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Neue innere Krisen

Im Juni 1918, gleich nach der Offensive vom Damenwege bis zur Marne, veröffentlichte die »Kreuzzeitung« einige L. H. gezeichnete Artikel, in denen zur Unterstützung der militärischen Operationen von der deutschen politischen Leitung eine »Friedensoffensive« gefordert wurde. Die Artikel erregten erhebliches Aufsehen schon deshalb, weil sie in einem Blatte erschienen, das bisher sich in scharfer Kampfstellung gegen jede Art von Friedensaktionen und Friedensangeboten befunden hatte. Die Redaktion der »Kreuzzeitung« betonte allerdings, daß die Artikel nicht redaktionellen Ursprungs seien, aber sie unterstrich damit nur, daß sie von einer auch für die »Kreuzzeitung« und ihren Kreis hochangesehenen Seite herrührten. Das Aufsehen wurde gesteigert durch einen schweren Angriff, den die »Kölnische Zeitung« gegen die »Lethargie« der politischen Leitung richtete, die auf dem diplomatischen Kampffelde die Initiative nach wie vor den Feinden überlasse.

Ich hatte am 17. Juni zufällig Gelegenheit zu einer Unterhaltung mit einem der Obersten Heeresleitung nahestehenden höheren Offizier. Ganz im Sinne der Kreuzzeitungsartikel setzte mir dieser auseinander, die politische Ausnutzung unserer militärischen Erfolge sei gleich Null; wir würden den Krieg nie beendigen, geschweige denn gewinnen können, wenn in diesem unmöglichen Zustand nicht Wandel geschaffen werde. Die für die Sicherung eines guten Friedens unbedingt notwendige Zusammenarbeit zwischen der militärischen und politischen Leitung habe aber einen Personenwechsel zur Voraussetzung. Graf Hertling sei infolge seines Alters und seiner Kränklichkeit aktionsunfähig, und zwischen Herrn von Kühlmann, dem damit die politische Leitung zufalle, und den Herren von der Obersten Heeresleitung sei ein vertrauensvolles und enges Zusammenarbeiten, wie es die Lage mehr denn je erfordere, von beiden Seiten her unmöglich. Wie mehrfach in der letzten Zeit, so trat mir auch bei dieser Unterhaltung die Frage entgegen, ob ich nicht geneigt sein würde, gegebenenfalls das Auswärtige Amt zu übernehmen.

Auf diese letztere Frage antwortete ich mit dem Hinweis darauf, daß Parlament und Presse bei der Gegnerschaft, die sich seit meinem Rücktritt nicht abgeschwächt, sondern eher noch verstärkt hatte, mir eine gedeihliche Führung der auswärtigen Politik unmöglich machen würden. Über den Inhalt der Unterhaltung selbst erstattete ich am folgenden Tage dem Grafen Hertling Bericht, ohne in dem springenden Punkte, daß die Oberste Heeresleitung selbst die Hoffnung auf eine rein militärische Beendigung des Krieges offenbar aufgegeben habe, und daß diese neue Lage alsbald eine auf den Grund der Dinge gehende Aussprache zwischen den beiden Faktoren erfordere, auf volles Verständnis zu stoßen.

 

Fehlen militärisch-politischer Zusammenarbeit

Amt zugeteilter Offizier hatte in diesen Tagen dem Staatssekretär von Kühlmann eine schriftliche Ausarbeitung übergeben, in der er die Aussichtslosigkeit einer rein militärischen Beendigung des Krieges und die Notwendigkeit einer die Kriegführung unterstützenden diplomatischen Aktion darlegte. Es liegt auf der Hand, daß diese Denkschrift nicht ohne die Billigung der Obersten Heeresleitung, insbesondere auch des Generals Ludendorff, überreicht wurde.

