, in der ich in Moskau eintraf, kam von der Ostfront eine Hiobspost nach der anderen.

 

Die Lage Sowjetrußlands

Im Südosten waren die Kosaken unter Alexejew, Dutow, Denikin und Krasnow im Vordringen. Die Gefahr war groß, daß sie sich bei Zarizyn am Wolgaknie mit den Tschecho-Slowaken vereinigen und so das bolschewistische Rußland von der Verbindung mit dem Kaspischen Meer und Baku abschneiden könnten. Mit Baku selbst waren die Verbindungen unterbrochen. Genaues über das Schicksal der Stadt war nicht zu erfahren. Bald hieß es, die Armenier hätten sich der Herrschaft bemächtigt und die Engländer, die in Rescht, an dem persischen Südufer des Kaspischen Meeres standen, herbeigerufen, bald sollten die Türken unmittelbar vor Balm stehen oder gar Baku bereits genommen haben.

Im Norden rückten Ententetruppen von der Murmanküste aus in Richtung Petrosawodsk und Petersburg vor. Anfang August besetzten die Engländer Archangelsk am Weißen Meer und setzten sich von dort in Marsch gegen Wologda.

Die Rote Garde schlug sich fast überall schlecht. Aus Petersburg und Moskau wurden die Lettenregimenter abgezogen und als »Korsettstangen zwischen den Rotgardisten eingesetzt. Unter den Letten selbst herrschte zunehmende Unzufriedenheit mit dem bolschewistischen Regiment, dessen stärkste und treueste Stütze sie bisher gewesen waren. Die Unzufriedenheit ging so weit, daß angesehene Lettenführer bei uns Fühlung suchten und sich bereit erklärten sich mit ihren Truppen zu unserer Verfügung zu stellen, wenn wir ihnen für später die Rückkehr in das von uns besetzte Lettland gestatteten und sie in ihren Grundbesitz wieder einsetzten.

Wie ernst die Sowjetregierung selbst die Lage ansah, ergab sich mir aus Eröffnungen, die mir Herr Tschitscherin, unangesagt und direkt aus einer Beratung im Kreml kommend, am Abend des 1. August im Auftrag des Rates der Volkskommissare machte.

Zunächst teilte er mir mit, daß angesichts des Vormarschs der Ententetruppen von Murmansk und der Landung der Engländer in Archangelsk seine Regierung kein Interesse mehr an ihrem in Berlin ausgesprochenen Wunsch habe, ein deutsch-finnisches Eingreifen in Karelien gegen die Murmanküste möchte aufgeschoben werden. Ein offenes militärisches Bündnis mit uns sei allerdings in Rücksicht auf die öffentliche Meinung unmöglich; möglich aber sei eine tatsächliche Parallelaktion. Seine Regierung beabsichtige, ihre Truppen um Wologda zu konzentrieren, um Moskau zu decken. Bedingung für eine Parallelaktion sei allerdings, daß wir Petersburg nicht besetzten; auch Petrosawodsk sei besser zu vermeiden. – Tatsächlich bedeutete diese Eröffnung, daß die Sowjetregierung, um Moskau zu schützen, genötigt. war, uns um die Deckung von Petersburg zu bitten. Das wurde bestätigt, als mir Tschitscherin am 5. August mitteilte, daß seine Regierung ihre Truppen auch von Petrosawodsk nach Wologda abziehen müsse, so daß der Weg von Murman nach Petersburg frei und ein schleuniges Eingreifen unsererseits erwünscht sei; daß ferner in Vologda der Kriegszustand erklärt sei und er mich bitten müsse, unsere Unterkommission für Kriegsgefangene von dort zurückzuziehen.

 

Tschitscherin bittet um bewaffnete Intervention

Nicht minder Sorge machte ihm der Südosten. Seine Regierung habe sich entschlossen, auf der bisher von ihr mit allem Nachdruck verlangten Räumung von Rostow und Taganrog durch unsere Truppen nicht zu bestehen, sondern sich mit der von uns angebotenen freien Benutzung der Bahnlinien zu begnügen, vorausgesetzt, daß. sie durch uns »von Krasnow und Alexejew befreit« würde. Beide Generale spielten unter einer Decke, obwohl Alexejew ententefreundlich sei und Krasnow sich den Anschein gebe, zu uns zu halten, und von uns Unterstützung annehme. Auf meine Fragen präzisierte er schließlich unser von ihm gewünschtes Eingreifen dahin: »Aktives Eingreifen gegen Alexejew, keine weitere Unterstützung an Krasnow.« Auch hier komme aus denselben Gründen wie im Norden kein offenes Bündnis, sondern nur eine tatsächliche Kooperation in Frage; diese aber sei notwendig. – Mit diesem Schritt erbat also die Bolschewikiregierung die bewaffnete deutsche Intervention auf großrussischem Gebiet. Ein schlagender Beweis dafür, wie hoch ihr das Wasser stand.

Nicht tröstlicher war die Lage für die Sowjetregierung im Innern.

Die kommunistischen Experimente der Bolschewikiregierung hatten zu einer völligen Desorganisation und Lähmung des russischen Wirtschaftslebens geführt. Eine neue Ordnung zu schaffen, war den Bolschewiki nicht gelungen. Ein großer Teil der industriellen Betriebe stand still. Die weiterarbeitenden konnten sich nur mit Hilfe großer Zuschüsse des Staates halten. Auch die landwirtschaftliche Produktion war schwer beeinträchtigt. Außerdem machten die Bauern schon seit langer Zeit Schwierigkeiten, ihre Erzeugnisse gegen das entwertete Papiergeld abzugeben. Der Versuch der Einrichtung eines systematischen Austauschs von gewerblichen Erzeugnissen gegen landwirtschaftliche Produkte war gescheitert. Zwischen den hungernden Städten und dem Land, das seine keineswegs reichlichen Nahrungsmittel zurückhielt, bestand eine starke Spannung. Vielfach zog das Industrieproletariat nach dem Lande, um sich dort gewaltsam in den Besitz von Nahrungsmitteln zu setzen. Das Land setzte sich zur Wehr; an zahlreichen Stellen flammten Bauernunruhen auf. Die Bolschewisierung des Landes durch die Organisation der »Dorfarmen« hatte erst begonnen.

