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XXIV. Kapitel

Die Stahlkassette / Briefe Johann Orths / Abreise nach Amerika / Sein Schiff verschollen? / Ist Johann Orth wirklich tot? / Was spricht dafür, daß er noch lebt? / Legendenbildung


Von nun an wollen wir Johann von Toscana endgültig Johann Orth nennen. Indessen liegt ein Schleier von Ungewißheit über dieser Namensänderung wie über den weiteren Abenteuern und Schicksalen des Erzherzogs gebreitet. Recht augenfällig, weil es ihm gerade so gefiel, nahm er den bürgerlichen Namen an und schüttelte den Staub Österreichs von seinen Füßen. Doch fehlt es nicht an Stimmen, die behaupten, daß er seines Ranges entkleidet worden wäre, wenn er ihn nicht selber von sich abgetan hätte, und daß er nur deshalb freiwillig in die Verbannung ging, weil der Kaiser gedroht hatte, ihn in die Verbannung zu schicken.

Prinzessin Louises Erzählung nützt uns nicht viel. Sie wußte nur, was ihr Onkel ihr mitgeteilt hatte, und dies war offenbar sehr wenig. Es läßt sich kein vernünftiger Grund dagegen anführen, also mag man ihren Bericht von der Scene in Franz Josephs Arbeitszimmer füglich Glauben schenken; das ist aber auch alles. Auch gewinnt man nicht besonders viel Aufklärung aus dem Bericht der Gräfin Larisch über das Komplott zur Usurpierung des ungarischen Thrones, wenn man nur ihre Fassung der Geschichte in Betracht zieht. Denn, angenommen, daß alle Beweise für das Komplott in der geheimnisvollen Stahlkassette enthalten waren, so hätte ja Franz Joseph nichts davon gewußt, und Johann Orth hätte nichts mehr zu befürchten brauchen, nachdem die Stahlkassette einmal glücklich in seinen Händen war. Gräfin Larisch gibt uns Kenntnis von dem Streit, der zwischen den beiden Erzherzogen bestand. Nach ihr zu schließen, war es ein Streit zwischen Verschwörern, von denen der eine vorwärts drängte, während der andere, darob erschreckt, zurückzudämmen sucht. Und obgleich man aus einer Seite ihres Buches entnimmt, daß das Verschwörungsgeheimnis in der stählernen Kassette verschlossen war, so liest man hinwiederum auf einer anderen Seite, daß die Minister Wind davon bekommen hatten. Diese Tatsache geht aus ihrem Gespräch mit Graf Julius Andrassy hervor.

»Graf Andrassy (so schreibt sie) sagte mir ganz deutlich, daß etwas viel Wichtigeres als ein Liebesdrama an der Tragödie schuld sei. Der Erzherzog Johann erhärtete diese Andeutung, und die Geschichte der Stahlkassette nimmt mir daran jeden Zweifel.«

Graf Andrassy wußte zweifellos etwas, aber er geruhte nicht, Gräfin Larisch zu sagen, wieviel er wußte. Was ihm selber bekannt war, blieb vermutlich auch dem Kaiser kein Geheimnis, und dies ihr gemeinsames Wissen war wohl derart, daß es sie dazu bestimmte, Johann Orth in die Verbannung, wenn auch nicht öffentlich hinauszuweisen, so doch hinauszudrohen. Dennoch, obwohl viel für diese Vermutung spricht, so fehlen doch alle Beweise, die völlige Gewißheit gäben.

Ebenso ist nicht mit Bestimmtheit festzustellen, ob die angebliche Ehe zwischen Johann Orth und Milly Stübel wirklich bestanden hat. Die allgemeine Ansicht geht dahin, daß eine Trauung in London stattgefunden hat, doch ist der Nachweis aus den Matrikeln noch von niemand erbracht worden, obwohl sich schon mancher die größte Mühe darum gegeben hat. Vermutlich ist irgendwo irgendwelche Zeremonie erfolgt, die einer gesetzlichen Gültigkeit entbehrte, aber den Beteiligten selber pour acquit de conscience genügte. Zu Tatsachen gelangt man erst wieder, wenn man auf Johann Orths Abfahrt nach der Neuen Welt zu sprechen kommt, welche er mit seinem eigenen Schiff, Sainte Marguerite, am 26. März 1890 antrat. Vorher hatte er noch auf der Durchreise in der Schweiz die letzten Mitteilungen mit dem Kaiser ausgetauscht. Wir erhalten Kenntnis davon durch einen Bericht, den Marschall Czanadez, damals Attaché an der kaiserlichen Militärkanzlei, im Berliner Tageblatt veröffentlichte:

»Johann Orth«, so schrieb Marschall Czanadez, »hatte kaum Österreich verlassen und sich in die Schweiz begeben, als ich vom Kaiser Auftrag erhielt, ihm nachzureisen, um ihm einen Brief zu übergeben und ihn zur Rückkehr zu bestimmen. Ich erfüllte meine Mission, vermochte jedoch nicht, den Erzherzog von seinem Vorhaben abzubringen. Er sagte mir, daß er von seinen Privatmitteln seinen Neigungen entsprechend zu leben gedenke. Er hätte ein sehr vorteilhaft angelegtes Kapital von 70 000 Gulden. Als ich sah, daß er nicht geneigt war, auf meine Vorschläge einzugehen, zog ich Franz Josephs Brief heraus und händigte ihm denselben ein. Er überflog ihn mit den Augen und erblaßte. Vor Erregung zitternd, gab er mir den Brief zurück, indem er auf eine Stelle deutete, laut welcher der Kaiser seine Verzichtleistung auf den Erzherzogsrang annahm, ihm jedoch verbot, je wieder Österreich-Ungarn zu betreten. Meine Mission war zu Ende. So kehrte ich nach Wien zurück und erstattete dem Kaiser Bericht über ihren Verlauf. Ich informierte ihn über alle Einzelheiten meiner Unterredung mit dem Erzherzog, ohne daß der Kaiser irgendeine Äußerung dazu tat.«

Dies klingt ziemlich verwirrt. Der Überbringer eines Briefes, in dem Johann Orth die Rückkehr nach Österreich verboten wird, sollte zugleich den Auftrag gehabt haben, ihn zu eben dieser Rückkehr zu überreden? Da stimmt nicht alles. Erwiesen ist nur, daß überhaupt Unterhandlungen gepflogen wurden, nachdem Johann Orth die Grenze überschritten hatte, und wir müssen zusehen, wie wir mit dieser ungenauen Information zurechtkommen, was aus ihr im Verein mit Johann Orths Abschiedsbriefen an seine Freunde herauszuholen ist. In einem vom 8. Dezember 1889 datierten Brief an Herrn Heinrich protestiert er gegen die Erfindungen, die seinem Verhalten unterschoben worden waren:

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort (schreibt er), daß meine Beziehungen zu unserem erhabenen und gütigen Monarchen keine Veränderung erlitten haben. Die Unmöglichkeit meines Wiedereintrittes in das Heer darf ebensowenig wie mein Entschluß ihm zur Last gelegt werden …«

»… Franz Josephs Verhalten in der Angelegenheit war dasjenige eines großmütigen, gerechten und edlen Monarchen. Ich habe durch Feldmarschall Czanadez von der Militärkanzlei ein Schreiben erhalten, worin meinem Ansuchen stattgegeben wird; aber dieser Brief verbietet mir die Rückkehr in mein Vaterland ohne besondere Genehmigung. So hart ich diese Bedingung empfinde, so kann ich sie dennoch nicht als einen Akt außerordentlicher und übertriebener Strenge beurteilen. Keine Dynastie kann einem ihrer Glieder gestatten, im eigenen Land ein bürgerliches Leben zu führen, ohne daß der Kaiser damit einverstanden ist. Was mich wirklich in Unruhe und Kümmernis versetzte, war der mir vom Minister des kaiserlichen Haushaltes übermittelte Auftrag, mich in der Schweiz naturalisieren zu lassen. Einerseits hätte ich gern dem Kaiser meine Dankbarkeit und Liebe bezeigt, dadurch, daß ich seinen Wünschen gemäß handelte; andererseits wäre ich auch gerne noch weiterhin sein Untertan geblieben, einmal aus Verehrung für seine erhabene Person, und dann, weil ich den leidenschaftlichen Wunsch hege, auch in Zukunft noch ein Bürger meines geliebten Vaterlandes zu sein. Ich appellierte an den Kaiser und bin nun seit einem ganzen Monat ohne Antwort, ob ich ein Österreicher bleiben darf oder nicht.«

Dieser Brief ist augenscheinlich zur Veröffentlichung abgefaßt.