Die Kritik an der Passivität unserer politischen Leitung war berechtigt. Seit den diplomatischen Distanzgesprächen in den ersten beiden Monaten des Jahres 1918 war, soweit ich sehen kann, nach Westen hin von unserer Diplomatie überhaupt nichts mehr geschehen. Das lag zum großen Teil daran, daß die Leiter der politischen Geschicke der Zentralmächte vom Dezember an bis in den Mai hinein sich so gut wie ausschließlich durch die Verhandlungen über die östlichen Friedensschlüsse in Anspruch nehmen ließen und in jener Zeit nur zu seltenen und kurzen Besuchen aus Brest-Litowsk und Bukarest an dem Sitz der politischen Leitung erschienen. Ich habe es von Anfang an für einen Fehler gehalten, daß die Herren von Kühlmann und Graf Czernin, statt sich auf die Erteilung allgemeiner Direktiven und Instruktionen für die östlichen Friedensverhandlungen zu beschränken, sich persönlich als Unterhändler nach Brest und Bukarest begaben und sich dort für viele Monate in langwierigen Einzelverhandlungen festhalten ließen. Obwohl ich mich dem Verdacht aussetzte, die Leitung der Friedensdelegationen für mich selbst zu erstreben, habe ich diese meine Bedenken schon im Dezember 1917 sowohl dem Grafen Hertling wie Herrn von Kühlmann dargelegt. Als die Friedensverhandlungen mit Rumänien im Februar 1918 in Fluß kamen, habe ich bei beiden Herren angeregt, die Rumänen und die anderen Beteiligten nach Berlin kommen zu lassen. Aber ich drang nicht durch; man setzte mir vor allem entgegen, daß Graf Czernin fest entschlossen sei, die Verhandlungen für Österreich-Ungarn persönlich zu leiten und zu diesem Zweck nach Brest und Bukarest zu gehen, was uns keine Wahl lasse, als den Staatssekretär des Auswärtigen gleichfalls dorthin zu entsenden. Wie erschwerend überdies die Zuspitzung des persönlichen Verhältnisses zwischen Herrn von Kühlmann und den maßgebenden Männern der Obersten Heeresleitung für jede intimere Aussprache war, hatte sich schon anläßlich der türkisch-bulgarischen Schwierigkeiten gezeigt.

Auch jetzt, nachdem der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen deutlich auf die Notwendigkeit einer militärisch-politischen Zusammenarbeit hingewiesen worden waren, geschah nicht das einzige, was in dieser Lage hätte geschehen müssen: eine sofortige Aussprache zwischen den leitenden militärischen und politischen Persönlichkeiten über den Stand des Krieges und die zu fassenden Entschlüsse.

Dagegen löste die Herrn von Kühlmann übergebene Denkschrift eine andere Wirkung aus: die Reichstagsrede des Staatssekretärs vom 24. Juni, die den Anlaß zu seiner Verabschiedung gab.

Für Montag, den 24. Juni, war der Etat des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes auf die Tagesordnung des Reichstags gesetzt worden. In der Woche zuvor hatte die erste Beratung des Friedensvertrags von Bukarest stattgefunden; es hatte dabei in den Kreisen der Reichstagsabgeordneten einiges Mißfallen erregt, daß weder Graf Hertling noch Herr von Kühlmann den Vertrag in einer einleitenden Rede dein Hause präsentiert hatten, daß vielmehr Herr von Kühlmann erst, nachdem die Vertreter der Parteien gesprochen hatten, einige Ausführungen machte. Die Parteiführer legten nun dem Grafen Hertling nahe, er möchte am 24. Juni bei der Beratung seines Etats Gelegenheit nehmen, über die politische Lage, wie sie durch die Östlichen Friedensschlüsse und die militärischen Operationen sich gestaltet habe, sich auszusprechen. Der Reichskanzler hatte für seine Person keine Neigung, diesem Wunsche zu entsprechen; als jedoch die Parteiführer auf ihrem Verlangen bestanden, beauftragte er im letzten Augenblick Herrn von Kühlmann, an seiner Stelle zu sprechen, und zwar – wie mir damals gesagt wurde – unter Beschränkung auf Tatsächliches und unter Vermeidung irgendwelcher allgemeiner und programmatischer Ausführungen.