Der alte Verwaltungsapparat war zerbrochen. Ein neuer war noch nicht aufgebaut. Die Macht der Moskauer Zentralregierung war eng begrenzt. Die lokalen Sowjets, die sich überall gebildet hatten, taten und ließen, was ihnen gefiel.

 

Schwache Stellung der Bolschewikiherrschaft

In Moskau selbst stand die Bolschewikiherrschaft auf schwachen Füßen. Das Verhältnis der Bolschewiki zu den Linken Sozialrevolutionären war nach wie vor ungeklärt. Die Sowjetregierung wagte augenscheinlich nicht, gegen diese Gruppe vorzugehen, In der Verfolgung der an dem Attentat gegen den Grafen Mirbach beteiligten Personen dieses Kreises blieb sie trotz meines Drängens untätig. In Deutschland wurde allerdings aus den Kreisen des Herrn Joffe verbreitet, die Sowjetregierung habe auf Verlangen Deutschlands Kamkow und Frau Spiridonowa, die öffentlich zu dem Attentat aufgefordert hatten, verhaften und erschießen lassen. Graf Harry Keßler, der mit Herrn Joffe intime Beziehungen unterhielt, hatte mich noch am Abend vor meiner Abreise in Berlin besucht und mir diese angebliche Tatsache als Beweis des guten Willens der Sowjetregierung vorgeführt. Als aber deutsche Zeitungen diese Nachricht brachten, ließ das Volkskommissariat für das Auswärtige in der russischen Presse eine Note veröffentlichen, diese Nachricht sei selbstverständlich erfunden, die deutschen Zeitungen weigerten sich aber, unter dem Druck der deutschen Zensur, ein Dementi zu bringen. Ich teilte diese Note nach Berlin mit und bat um Aufklärung. Das Auswärtige Amt antwortete, daß keine deutsche Stelle ein solches Dementi verhindert habe. Als ich nun Herrn Radek auf diese merkwürdige Sache stellte, bekannte er sich als Verfasser der Note; auf eine Verhinderung des Dementis durch die deutsche Zensur habe er daraus geschlossen, daß auf den nach Berlin gerichteten Auftrag, die Nachricht von der Erschießung des Kamkow und der Spiridonowa zu dementieren, die Antwort gekommen sei, dem Dementi ständen »unüberwindliche Hindernisse« entgegen. Nach meiner Rückkehr nach Berlin habe ich von deutschen Journalisten erfahren, daß Herr Joffe selbst ersucht habe, die Nachricht nicht zu dementieren, und daß auch von einer Stelle des Auswärtigen Amtes ein Dementi als unerwünscht bezeichnet worden war! Man wollte bei uns im Interesse des Zustandekommens der Zusatzverträge augenscheinlich die durch die Nichtverfolgung der Attentäter gegen die Bolschewikiregierung erregte öffentliche Meinung beschwichtigen. Erst auf mein Eingreifen hat das Wolffsche Telegraphenbureau ein Dementi veröffentlicht.

Die Sowjetregierung nahm aber nicht nur Abstand von jedem ernsthaften Schritt gegen die in das Attentat verwackelten Linken Sozialrevolutionäre, sondern sie nahm auch in den ersten Tagen meines Moskauer Aufenthalts die Mitglieder dieser Gruppe, die sie unmittelbar nach dem Attentat und dem Putsch aus der »Außerordentlichen Kommission« und anderen wichtigen Körperschaften entfernt hatte, wieder in Gnaden auf.

 

5chreckensherrschaft der »Außerordentlichen Kommission«

Dagegen übte sie gegen alle weiter rechts stehenden Parteien und Gruppen eine wahre Schreckensherrschaft aus. An Zeitungen wurden nur bolschewistische und linkssozialrevolutionäre Organe geduldet; alle anderen wurden schonungslos unterdrückt. Jede Art von Versammlungen, die nicht von Bolschewisten oder Linken Sozialrevolutionären veranstaltet wurden, waren verboten. Die »Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution«, deren Befugnisse über Leib und Leben unbeschränkt waren, wütete gegen alles, was nicht zur Partei der Bolschewisten und der Linken Sozialrevolutionäre gehörte, in einer geradezu entsetzlichen Weise. In der Provinz waren es die lokalen »Sowjets«, die den Terror ausübten. Die Mitte Juli erfolgte Hinrichtung des Zaren durch den Sowjet von Jekaterinburg, die von dem Zentralexekutivkomitee in Moskau nachträglich gebilligt wurde, war nur ein durch die Person des Betroffenen Aufsehen erregender Einzelfall.

Trotzdem, oder vielleicht gerade infolge dieses unerträglichen Terrors, machten die gemäßigteren Elemente einen letzten Versuch, sich zusammenzuschließen. Es hatte damals den Anschein, als ob es einer Koalition der bürgerlichen Parteien bei der zweifelhaften Haltung der bolschewistischen Kerntruppen, der tiefgehenden Erbitterung der hungernden Arbeiter in den Städten und der von gewaltsamen Requisitionen bedrohten Bauernschaft gelingen könnte, die zersprengten Ordnungselemente um sich zu sammeln.

Die Sowjetregierung selbst war ernstlich in Sorge. Sie traf in den ersten Augusttagen umfassende Vorkehrungen gegen eine gegenrevolutionäre Erhebung. Die oberen Stockwerke in den Quartieren um den Kreml, in dem Lenin und der Rat der Volkskommissare ihren Sitz hatten, wurden größtenteils geräumt und mit Maschinengewehren zur Verteidigung eingerichtet. Die Razzias nach gegenrevolutionären Elementen, vor allem nach Offizieren, wurden Tag und Nacht mit verdoppeltem Eifer betrieben. Schließlich wurde für den 7. August eine Registration der sämtlichen Offiziere angeordnet; bei dieser Gelegenheit wurden Tausende der sich Meldenden in Haft genommen. Wie viele von diesen erschossen worden sind, wird man wohl niemals erfahren.