In einem anderen Brief schreibt er am Vorabend seiner Abreise:

»Heute sage ich Europa Lebewohl – dem Teil des Erdballs, welcher die ersten Jahre meines Lebens gesehen hat. Und nun beginne ich im Schatten meiner alten Flagge, meinen Plan einer Reise in die Neue Welt zu verwirklichen. Wir werden die goldene Themse stromabwärts fahren und in wenigen Stunden werden wir unsere Segel inmitten von Regen und Nebel entfalten.«

Der letzte Brief ist nach der Ankunft in Südamerika geschrieben:

»Nun, da ich fern von Wien bin, finde ich alles friedlich. Meine Treue zu meinem Vaterland kann durch nichts erschüttert werden. Über die weiten Wasser hinweg sende ich ihm meinen Gruß!«

Das ist seine letzte Geste und sie kündet uns nicht viel mehr als die Tatsache, daß Johann Orth ein echter Habsburger war, der nicht anders konnte, als sich in Positur zu setzen.

Was aber ist aus ihm geworden?

Bestimmte Tatsachen sind nur wenige bekannt. Die Sainte Marguerite stach freilich nicht unter der Führung von Johann Orth am 26. März 1890 in See, sondern unter der Führung von Kapitän Sodich. Sie erreichte La Plata, wo sie die Mannschaft wechselte. Sodann lief sie unter Johann Orths eigenem Kommando und mit Milly Stübel an Bord zu einer neuen Fahrt nach Valparaiso aus. Furchtbare Stürme tobten um Cap Horn, während die Sainte Marguerite dasselbe umschiffte, und sie ist niemals an dem Ort ihrer Bestimmung angelangt. Die Vermutung, daß das Schiff mit Mann und Maus untergegangen sei, hatte viel Wahrscheinlichkeit für sich; aber dennoch ließ man nicht alle Hoffnung fahren. Möglicherweise war es an einer der Inseln seitlich von Chile gestrandet. Das sind Inseln ohne Häfen und von aller Verbindung mit der übrigen Welt abgeschnitten, und schon manches Schiff hatte dort sein Schicksal erreicht. Warum sollte es nicht bei der Sainte Marguerite der Fall gewesen sein? So argumentierte Don Agostino Arogo, der Bevollmächtigte der argentinischen Republik in Wien, und Franz Joseph sandte demgemäß einen österreichischen Kreuzer aus, um das dortige Küstengebiet abzusuchen. Indessen ohne Erfolg. Der Kreuzer suchte mit allem Fleiß, konnte aber nichts entdecken. Der Ozean bewahrte sein Geheimnis.

Und dann machte sich die Sage ans Werk; sie ließ sich nicht unterdrücken und hielt mit Hartnäckigkeit daran fest, daß Johann Orth noch immer am Leben sei.

Es tauchte die Ansicht auf, die Sainte Marguerite sei gar nicht untergegangen, sondern sie wäre umgetauft worden und in einen anderen Hafen eingelaufen. Dies ist indessen unglaubhaft, wenn nicht überhaupt sachlich unmöglich. Das Schiff hätte kaum irgendwo vor Anker gehen können, ohne inzwischen aufgefunden zu werden, und es läßt sich nicht denken, durch welche Mittel das Schweigen so vieler Überlebender hätte gewahrt werden sollen. Überdies verfährt die See- und Hafenpolizei sehr gründlich, und jeder Matrose ist ein Detektiv, der sich damit brüstet, daß er jedes ihm bekannte Schiff erkennen könne, ohne erst seinen Namen lesen zu brauchen. Die erste Theorie ist deshalb in keiner Weise stichhaltig, und sie wurde auch bald durch eine zweite ersetzt, nach welcher sich Johann Orth gar nicht auf dem untergegangenen Schiff befunden haben soll. Das ist die Theorie, zu welcher Prinzessin Louise neigt:

»Der erste Offizier dieses Schiffes«, schreibt sie, »kam nach Salzburg, speziell um Papa zu besuchen, und er erzählte mir, daß er davon überzeugt sei, Johann Orth befände sich noch am Leben und wäre niemals nach Valparaiso abgeschifft. Er schilderte, wie bei der Abfahrt die alte Mannschaft zusah, während das Schiff im Abendnebel verschwand, und sagte, daß die Person, die in einen grauen Mantel gehüllt und bis über die Ohren vermummt auf der Schiffsbrücke stand, nicht Johann Orth selber gewesen wäre, sondern jemand anderes, der seine Rolle spielte. Die fragliche Mannschaft kehrte nach Triest zurück und alle glaubten wie ein Mann dem, was sie mit ihren eigenen Augen in La Plata gesehen hatten, und wiesen jenes Gerücht zurück, daß ihr Kapitän auf See ertrunken sei.«