Kühlmann gab in seiner sichtlich zum großen Teil improvisierten Rede zunächst eine kurze Darlegung unserer Beziehungen zu unseren Verbündeten sowie zu Rußland und den sich auf dem Boden des alten Kaiserreichs neu entwickelnden Staatswesen und ging dann mit wenigen Worten auf unser Verhältnis zu den europäischen Neutralen ein. Im Anschluß daran sagte er über die militärische Lage, daß infolge des glänzenden Verlaufs der Operationen in Frankreich die Initiative vollkommen bei unserer Obersten Heeresleitung liege, und daß wir hoffen könnten, der Sommer und der Herbst würden unseren Waffen neue Erfolge bringen. An dieses zuversichtliche Urteil knüpfte er eine Bemerkung, die Bewegung und großes Aufsehen erregte: Man müsse sich fragen, ob der Krieg noch über den Herbst und Winter und über das nächste Jahr hinaus dauern werde. Der Feldmarschall Graf Moltke habe im Jahre 1890 ausgeführt, der nächste Krieg könne ein siebenjähriger, ja ein dreißigjähriger Krieg werden; nach seiner – Kühlmanns – Ansicht sei es unmöglich, mit Sicherheit irgendeinen Augenblick für das Ende des Krieges ins Auge zu fassen, »Das Auge muß nach den politischen Motiven ausspähen, welche eventuell Friedensmöglichkeiten eröffnen könnten, und nach dieser Richtung hin muß ich sagen, daß trotz der glänzenden Erfolge unserer Waffen auf seiten unserer Gegner Friedenswilligkeit, an maßgeblichen Stellen Friedensbereitschaft noch nirgends klar erkennbar hervorgetreten sind.«

Er ließ eine Polemik mit Balfour folgen, der kurz zuvor wieder einmal die »alte Legende erneuert habe, daß Deutschland den Krieg entfesselt habe, um die Weltherrschaft an sich zu reißen«. Diese Legende werde durch fortgesetzte Wiederholung nicht wahrer. Der Krieg zeichne sich immer deutlicher ab »als das Werk Rußlands«; daß Frankreich dabei »als Kriegshetzer auf das schlimmste mitgespielt«, daß die englische Politik »sehr dunkle Seiten in dieser Beziehung aufzuweisen habe«, dafür gebe es Beweise genug. Er halte es für nützlich und notwendig, gegenüber den feindlichen Behauptungen über Deutschlands angebliche Kriegsziele nicht in der Negation zu verharren, sondern »ganz einfach und leicht verständlich für alle« zu sagen, was wir positiv wollten: »wir wollen auf der Welt für das deutsche Volk – und das gilt mutatis mutandis auch für unsere Verbündeten – innerhalb der Grenzen, die uns die Geschichte gezogen hat, sicher, frei, stark und unabhängig leben, wir wollen über See den Besitz haben, welcher unserer Größe, unserem Reichtum und unseren bewiesenen kolonialen Fähigkeiten entspricht, wir wollen die Möglichkeit und die Freiheit haben, auf freier See unseren Handel und unseren Verkehr in alle Weltteile zu trägem« Die Unversehrtheit des Grundgebiets des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten sei nach wie vor eine notwendige Voraussetzung für die Aufnahme irgendwelcher Friedensgespräche oder Friedensverhandlungen; darüber hinaus könnten sämtliche Fragen Gegenstand der Beratung und Einigung sein. Der englische Vorwurf, daß wir nicht bereit seien, in der belgischen Frage öffentlich Stellung zu nehmen, sei unberechtigt, wir betrachteten aber im Gegensatz zu der englischen Auffassung Belgien als eine der Fragen im Gesamtkomplex der Fragen und müßten es ablehnen, in der belgischen Frage, »sozusagen als Vorleistung«, Erklärungen abzugeben, die uns binden würden, ohne die Gegner auch nur im geringsten festzulegen. Was unsere Friedensbereitschaft anlange, so konnten wir uns genau die Worte des Herrn Asquith zu eigen machen, daß die Tür für Schritte in der Richtung eines ehrenvollen Friedens nicht zugeschlagen sei. Aber die Vorbedingung für einen Gedankenaustausch sei ein gewisses Maß von Vertrauen in die gegenseitige Anständigkeit und Ritterlichkeit; solange jede Eröffnung von der anderen Seite als »Friedensoffensive« und als Falle aufgefaßt und denunziert werde, sei nicht abzusehen, wie ein zum Frieden führender Gedankenaustausch eingeleitet werden könne. »Ohne solchen Gedankenaustausch wird bei der ungeheuren Größe dieses Koalitionskrieges und bei der Zahl der in ihm begriffenen auch überseeischen Mächte durch rein militärische Entscheidungen allein ohne alle diplomatischen Verhandlungen ein absolutes Ende kaum erwartet werden können.«