Die Sowjetregierung hatte allen Grund, ihre Lage für gefährdet zu halten; denn ihre eigenen Machtmittel in Moskau waren in jenen Tagen schwach und die Bevölkerung war gleichgültig oder schwankend. Um den äußeren Feind abzuwehren, hatte die Regierung die Lettenregimenter fast restlos zu den Fronten schicken müssen; auch meine Lettenwache, deren Belassung mir ausdrücklich zugesagt worden war, wurde vorübergehend abgezogen und durch ziemlich übel aussehende Rotgardisten ersetzt. Die Bevölkerung litt auf das schwerste unter dem Mangel an Lebensmitteln. Es herrschte in Moskau die nackte Hungersnot. Was an Nahrungsmitteln überhaupt hereinkam, wurde großenteils von der Roten Garde für sich in Anspruch genommen. Brot gab es überhaupt nicht mehr. Das Brot für das Personal der deutschen Vertretung mußten wir uns durch den Kurier aus Kowno bringen lassen.

 

Zusammengehen der deutschen Regierung mit den Bolschewiki

Die stärkste Stütze der Bolschewikiregierung in jener kritischen Zeit war, wenn auch unbewußt und unbeabsichtigt – die deutsche Regierung. Schon die Tatsache, daß die deutsche Regierung mit den Bolschewisten den Frieden abgeschlossen und die diplomatischen Beziehungen aufgenommen hatte, war in den nicht bolschewistischen Kreisen Rußlands als eine moralische Unterstützung des bolschewistischen Regiments aufgefaßt worden. Das offenkundige Bestreben der Berliner Politik, in Großrußland mit den Bolschewisten loyal zusammenzuarbeiten, die Leichtigkeit, mit der die Herren, die in Berlin mit Herrn Joffe verhandelten, sich mit der Schädigung und Vernichtung deutschen Eigentums und deutscher Betriebe durch die kommunistischen Maßnahmen der Bolschewisten abfanden, die Leichtfertigkeit, mit der gewisse deutsche Publizisten den Gedanken propagierten, Deutschland müsse durch Förderung des Bolschewismus das Russische Reich endgültig zertrümmern und ohnmächtig machen, das alles erzeugte und verstärkte in Rußland den an sich unzutreffenden Eindruck, daß Deutschland entschlossen sei, das bolschewistische Regime in Großrußland zum Zwecke der endgültigen Zerstörung der russischen Kraft aufrechtzuerhalten. Man hielt in den russischen Kreisen diese Politik im eigensten Interesse Deutschlands für verkehrt; denn man sah als ihre Folge an, daß der Bolschewismus schließlich gegen uns selbst schlagen werde – eine Warnung, die ich während meines kurzen Aufenthalts in Moskau wiederholt und eindringlich von russischer Seite gehört habe –; aber man rechnete mit unserer Unterstützung des bolschewistischen Regimes als mit einer Tatsache, die schwer auf jeden Gedanken einer eigenen Erhebung drückte.

Die Ermordung des Grafen Mirbach und die daraufhin, von dem deutschen Geschäftsträger unternommenen Schritte erweckten die Hoffnung auf ein Umschwenken der deutschen Politik. Die antibolschewistischen, und zwar nicht nur die reaktionären Elemente suchten Anlehnung und Ermutigung bei uns. Herr Miljukoff, der früher zu den schärfsten Gegnern Deutschlands gehört und noch als Minister des Auswärtigen in der revolutionären Regierung des Fürsten Lwoff in der entschiedensten Weise Stellung gegen jede Verständigung mit Deutschland genommen hatte, sprach sich jetzt öffentlich für ein Zusammengehen mit Deutschland aus.

 

Die Berliner Politik

Die Enttäuschung war groß, als die Berliner Regierung die Forderung auf Zulassung eines kriegsstarken deutschen Bataillons fallen ließ und sich mit dem laxen Vorgehen gegen die Mörder des Grafen Mirbach zufriedengab. Sie wurde noch größer, als in Rußland Einzelheiten über die Berliner Verhandlungen zwischen dem Auswärtigen Amt und Herrn Joffe bekannt wurden. In der geplanten Abtrennung Estlands und Livlands vom russischen Reichskörper sah man eine Bestätigung dafür, daß Deutschland zur Ausführung seines Vernichtungswillens gegen Rußland sich mit den Bolschewisten verbündet habe. Die gleiche Bestätigung sah man in den wirtschaftlichen und finanziellen Vereinbarungen, die der Bolschewikiregierung, auch soweit deutsches Eigentum und deutsche Rechte in Betracht kamen, gegen eine Pauschalvergütung freie Hand für die Durchführung ihrer ruinösen Enteignungs- und Sozialisierungsideen gaben. Dieser Anschein mußte um so mehr erweckt werden, als seit meiner Abreise von Berlin Herr Joffe durchgesetzt hatte, daß die uns zu gewährende Pauschalsumme auch die Entschädigung für diejenigen Enteignungen enthalten sollte, die durch ein nach Beginn der Verhandlungen rasch noch erlassenes Gesetz vom 28. Juni 1918 zwar generell angeordnet, aber im einzelnen noch nicht durchgeführt waren, Das Zugeständnis, das der Sowjetregierung gestattete, mit der Enteignung deutschen Besitzes à discretion zu schalten, war gegen meine ausdrückliche, schon in Berlin ausgesprochene und von Moskau aus telegraphisch wiederholte Warnung vor einer solchen Pauschalierung pro futuro gemacht worden. Es wurde in Rußland geradezu als eine Ermunterung der Enteignungs- und Sozialisierungspolitik der Bolschewisten aufgefaßt.