Diese Erzählung bildet den Ausgangspunkt der Sage, und sie erfuhr bald allerhand Zutaten und Ausschmückungen, wie das der natürliche Lauf der Dinge ist. Bald aus dieser, bald aus einer anderen Quelle kam die Nachricht, daß bald dieser, bald ein anderer Reisender Johann Orth getroffen und erkannt hätte. Mit der Zeit häuft sich eine ganze Liste solcher Gerüchte an:

1. Ein Besucher eines spanischen Klosters wollte Johann Orth in der Mönchskutte erkannt haben.

2. Ein französischer Einwanderer in Argentinien, der 1893 nach Frankreich zurückkehrte, behauptete, daß er Johann Orth in Buenos Ayres und hernach aufs neue in Rio getroffen hätte.

3. Ein Bürger von Triest gab vor, Johann Orth im Jahre 1894 in Buenos Ayres begegnet zu sein.

4. Ein Polarforscher erzählte von seinem Zusammentreffen mit Johann Orth mitten in der Region des ewigen Schnees und Eises. Der Fremde wäre zuerst von ihm an seinem Notizbuch erkannt worden, auf welchem sich ein in Gold gemaltes Habsburger Wappen befunden hätte.

5. Ein Chacoforscher entdeckte Johann Orth als Einsiedler in einer Hütte, die er sich 16 Meilen von der nächsten Wohnstätte entfernt nahe der Chilenischen Grenze auf dem umstrittenen Gebiet erbaut hatte. Der Mann, welcher deutsch sprach, nannte sich selber Friedrich Otten, aber der Reisende ließ sich nicht durch diesen fremden Namen täuschen.

Eine andere noch nicht veröffentlichte Geschichte möge hier zur Vervollständigung noch angeführt werden. Ein Herr, der fließend Englisch mit etwas deutschem Akzent sprach, und zwecks Unterhandlung mit Verlegern nach England gekommen schien, hatte sich mit Mr. Eveleigh Nash (dem Verleger der englischen Ausgabe dieses Buches) in Verbindung gesetzt. Einige Andeutungen veranlaßten Mr. Nash zu der Bemerkung: »Dann müssen Sie der Erzherzog Johann von Toscana sein,« worauf der Fremde erwiderte: »Ja, der bin ich.« Und weiterhin äußerte er: »Ich kann meine Biographie nicht unter meinem eigenen Namen herausgeben, aber wenn Sie Reminiszenzen an das Haus Habsburg wünschen, so kann ich Sie reichlich damit versehen.« Die Unterhandlung führte an jenem Tage zu keinem weiteren Resultat, aber Nachforschungen ergaben, daß derselbe Reisende in derselben Absicht vorher in Paris erschienen war, und dort hatte man seiner Personalität schärfer nachgespürt. Prinzessin Luise von Sachsen-Koburg, welche damals in Paris weilte und Johann von Toscana sehr wohl gekannt hatte, willigte ein, ohne Vorwissen des Fremden in einem Restaurant mit ihm zusammenzutreffen. Dies geschah, aber weder von der einen noch von der anderen Seite aus erfolgte ein Erkennen. »Dieser Mann ist so wenig Johann von Toscana wie ich selber«, erklärte die Prinzessin, und als kurze Zeit darauf Mr. Nash auf seine mysteriöse Bekanntschaft zurückgreifen wollte, wurde ihm sein Brief als unbestellbar wieder eingehändigt.

So fällt auch jene Identifikation in sich zusammen.

Auch wird nichts durch die Tatsache bewiesen, daß Johann Orths Mutter im Glauben an dieses oder jenes der umlaufenden Gerüchte plötzlich aufhörte, um ihren Sohn Trauer zu tragen. Sie gab große Summen Geldes an einen Betrüger, welcher vorgab, ihr Sohn zu sein. So kann man es allen vernünftigen Zweifeln gegenüber als fest und sicher annehmen, daß Johann Orth wirklich und wahrhaftig tot ist. Die Gerichtshöfe bekannten sich denn auch kürzlich zu dieser Ansicht, indem sie zugunsten seiner Erben die Todesannahme gesetzlich bekräftigten.

Sein Tod ist die zweite der großen Tragödien in Franz Josephs Leben. Die Ermordung der Kaiserin war vom Schicksal bestimmt, als die nächste in der Reihenfolge aufzutreten.

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