 

Wirkungen der Kühlmannschen Rede

Der aus dieser Rede haftenbleibende Eindruck war: Der Staatssekretär hat bekannt, daß trotz der glänzenden Erfolge unserer Offensive ein Ende des Krieges nicht abzusehen ist, daß rein militärisch der Krieg überhaupt nicht zu Ende geführt werden könne, daß hierzu vielmehr diplomatische Verhandlungen notwendig seien, zu denen aber auf der anderen Seite bisher noch keinerlei Geneigtheit sich zeige. Ein Bekenntnis von vollständiger Trostlosigkeit und Resignation ohne die leiseste Andeutung, was die deutsche Politik tun wolle, um sich einen Weg zu bahnen.

Nach dem Staatssekretär sprachen die Herren Gröber und Dr. David, letzterer an die zwei Stunden lang. Sie hielten, wie das im Reichstag üblich war, ihre vorbereiteten Monologe, die an Kühlmanns Äußerungen vorübergingen, wie wenn der Staatssekretär überhaupt nicht gesprochen hätte. Dagegen ging der Führer der Konservativen zum Angriff gegen Herrn von Kühlmann vor, dessen Ausführungen unser Vertrauen in den Sieg, die erste Voraussetzung für ein gutes Ende, in Zweifel zu stellen und den Geist unserer Truppen nachteilig zu beeinflussen geeignet seien.

Am nächsten Vormittag ließ mich Graf Hertling aus einer anderen Veranlassung zu sich bitten. Er äußerte sich ungehalten über Kühlmanns Rede; er selbst habe nichts von Kühlmanns Absicht gewußt, Ausführungen dieser Art zu machen; ebensowenig habe sich Kühlmann mit der Obersten Heeresleitung über seine das militärische Interesse doch stark berührenden Ausführungen in Verbindung gesetzt; die Oberste Heeresleitung habe bereits einen scharfen Protest erhoben. – In der Pressekonferenz desselben Vormittags ließ die Oberste Heeresleitung auf Anfrage erklären, daß sie durch die Rede des Staatssekretärs »auf das peinlichste überrascht« worden sei.