Darüber habe ich in Moskau nur eine Stimme gehört, daß der Abschluß der Zusatzverträge auf der in Berlin in Aussicht genommenen Grundlage uns das ganze nichtbolschewistische Rußland für absehbare Zeit zum bittersten Feinde machen müsse.

Hatten wir mit dem nichtbolschewistischen Rußland ernsthaft zu rechnen, oder konnten wir es für unsere Politik als quantité négligeable behandeln?

Die Bolschewikiherrschaft stand gerade damals sichtbarlich auf zu schwachen Füßen, als daß die Möglichkeit eines Umschwungs, auch eines nahen Umschwungs, als nicht vorhanden betrachtet werden durfte. Auch heute noch, nachdem gegen alles Erwarten und auch gegen meine damals gewonnene Ansicht die Lenin und Trotzki – nicht zuletzt dank der von den maßgebenden Personen in Berlin verfolgten Politik! – sich an der Herrschaft gehalten haben, kann ich eine Politik nicht für richtig halten, die Rußland und den Bolschewismus identifizierte und das im Augenblick unterdrückte nicht bolschewistische Rußland glaubte ignorieren zu können. Kam aber der Umschwung, ohne daß wir vorher das Tischtuch zwischen uns und den Bolschewiki zerschnitten hatten, dann kam er gegen uns, und zwar unter unmittelbarer Führung der Entente, die offensichtlich auf eine solche Entwicklung hinarbeitete, um uns vor eine neue Ostfront zu stellen.

Die Meinung von der schwer gefährdeten Stellung der Bolschewikiherrschaft erfuhr für mich eine Bestätigung in dem Ersuchen Tschitscherins um unsere bewaffnete Hilfe. Nur wenn die Sowjetregierung selbst zu der Ansicht gekommen war, daß sie ohne unsere Hilfe verloren sei, konnte sie sich zu einem solchen Schritt entschlossen haben.

 

Zwiespältigkeit der deutschen Ostpolitik

Sollten wir ihr diese Hilfe leihen, nicht nur gegen die Entente im Norden, sondern auch gegen die Kosaken im Südosten, und uns damit auf Gedeih und Verderb mit den Bolschewiki verbinden? Oder sollten wir sie fallen lassen und den Anschluß, der von dem nichtbolschewistischen Rußland bei uns gesucht wurde, gewähren?

Die weit überwiegenden Gründe seidenen mir für die letztere Alternative zu sprechen.

Wir mußten endlich aus der Zwiespältigkeit heraus, daß wir in den von uns besetzten baltischen Gebieten, in Finnland, in der Ukraine, im Dongebiet und im Kaukasus die Bolschewiki bekämpften und in Großrußland gemeinschaftliche Sache mit ihnen machten.

Wir durften unser Verhältnis zu dem künftigen Rußland nicht durch ein Kleben an den Bolschewiki aufs Spiel setzen.

Nur wenn es gelang, in Großrußland selbst die Bolschewikiherrschaft zu überwinden, konnten wir auf ruhigere Verhältnisse im Osten und auf das Freiwerden eines großen Teiles der dort verzettelten Divisionen rechnen.

Nur wenn an die Stelle des Bolschewikiregiments eine neue Ordnung der Dinge trat, die das von den Bolschewiki in Grund und Boden ruinierte russische Wirtschaftsleben wieder aufrichtete und uns die von den Bolschewiki fortgesetzt sabotierte Möglichkeit der Anknüpfung von Handelsbeziehungen gab, konnten wir hoffen, aus den russischen Hilfsquellen und Vorräten Erleichterungen für unsere Wirtschaft und unsere Kriegführung zu gewinnen. Bisher war alle Arbeit der zahlreichen wirtschaftlichen Sachverständigen, die unserer Vertretung in Moskau zugeteilt waren, ebenso alle Bemühungen der Kaufleute, die wir herangeholt oder zugelassen hatten, in allen den Monaten seit dem Abschluß des Brester Friedens gänzlich fruchtlos gewesen. Nicht eine einzige Sendung von Nahrungsmitteln, Rohstoffen oder sonstigen Waren irgendwelcher Art war für Deutschland frei zu bekommen. Die ganze Tätigkeit unseres großen Wirtschaftsstabes war nichts als ein Leeres-Stroh-Dreschen. Niemand sah eine Aussicht, daß sich unter der Herrschaft der Bolschewiki hieran etwas ändern würde.

Dazu kam schließlich, daß die Bolschewiki nach wie vor mit einer kaum zu übertreffenden Offenheit ihre Absicht verkündigten – auch mir persönlich gegenüber – Deutschland mit allen Mitteln zu revolutionieren, und daß wir nach den bisherigen Proben, die Lenin, Trotzki, Radek und Konsorten an Zielbewußtsein und Tatkraft abgelegt hatten, in keiner Weise berechtigt waren, diese Ankündigungen in den Wind zu schlagen.

 

Abrücken von den Bolschewiki?

Freilich, wenn wir von den Bolschewiki abrücken und nicht ins Leere fallen wollten, dann mußten wir uns rechtzeitig mit den Elementen verständigen, die für den Aufbau der neuen Ordnung in Betracht kamen.

Voraussetzung dafür war allerdings – das trat uns überall entgegen –, daß wir nicht nur diejenigen Teile der Zusatzverträge fallen ließen, die eine weitere territoriale Verstümmelung Rußlands bedeuteten und als eine wirtschaftliche Ausplünderung und Sabotierung Rußlands aufgefaßt wurden, sondern daß wir darüber hinaus unsere grundsätzliche Bereitwilligkeit aussprachen, über einzelne Bestimmungen des Friedens von Brest-Litowsk mit uns reden zu lassen. Vor allem wurde die Loslösung von Estland und Livland sowie die Aufrechterhaltung der Trennung der Ukraine von Großrußland als unmöglich, dagegen eine Verständigung über Polen, Litauen und Kurland als möglich bezeichnet.

Im übrigen war man der Ansicht, daß bei der akuten Zuspitzung der Lage ein deutliches Abrücken unsererseits von den Bolschewik! genügen werde, um die Bewegung in Fluß zu bringen; gegebenenfalls würde eine militärische Demonstration unserer Streitkräfte in der von den Bolschewikitruppen fast gänzlich geräumten Gegend von Petersburg genügen, um den Sturz der Bolschewiki zu besiegeln.

Ich berichtete über meine Eindrücke und meine Auffassung an das Auswärtige Amt und bat um die Ermächtigung, mit den Letten, Sibiriern und den Anschluß an uns suchenden politischen Gruppen auf Grund der von diesen als notwendig angedeuteten Zugeständnissen Verhandlungen zu führen und der Sowjetregierung zu dem mir als richtig erscheinenden Zeitpunkt die Verlegung der deutschen Vertretung nach Petersburg oder einem anderen nahe an der Grenze gelegenen Platz anzukündigen.

Ich hielt es für notwendig, die Ermächtigung für die Verlegung unserer Vertretung von Moskau in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich, zu erbitten, obwohl mir der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes vor meiner Abreise von Berlin in diesem Punkt freie Hand gegeben hatte. Denn damals wurde in der Besprechung zwischen dem Staatssekretär und mir die Frage der Wegverlegung nur vom Standpunkt der persönlichen Sicherheit des Personals der Mission betrachtet, während nunmehr der politische Zweck eines solchen Schrittes – das demonstrative Abrücken von den Bolschewiki –, der bei den Anträgen der Moskauer Mission in Berlin bisher überhört worden war, wieder in den Vordergrund rückte.

Das Auswärtige Amt erteilte mir die nachgesuchte Ermächtigung zu den von mir empfohlenen Verhandlungen nicht, machte vielmehr das rasche Zustandekommen der Zusatzverträge zum Angelpunkt seiner Politik; ferner wiederholte es das Anheimstellen, Moskau mit dem Personal der Vertretung zu verlassen, wenn mir das aus Sicherheitsgründen angezeigt erscheine.

Ich antwortete, daß nach meiner Ansicht die Zusatzverträge mitsamt dem Brester Friedensvertrag bei der Fortsetzung der von Berlin befohlenen Politik Makulatur werden würden; ein Verlassen Moskaus durch mich und das engere Personal der Mission werde, auch wenn mit Sicherheitsgründen motiviert, als Abrücken von den Bolschewiki wirken; nur aus persönlichen Sicherheitsgründen würde ich deshalb Moskau nicht verlassen.

 

Lage der deutschen Mission

Auch gegenüber meinen erneuten Vorstellungen beharrte das Auswärtige Amt auf seinem Standpunkt; in der Frage des Wegganges von Moskau erteilte es mir jedoch jetzt die formelle Weisung, im Falle der Lebensgefahr für mich oder das Personal der Mission Moskau zu verlassen und einen gesicherteren Ort aufzusuchen. Schließlich erhielt ich am 5. August die telegraphische Weisung, alsbald zur mündlichen Berichterstattung nach Berlin zu kommen und die Geschäfte an Dr. Riezler zu übertragen, für den hinsichtlich des weiteren Verbleibens oder des Verlassens von Moskau die in dem obenerwähnten Telegramm erteilte Weisung in Kraft bleibe.

Durch meine Berufung nach Berlin war die Frage meiner persönlichen Sicherheit ausgeschaltet. Es blieb mir aber die mir durch das Auswärtige Amt ausdrücklich auferlegte Verantwortung für die Sicherheit meines umfangreichen Personals.

Bisher hätte man mir bei einer Wegverlegung der Mission von Moskau den Vorwurf machen können, daß ich mich bei einem Entschluß von politischer Tragweite durch Gründe meiner persönlichen Sicherheit hätte beeinflussen lassen. Allein schon dieser Gedanke hatte mich bestimmt, dem Drängen meiner Mitarbeiter, sowohl der Offiziere wie auch der Zivilbeamten, ebenso den gutgemeinten Ratschlägen anderer Personen, wie meines mit den Moskauer Verhältnissen gilt vertrauten bulgarischen Kollegen Tschapratschikoff, zu widerstehen, obwohl die Dinge, wie sich aus folgender Tagesübersicht ergibt, sich stark zugespitzt hatten.

Am Montag, 29. Juli, dem Tag nach meiner Ankunft in Moskau, beschloß das Zentralkomitee der Linken Sozialrevolutionäre in öffentlicher Versammlung eine Resolution, die die Ermordung des Grafen Mirbach billigte und zur Nachahmung aufforderte; die Resolution wurde am folgenden Tage in dem Moskauer Organ der Linken Sozialrevolutionäre, der »Znamja Borby«, veröffentlicht.

 

Ermordung Generalfeldmarschalls v. Eichhorn

Am Mittwoch, 31. Juli, erhielt ich am frühen Morgen die Nachricht von der Ermordung des Generalfeldmarschalls von Eichhorn in Kiew mit dem Zusatz, daß der unmittelbar nach der Tat festgenommene Mörder angebe, von dem Moskauer Komitee der Linken Sozialrevolutionäre zu der Tat bestimmt worden zu sein.

Ich besuchte am Mittwoch nachmittag Herrn Tschitscherin, um ihn auf den unerhörten Beschluß der Linken Sozialrevolutionäre aufmerksam zu machen sowie um ihm von. der Aussage des Mörders Eichhorns Kenntnis zu geben und ihm die notwendigen Konsequenzen anheimzustellen. Herr Tschitscherin sprach zunächst formell sein Bedauern über den Tod des Generalfeldmarschalls aus. Im übrigen hätte er nur ein Achselzucken: Rußland sei ein revolutionärer Staat mit Preß- und Versammlungsfreiheit; er habe keine Mittel, um gegen Resolutionen der Linken Sozialrevolutionäre einzuschreiten. Er konnte sich dabei nicht die Bemerkung versagen, es habe dem Generalfeldmarschall von Eichhorn nichts genützt, daß in Kiew eine große deutsche Garnison stehe; ich könne daraus entnehmen, was das von uns ursprünglich verlangte Bataillon für Moskau bedeute.