Am Nachmittag erschien Graf Hertling zur Fortsetzung der Debatte im Reichstag und nahm alsbald das Wort. Er habe zunächst nicht die Absicht gehabt, unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu sprechen, und zwar wegen der Erfahrungen mit dem Erfolg der bisherigen Reden bei den feindlichen Staatsmännern. Am 25. Februar habe er seine grundsätzliche Zustimmung zu den in der Botschaft des Präsidenten Wilson vom 11. Februar aufgestellten vier Punkten erteilt; irgendeine Antwort sei darauf nicht erfolgt; ja die aus Amerika herübergedrungenen Auslassungen hätten erkennen lassen, daß der wahre Zweck des propagierten Völkerbundes sei, das unbequeme, aufstrebende Deutschland zu isolieren und ihm durch wirtschaftliche Abschnürung den Lebensodem auszulöschen. Es habe also keinen Zweck gehabt, den damals angesponnenen Faden weiterzuspinnen. Dagegen habe er es für angemessen gehalten, daß der Staatssekretär des Auswärtigen Mitteilungen über die Einzelheiten unserer politischen Lage im Osten machen möge; dieser Aufgabe habe sich der Staatssekretär nach seiner Ansicht in durchaus sachgemäßer Weise unterzogen; dagegen hätten einige seiner Äußerungen zu seinem, des Kanzlers, Bedauern in weiten Kreisen eine mehr oder minder unfreundliche Aufnahme erfahren. Auf die von dem Staatssekretär gestreifte Schuldfrage wolle er nicht eingehen; man könne diese getrost der Geschichte überlassen. Er wolle ein Mißverständnis ausräumen, das in der Auffassung des zweiten Teiles der Ausführungen des Staatssekretärs augenscheinlich obgewaltet habe. Die Tendenz dieser Ausführungen sei lediglich gewesen, die Verantwortung für die Fortsetzung und unabsehbare Verlängerung des entsetzlichen Krieges den Feinden zuzuschieben; denn von einem Erlahmen unseres energischen Abwehrwillens, von einer Erschütterung unserer Siegeszuversicht könne doch selbstverständlich nicht die Rede sein.

 

Kühlmanns Verabschiedung

Nach dem Kanzler erhob sich Herr von Kühlmann zu einer Abwehr der Angriffe, die Graf Westarp tags zuvor gegen ihn gerichtet hatte; auch er habe den Schwerpunkt auf die militärischen Entscheidungen gelegt und die diplomatischen Verhandlungen als das Sekundäre und Nachfolgende klar gekennzeichnet. Der Verlauf werde immer sein: der militärische Erfolg ist die Voraussetzung und Grundlage der diplomatischen Verhandlungen.

Herr von Kühlmann war nach der Rede des Kanzlers und nach seinen eigenen Ausführungen als Staatssekretär des Auswärtigen erledigt. Was im Reichstag und in der Presse weiter folgte, war nur noch ein Kampf um seine politische Leiche.

Herr von Kühlmann selbst gab sich über die Unhaltbarkeit seiner Stellung keiner Täuschung hin; aber er wünschte noch den Bukarester Frieden im Reichstag unter Dach und Fach zu bringen, Am 6. Juli wurde er jedoch nach dem Hauptquartier gerufen, wohin der Kanzler bereits vorher gereist war. Dort fiel am 8. Juli die Entscheidung. Der Kaiser nahm Herrn von Kühlmann gegenüber die Initiative, indem er ihm rundheraus erklärte, nach dem Vorgefallenen werde man sich wohl trennen müssen. Daraufhin stellte Herr von Kühlmann natürlich sofort sein Amt zur Verfügung. Der Admiral a. D. von Hintze, zuletzt Gesandter in Norwegen, der sich bereits im Großen Hauptquartier befand, wurde zu seinem Nachfolger ernannt.

 

Zuspitzung der inneren Lage

Diese Vorgänge fielen zusammen mit einer ohnedies nicht unbedenklichen Zuspitzung der inneren Lage.

Graf Hertling hatte bei den Verhandlungen, die er vor der endgültigen Annahme des Kanzleramts mit den Mehrheitsparteien geführt hatte, bestimmte Zusagen innerpolitischer Art gemacht: vor allem die Milderung des Belagerungszustandes und der Zensur, die Beseitigung des § 153 der Gewerbeordnung und die Einbringung eines Gesetzes über Arbeitskammern, die Vermehrung der Mandate der großen Reichstagswahlkreise und schließlich die alsbaldige Einbringung einer Vorlage über das allgemeine, direkte, geheime und gleiche Wahlrecht in Preußen.