Am Vormittag des gleichen Tages hatte ich meinen türkischen Kollegen Ghalib Kemal Bey besucht und ihm zugesagt, daß ich den Abend bei ihm in einem kleineren Kreise verbringen werde. Wir hatten auf seinen Vorschlag verabredet, die Tatsache, daß ich zu ihm kommen würde, geheimzuhalten. Kurz vor der verabredeten Zeit erhielt ich von einer russischen Seite die Mitteilung, es sei bekannt, daß ich zur türkischen Gesandtschaft fahren wolle; unterwegs werde ein Anschlag auf mich verübt werden. Die Herren meiner Umgebung baten mich dringend, die Warnung ernst zu nehmen. Ich fügte mich widerstrebend und blieb zu Hause. Gleich nach elf Uhr knallten Gewehrschüsse und wurde Alarm geschlagen. Es war ein Überfall auf den Lettenposten am Garteneingang unseres Gebäudes versucht worden. Etwa eine Stunde später wurde aus der gleichen Ursache nochmals alarmiert.

In den nächsten Tagen häuften sich die Mitteilungen, daß ein Anschlag auf mich persönlich und auf das Gebäude der deutschen Vertretung geplant sei. Die Sowjetregierung verstärkte nicht nur ihre Wachen – allerdings durch zweifelhafte Rotgardisten, da die Lettenregimenter nach der Front abgezogen wurden –, sondern entzog mir auch mit peinlicher Sorgfalt jede Veranlassung, dienstlich meinen Bau zu verlassen, Herr Tschitscherin besuchte mich, sooft ein Anlaß zu einer Besprechung vorlag, statt – wie es der Übung entspricht – meinen Besuch zu erwarten oder zu erbitten. Als ich ihm vorstellte, daß mir dies nicht konveniere, entgegnete er: »Ich denke, Sie sind gewarnt worden.« Die Überreichung meines Beglaubigungsschreibens an den Vorsitzenden des Vollzugsausschusses der Sowjets, Swerdloff, sollte nach der bei meinem ersten Besuch getroffenen Verabredung im Kreml in Gegenwart der sämtlichen Volksbeauftragten stattfinden. Die Zeremonie wurde schließlich auf Montag, 5. August, verschoben; im letzten Augenblick jedoch ließ mich Herr Tschitscherin bitten, mich mit der Überreichung noch weiter zu gedulden. Die Sowjetregierung getraue sich nicht, die Verantwortung zu übernehmen, daß ich von meiner Wohnung nach dem Kreml führe!

Die Lage fing an, unwürdig und unmöglich zu werden.

Sie wurde verschärft dadurch, daß die »Znamja Borby« ungehindert die Ermordung des Feldmarschalls von Eichhorn in fetten Lettern als eine Großtat der Moskauer Linken Sozialrevolutionäre feiern konnte. Ich remonstrierte bei Herrn Tschitscherin gegen diesen Zustand auf das nachdrücklichste. Ich tat dies auf meine eigene Initiative und Verantwortung; denn von Berlin erhielt ich trotz meiner Berichte keinerlei Auftrag, wegen der auf Moskau zurückweisenden Bluttat und ihrer offenen Glorifikation irgendwelche Schritte zu unternehmen. Die Ermordung eines österreichischen Erzherzogs hatte die Veranlassung zu dem Krieg gegeben. Der Ermordung eines deutschen Feldmarschalls durften sich jetzt die Täter ungestraft rühmen!

Wenn ich jetzt nach Berlin berufen wurde, so vermochte ich nicht den von allen meinen Beratern als notwendig erachteten Entschluß der Verlegung unserer diplomatischen Vertretung meinem Vertreter zu überlassen. Ich wäre mir vor mir selbst als Feigling erschienen, wenn ich die Verantwortung für diesen Entschluß nicht auf mich selbst genommen hätte, gerade weil für mich persönlich jetzt mit meiner Abreise das Moment der persönlichen Sicherheit wegfiel. Ich habe später in Berlin mit einigem Erstaunen den Vorwurf gehört: »Nachdem Sie nach Berlin gerufen waren, hätten Sie die Sache doch ruhig in Schwebe lassen können.« Ich habe darauf geantwortet, daß ich nicht gewohnt sei, nach dem Vers zu handeln: »Wär' ich mit guter Art davon, könnt' Euch der Teufel holen.«

Ich betrachtete es allerdings nicht nur als meine Pflicht, entsprechend der mir vom Auswärtigen Amt ausdrücklich erteilten Weisung für die Sicherheit meines Personals zu sorgen, sondern es kam mir auch darauf an, unserer Regierung für alle etwa von ihr zu fassenden Entschlüsse dadurch freie Hand zu schaffen, daß ich die zahlreichen bei unserer Vertretung beschäftigten Personen aus der Moskauer Mausefalle, in der sie einfach Geiseln der Bolschewiki waren und aus der es im Ernstfall kein Entrinnen gab, rechtzeitig entfernte.

Dagegen lag mir der mir später vielfach zugeschriebene Gedanke fern, einen »Staatsstreich« zu machen und den Entschlüssen meiner Regierung durch die Schaffung der vollendeten Tatsache eines Bruches mit der Sowjetregierung vorzugreifen. Ich einigte mich deshalb mit Herrn Tschitscherin in aller Güte über die Verlegung der Mission nach Petersburg, die ich mit der offenkundigen Unhaltbarkeit der Situation des deutschen Vertreters in Moskau begründete; auch wies ich auf die Tatsache hin, daß die sämtlichen Botschafter und Gesandten der neutralen Mächte nach wie vor ihren Sitz in Petersburg hätten. Ich verständigte mich ferner mit ihm über die zur Erleichterung des Geschäftsverkehrs zwischen Petersburg und Moskau zu treffenden Maßnahmen und Einrichtungen. Herr Tschitscherin nahm meine Eröffnung ohne Überraschung auf und äußerte nur einigen Zweifel, ob die Sicherheitsverhältnisse in Petersburg besser seien als in Moskau. Darin mag er recht gehabt haben, soweit die Attentatsgefahr für einen Einzelnen in Betracht kam; dagegen war für die Gesamtheit des Personals die unmittelbare Nähe unserer Grenzposten an der auf eine Autostunde an Petersburg heranreichenden finnischen und estländischen Grenze gegenüber der sechshundert Kilometer langen Entfernung, die Moskau von der deutschen Militärgrenze trennte, eine entschiedene Erleichterung.

 

Verlegung der deutschen Mission. Meine Abreise

Ich reiste am Abend des 6. August von Moskau mit dem Kurierzug ab. Es war mir ein besonderer Wagen zur Verfügung gestellt und ein Kommando von Rotgardisten beigegeben worden.

Die Reise verlief nicht ganz programmgemäß. Am Nachmittag des 7. August hatte der Zug in Jarzewo, der Station vor Smolensk, einen langen Aufenthalt. Plötzlich machten sich Eisenbahnarbeiter daran, meinen Wagen, den Wagen der Bedeckungsmannschaft und den Kurierwagen, die als letzte dem langen Zug angehängt waren, abzukoppeln. Auf meine Anfrage erhielt ich vom Stationsvorstand die Antwort, es sei aus Smolensk der Befehl gekommen, diese Wagen zurückzuhalten. Als ich über die Gründe keine Auskunft erhielt, erhob ich Einspruch. Der Kommandant meiner Wache stellte sich auf meine Seite und erklärte, er werde das Abkoppeln der Wagen mit Gewalt verhindern. Nach längerem Parlamentieren und einer telegraphischen Anfrage in Moskau erhielt der Stationsvorstand ein Telegramm des Volkskommissars für Eisenbahnen, die Wagen seien abzukoppeln und nach Wiasma zurückzubringen; dort würden sie weitere Befehle zu erwarten haben. Ich bestand nun darauf, durch den Bahntelegraphen mit dem Volkskommissar für das Auswärtige in Verbindung gesetzt zu werden. Nach längerem Warten erschien der Stellvertreter Tschitscherins, Herr Karachan, am Telegraphen und teilte mir mit: der Befehl zur Zurückführung der Wagen sei im Einverständnis mit dem deutschen Geschäftsträger erteilt worden, da in Orscha, der Grenzstation, Militärunruhen ausgebrochen seien, die eine Weiterfahrt gefährlich erscheinen ließen; in Wiasma werde mich Radek erwarten, mit dem ich das Weitere besprechen könne.

In der Tat hatte die russische Garnison von Orscha, die Befehl zum Abmarsch nach der Tschecho-Slowaken-Front erhalten hatte, gemeutert, die bolschewistischen Behörden teils erschossen, teils verjagt, eine Sozialrevolutionäre Republik erklärt und den deutschen Grenztruppen mitgeteilt, sie betrachte sich als mit Deutschland im Kriegszustand befindlich, Die Sowjetregierung sandte sofort Truppen aus Smolensk und Witebsk, um die Ordnung wiederherzustellen. Über die weitere Entwicklung der Dinge lagen angeblich Nachrichten noch nicht vor. Ich verlangte, von Herrn Radek, gleichwohl nach Orscha gebracht zu werden. Bei unserer Ankunft hatten sich die meuternden Truppen aus der Stadt zurückgezogen und auf einer benachbarten Höhe eingegraben. Auf der deutschen Seite hatte man sich über mein Verbleiben beunruhigt und bereits Vorkehrungen getroffen, um mich nötigenfalls herauszuhauen.

Als ich am Morgen des 10. August in Berlin eintraf, erfuhr ich zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, ohne meine Ankunft abzuwarten, die Weiterverlegung unserer Vertretung von Petersburg nach dem hinter der deutschen Militärgrenze liegenden und von unseren Truppen besetzten Pleskau angeordnet hatte, da nach seiner Ansicht auch Petersburg keine Gewähr für größere Sicherheit als Moskau biete. Auf meine Meldung ließ mir der Staatssekretär sagen, daß er mich, da er unwohl sei, erst am nächsten Nachmittag um fünf Uhr empfangen könne. Im Amt erfuhr ich, daß der Staatssekretär beabsichtigte, am nächsten Abend nach Spa zum Vortrag beim Kaiser und Reichskanzler zu reisen. Ich teilte daraufhin dem Staatssekretär mit, daß ich mich gleichfalls nach Spa begeben würde.

 

Die Zusatzverträge paraphiert

Ich erfuhr ferner, daß die Zusatzverträge fertiggestellt seien und daß Herr Kriege beabsichtige, sie im Laufe des Nachmittags mit Herrn Joffe zu paraphieren. Der Weggang der deutschen Vertretung von Moskau hatte offenbar die rassische Delegation stark beunruhigt und sie bestimmt, alles zu tun, um durch das sofortige Zustandekommen der Zusatzverträge den anscheinend wankenden Rückhalt bei der deutschen Regierung neu zu befestigen. Herr Joffe übernahm es, alsbald nach der Paraphierung mit den Verträgen nach Moskau zu reisen, um dort ihre sofortige und unveränderte Annahme durchzusetzen. Auch der Sowjetregierung in Moskau, die ursprünglich den Weggang der deutschen Vertretung von Moskau ruhig aufgenommen hatte, kamen die ernstlichsten Sorgen wegen der Aufrechterhaltung der damals für sie unentbehrlichen Rückendeckung durch die deutsche Politik. Sie entschloß sich, Herrn Radek in besonderer Mission nach Berlin zu entsenden, um jedes etwa mögliche Mißverständnis zu beseitigen. Nachdem jedoch Herr Radek auf der Fahrt nach Berlin in Orscha mit Herrn Joffe zusammengetroffen war, der mit den paraphierten Zusatzverträgen in der Tasche seine Besorgnisse ohne weiteres zerstreuen konnte, brauchte sich Herr Radek nicht weiter zu bemühen und konnte mit Herrn Joffe nach Moskau zurückreisen. Mein Einspruch gegen die Paraphierung, ehe ich Gelegenheit gehabt hätte, meinen Standpunkt zu vertreten, war vergeblich gewesen. Die Verträge waren in der Tat am Abend des 10. August paraphiert worden.