Die Versprechungen waren weniger leicht zu verwirklichen, als sie gemacht worden waren.

Einigermaßen glatt vonstatten ging nur die Aufhebung des § 153 der Gewerbeordnung und das Gesetz über die großen Reichstagswahlkreise. Dagegen stieß das Arbeitskammergesetz schon im preußischen Staatsministerium und dann im Bundesrat auf große Schwierigkeiten; als es glücklich an den Reichstag kam, wurde es zum Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen, die den Entwurf schließlich auf ein totes Gleis brachten.

Ganz unerquicklich gestaltete sich die Frage des preußischen Wahlrechts.

Zwar wurden die Vorlagen, die an Stelle des Dreiklassenwahlrechts das allgemeine und gleiche Wahlrecht setzen und in Verbindung damit auch das Herrenhaus reformieren sollten, im Herbst 1917 an den Landtag gebracht. Aber der Erledigung dieser Vorlagen türmten sich Hemmnisse entgegen, die zu überwinden die Regierung nicht stark genug war. Ich hatte, als im Staatsministerium die Reform des preußischen Wahlrechts vor der Osterbotschaft des Kaisers und Königs diskutiert wurde, mich dahin ausgesprochen, daß das gleiche Wahlrecht, wenn es jetzt von König und Regierung als Ziel aufgestellt werde, auch so bald wie möglich durchgesetzt werden müsse; denn es erschien mir im höchsten Maße bedenklich, bei einer längeren Dauer des Krieges diese einmal von oben aufgenommene Frage auf unabsehbare Zeit den Gegenstand scharfer innerpolitischer Kampfe bilden zu lassen. Die Richtigkeit dieser Empfindung ist leider durch den Verlauf der Dinge bestätigt worden. In endlosen Verhandlungen beschäftigten sich erst das Abgeordnetenhaus und seine Kommission, dann auch das Herrenhaus mit den Reformvorlagen, ohne zu einem Schluß zu kommen. Nicht nur die Konservativen und der größte Teil der Freikonservativen, sondern auch ein Teil des Zentrums und der Nationalliberalen, die man durch die Ernennung des Herrn Dr. Friedberg zum Vizepräsidenten des Staatsministeriums hatte gewinnen wollen, blieben in der Opposition gegen das gleiche Wahlrecht, Als die zweite Lesung im Abgeordnetenhause zu einem ungünstigen Schluß zu kommen schien, empfing der Kanzler eine Delegation von Vertretern der Arbeiterorganisationen und gab ihnen die beruhigende Zusicherung, daß er mit dem gleichen Wahlrecht stehe und falle. Das war am 27. April. Am 2. Mai lehnte das Abgeordnetenhaus das gleiche Wahlrecht ab. Die dritte Lesung hatte kein besseres Ergebnis; sie kam mit 236 gegen 185 Stimmen zur Ablehnung, brachte aber auch keine Mehrheit für irgendeinen anderen Antrag, so daß der wichtigste Punkt der Vorlage offen blieb, Herr Dr. Friedberg erklärte, die Staatsregierung halte am gleichen Wahlrecht unverrückbar fest und sei entschlossen, zu seiner Durchführung alle verfassungsmäßigen Mittel in Anwendung zu bringen; aber auch das Herrenhaus müsse noch Stellung nehmen; sollte dieses dem Gang der Gesetzgebung entsprechende Verfahren innerhalb angemessener Frist nicht zum Ziel führen, so werde die Auflösung des Abgeordnetenhauses zu dem ersten Zeitpunkt erfolgen, zu dem dies nach dem pflichtgemäßen Ermessen der Staatsregierung mit der Kriegslage vereinbar sei.

 

Opposition gegen das gleiche Wahlrecht

Auch diese Erklärung brachte die Sache nicht vorwärts. Am 11. Juni wurde das gleiche Wahlrecht in vierter Lesung abermals abgelehnt; und zwar war dieses Mal die Minderheit für das gleiche Wahlrecht noch weiter – von 185 auf 164 Stimmen – zusammengeschmolzen.

Es war den Männern des Kabinetts Hertling nicht gegeben, die widerstrebenden Parteien und Parteigruppen davon zu überzeugen, daß das einmal auf Grund einer feierlichen Ankündigung der Krone eingebrachte gleiche Wahlrecht unter keinen Umständen abgelehnt werden könne und daß jede Verzögerung in seiner Annahme die ohnedies schwierige innere Lage noch weiter belasten müsse.

Zu alldem kam der immer schwerer werdende Druck der Knappheit an den Gegenständen des dringendsten Bedarfs und der immer krasser zutagetretende Unfug des Schleichhandels und des Preiswuchers.

Die Agitation der Unabhängigen Sozialdemokraten fand in diesen Verhältnissen einen günstigen Boden. Sie nahm nicht nur in der heimischen Bevölkerung überhand, sondern griff auch mehr und mehr auf die Armee und Marine über. Die Regierung hätte durch die Vorkommnisse in der Flotte im August 1917 gewarnt sein können. Aber sie ließ die Dinge gehen, offenbar nicht nur in einer Unterschätzung der tatsächlichen Gefahr, sondern auch weil sie die Harmonie mit den Mehrheitsparteien als ein politisches Aktivum ansah, das nicht durch ein scharfes Zugreifen auf Grund des ohnedies so stark angefochtenen Belagerungszustandes gefährdet werden sollte.

Aber auch das Ziel, die Mehrheitsparteien zusammenzuhalten und damit den Burgfrieden auf einer neuen Grundlage zu sichern, wurde nicht erreicht. Die Mehrheitssozialisten hatten sich, wie ich oben dargestellt habe, trotz ihrer intensiven Mitwirkung bei der Bildung des »Kabinetts Hertling« freie Hand vorbehalten. Von dieser freien Hand machten sie jetzt Gebrauch. Die Konkurrenz mit ihren »unabhängigen« Brüdern um die Seele der Massen drängte sie erneut in die Opposition.

Noch vor dem Rücktritt Kühlmanns hielt Herr Scheidemann bei der dritten Lesung des Reichsetats am 3. Juli eine Rede, die nur als eine Absage an die Regierung Hertling-Payer aufgefaßt werden konnte.

 

Die Sozialdemokraten gegen den Etat

Er richtete heftige Beschwerden gegen die Handhabung der Zensur und des Belagerungszustandes; der Verfassungszustand, in dem wir lebten, sei doch nur »der militärische Absolutismus, gemildert durch die Furcht vor dem parlamentarischen Skandal«. Das darbende Volk fühle sich im Zustand der allerbittersten Not und Knechtschaft. In den kritischsten Wochen der Volksernährung erlebten wir das Trauerspiel der preußischen Wahlreform; dieses Zusammentreffen nicht durch rechtzeitige Auflösung des Abgeordnetenhauses verhindert zu haben, sei einer der schwersten Vorwürfe, die sich gegen die Regierung richteten. »Einer Regierung, die den Belagerungszustand nach vier Kriegsjahren immer noch nicht hat beseitigen können, vermögen wir nicht einmal den Etat zu bewilligen.«

Für Herrn von Payer, der auf das kategorische Verlangen der Sozialdemokraten die Stellvertretung des Reichskanzlers übernommen hatte, entstand nun die Aufgabe, dem. Wortführer dieser selben Sozialdemokraten entgegenzutreten. Er tat das mit tapferen und aufrichtigen Worten. Aber es blieb dabei: die erste parlamentarische Regierung Deutschlands sah sich bei der Durchbringung des Reichsetats von der zweitgrößten Partei der »Mehrheit«, die ihre parlamentarische Existenzgrundlage bildete, verlassen; und zwar wurde die Ablehnung des Etats von dem Wortführer dieser Partei in einer Weise begründet, die nichts anderes als ein Mißtrauensvotum darstellte. Das Zustandekommen des Etats war abhängig geworden von der Zustimmung der rechtsstehenden Parteien, die gegen die Regierung in der Opposition standen und von der Regierung ängstlich in der Opposition gehalten worden waren. In jedem wirklich parlamentarisch regierten Lande hätte ein solcher Vorgang zum Rücktritt und zur Neubildung der Regierung geführt. Bei uns nicht. Denn die Regierung Hertling-Payer war entschlossen, die Fiktion der »Mehrheitsparteien« auch gegen die handgreifliche Tatsache der Etatsverweigerung durch die Sozialdemokraten aufrechtzuerhalten.