Meine Unterhaltung mit Herrn von Hintze am nächsten Nachmittag war gleichfalls ergebnislos. Der Staatssekretär blieb auf seinem Standpunkt, daß die Zusatzverträge unter allen Umständen zustandekommen und daß wir uns mit den Bolschewiki verhalten müßten. Dieses »Verhalten mit den Bolschewiki« ging so weit, daß das Auswärtige Amt Berichte deutscher Korrespondenten über die Zustände in Rußland und über das wahre Gesicht des Bolschewismus unterdrückte.

 

Mein Abschiedsgesuch

Ebensowenig gelang es mir, im Großen Hauptquartier meinen Standpunkt durchzusetzen, obwohl der General Ludendorff erklärte, er nehme an dem Zustandekommen der Zusatzverträge und insbesondere auch an der Abtrennung Estlands und Livlands nach der Entwicklung der Gesamtlage kein Interesse mehr. Der Kanzler behielt sich formell seine Entscheidung vor bis zu seiner für den 26. August in Aussicht genommenen Rückkehr nach Berlin. Ich ließ keinen Zweifel daran, daß ich bei der – kaum mehr zweifelhaften – Entscheidung gegen mich meinen Abschied nehmen würde. Den Kaiser bat ich, eine schriftliche Darlegung meiner Gesichtspunkte geben zu dürfen. Ich sandte diese Denkschrift am 20. August an den Kanzler mit der Bitte um Weitergabe an Seine Majestät, habe aber Grund zu der Annahme, daß die Denkschrift dem Kaiser niemals vorgelegt worden ist.

Der Kanzler kam erst am 29. August nach Berlin zurück. Am Tage vorher waren die am 10. August paraphierten Verträge unterschrieben worden. Ich übergab dem Kanzler am 30. August mein eingehend begründetes Abschiedsgesuch. In diesem hob ich noch einmal die Gefahren hervor, die ich in wichtigen Punkten der entgegen meinem dringenden Abraten unterzeichneten Zusatzverträge für die Gestaltung unseres künftigen Verhältnisses zu Rußland und für unser eigenes Bündnissystem erblicken müsse. Ich begründete ferner die Unmöglichkeit eines gedeihlichen, uns tatsächliche Entlastung und Erleichterung verschaffenden Zusammengehens mit der Bolschewikiherrschaft und fügte hinzu:

»Ich sehe die Rückschläge kommen, nicht nur in außenpolitischer Beziehung, sondern auch innerpolitisch. Die systematisch-schönfärberischen Darstellungen des in seinen Ausschreitungen kaum von den Jakobinern übertroffenen Bolschewistenregimes in der deutschen Presse, die ostensible Behandlung dieses Regimes auf gleichem Fuße, die Solidarisierung oder mindestens der Anschein der Solidarisierung mit diesem Regime bis zur Duldung der laxen Verfolgung, richtiger Nichtverfolgung der an der Ermordung des Grafen Mirbach und des Feldmarschalls von Eichhorn beteiligten Personen und Gruppen, – das alles kann auf die deutsche Volksseele und unsere eigenen innerpolitischen Verhältnisse nicht ohne gefährlichen Einfluß bleiben.«

 

Meine Verabschiedung

Die Genehmigung meines am 30. August eingereichten Entlassungsgesuchs wurde mir erst am 22. September zugestellt; Aus bestimmten Andeutungen hatte ich den Eindruck, daß man es für zweckmäßig hielt, mich solange wie möglich unter dem Druck des »Arnim-Paragraphen« zu halten, um mir eine öffentliche Bekämpfung der von mir für verhängnisvoll gehaltenen Regierungspolitik unmöglich zu machen. Meinem Wunsch, daß bei der Veröffentlichung meiner Verabschiedung offen die unüberbrückbare Meinungsverschiedenheit über die Fragen unserer Ostpolitik als Grund angegeben werden möchte, wurde nicht entsprochen.

Gleichzeitig wurden vom Auswärtigen Amt den führenden Reichstagsabgeordneten und der Presse Informationen über die Vorgänge in Moskau erteilt, die geeignet waren, mein Verhalten in ein falsches Licht zu setzen. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes äußerte in einer Besprechung mit Journalisten unter anderem, ich hätte ihn zum »Verrat« an der Bolschewikiregierung anstiften wollen.

In einer Anzahl von Zeitungen, die sich offen auf Mitteilungen der zuständigen Stelle beriefen, wurde mir vorgeworfen, ich hätte aus Gründen meiner persönlichen Sicherheit den Moskauer »Schützengraben« verlassen. Das Stichwort wurde von Blättern, die mir von meiner früheren Tätigkeit her ihr Wohlwollen bewahrt hatten, mit Behagen aufgenommen.

Die persönlichen Angriffe berührten mich nicht; ich war abgebrüht. Aber ich litt auf das schwerste unter dem Verhängnis, das ich kommen sah und das ich mit allen meinen Warnungen nicht abwenden konnte.

So endete meine Moskauer Mission für mich nicht nur mit einer starken persönlichen Enttäuschung, sondern mit dem niederdrückenden Gefühl, daß die Götter unser Verderben wollten.


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