In diese Lage fiel der Rücktritt Kühlmanns, desjenigen Mitglieds der Regierung Hertling, das in den kritischen Tagen des November 1917 mehr als jedes andere die Herrschaft der Mehrheitsparteien hatte errichten helfen und das nicht nur als erster Vorkämpfer des parlamentarischen Regimes, sondern auch als erster Vorkämpfer des »Verständigungsfriedens« galt.

Die Nachricht von der Entlassung des Herrn von Kühlmann und seiner Ersetzung durch Herrn von Hintze, dem alldeutsche Neigungen nach gesagt wurden, schlug in den Kreisen der Mehrheitsparteien wie eine Bombe ein. Man erregte sich nicht nur über den Wechsel an sich, sondern auch darüber, daß die Mehrheitsparteien vor der Ernennung des neuen Staatssekretärs nicht gehört worden seien. Diesen Verstoß gegen den Geist des Parlamentarismus versuchte man zu reparieren, indem man in der offiziellen Ankündigung des Wechsels die endgültige Entscheidung über die Ernennung des Herrn von Hintze als noch nicht erfolgt bezeichnete. Die Ernennung wurde in der Tat formell erst vollzogen, nachdem Herr von Hintze den Parteiführern vorgestellt worden war und der Reichskanzler im Hauptausschuß des Reichstags Aufklärungen gegeben hatte.

 

v. Hintze Staatssekretär des Äußeren

Der Reichskanzler führte bei dieser Gelegenheit aus, er habe sich von Herrn von Kühlmann, dessen politische Erfahrung und diplomatische Gewandtheit er lobend anerkannte, trennen müssen, da das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Kühlmann und »anderen Faktoren« nicht bestanden habe, ein Vertrauensverhältnis, das für eine reibungslose Führung der Geschäfte nicht entbehrt werden könne. Herr von Hintze sei ein sehr genauer Kenner der russischen Verhältnisse, sei lange als Militärbevollmächtigter in Petersburg gewesen und habe große Reisen durch Rußland gemacht. »Aber es versteht sich von selbst,« so fuhr der Kanzler fort, »daß ich meine Gegenzeichnung zu der Ernennung des Herrn von Hintze nur gebe, wenn Herr von Hintze meine Politik und nicht seine eigene verfolgt. Dafür habe ich aber bereits in den Zusagen des Herrn von Hintze – die Ernennung ist noch nicht erfolgt – meinerseits die feste Bürgschaft. Ich mache die Politik.«

Stolze Worte. Die Auguren lächelten und gaben sich zufrieden. Nur Herr Scheidemann erklärte, er könne nach den Ausführungen des Reichskanzlers, nach denen sich in unserer Politik nichts geändert habe, nicht verstehen, warum Herr von Kühlmann den Abschied erhalten habe. Aber die Mehrheitsparteien, einschließlich der Mehrheitssozialisten, wollten keine offene Krisis. Sie wollten, ebenso wie die Regierung, trotz der Etatsverweigerung seitens der Sozialdemokraten und der Verabschiedung Kühlmanns, die ihnen erwünschte und bequeme Fiktion einer Mehrheitsregierung aufrechterhalten und ließen infolgedessen einen Zustand bestehen, der in sich selbst unmöglich geworden war.


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