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XX. Kapitel

Kronprinz Rudolf / Brautschau / Was Stephanie schrieb / Die Familie Vetsera / Gräfin Larisch' Vermittlungsrolle / Die vier Zeichen / In der Hofburg


Seit fünf Jahrhunderten hat kein habsburgischer Herrscher mehr den Namen Rudolf geführt. Ein eigentümliches Mißgeschick schien sich an diesen Namen zu knüpfen und hatte wahrscheinlich eine abergläubische Furcht davor erzeugt. Rudolf II. hatte im Wahnsinn geendet. Rudolf III. und Rudolf IV. waren jung gestorben, der eine 27, der andere 26 Jahre alt. Aber die Leute hatten, wie man mit gutem Grund annehmen konnte, aufgehört, an solche ominösen Dinge zu denken, und Kronprinz Rudolf erregte große Hoffnungen sowohl als große Zuneigung.

Daß er in der Tat unter dem drohenden Familienschicksal stand, ist freilich kaum zu bezweifeln, wenn auch bei ihm die Degenerationsmerkmale nicht auffällig hervortraten und im ganzen unbemerkt blieben. Er muß unter die »glänzenden Habsburger« eingereiht werden, zum mindesten unter jene, welche literarische und künstlerische Neigungen besaßen und sie mit Stolz pflegten. Er reiste und schrieb ein Buch über seine Reisen, er gab ein Monumentalwerk über die landschaftlichen Schönheiten Österreichs heraus, er verkehrte in sehr liebenswürdiger Weise mit Künstlern und Gelehrten. Er zählte zu den Freunden des verstorbenen Königs Edward von England, welcher über ihn die Äußerung tat, er wäre ein guter Deutscher, »jedenfalls aber im antipreußischen Sinn«; und er zeigte Charakter in einem Wortgefecht mit dem deutschen Kaiser, welcher verächtlich von seiner Vorliebe für die schönen Künste sprach. »Solcher Unsinn«, soll der Kaiser gesagt haben, »ist eines Soldaten und Kronprinzen unwürdig.«

»Es gibt nur eines«, erwiderte angeblich der Kronprinz, »was eines Kronprinzen unwürdig ist, das ist, bei seines Vaters Lebzeiten nach dem Thron zu streben.«

Er konnte leutselig sein, aber ebensosehr war er imstande, hochmütig zu erscheinen. Gleich vielen Habsburgern liebte er es sich herabzulassen, konnte es aber nicht vertragen, selber herablassend behandelt zu werden. Dieser Zug trat schon bei ihm hervor, als er ein Kind war. Als einstmals Arbeiter mit Reparaturen im Schloß beschäftigt waren, gesellte er sich freundlich plaudernd zu ihnen; in dem Augenblick jedoch, wo der eine sich anmaßte, ihn mit gönnerhaftem Ton zu fragen: »Nun, wie heißt du denn, mein Kleiner?« da reckte er sich in die Höhe: »Papa und Mama heißen mich Rudolf«, antwortete er, »die andern Leute sagen Kaiserliche Hoheit!« Jedenfalls genoß er große Popularität bei denen, die ihn nicht nur oberflächlich kannten. Er war »unser Rudi« genau so, wie der deutsche Kaiser Friedrich »unser Fritz«.

Er war ein verwöhntes Kind und neigte frühzeitig zu Zynismus. Doch war dies bei seiner Erziehung kein Wunder. Er sah und hörte von frühester Jugend an zu viel, als daß er hätte harmlos bleiben können. Unter anderen Dingen sah er den »Zwischenträger« und blieb nicht im unklaren darüber, was er zu bedeuten hatte. Eheliches Glück stand nicht als leuchtendes Beispiel eines erreichbaren Ideals vor seinen Kinderaugen. Er hielt die Frauen nicht hoch, da so viele sich vor ihm erniedrigten. Gräfin Larisch erzählt, wie er sich über »liebeskranke Mädel« lustig machte und sich mit seinen Eroberungen brüstete: »die dumme Pute glaubt, ich bin in sie vernarrt. Und daher kann ich mit ihr machen, was ich will.«

Als Rudolf auf die Suche nach einer Gemahlin ging, hatte er längst alle Illusionen verloren. Es wird erzählt, daß er in Begleitung einer »Freundin« seine Freiersfahrt machte, und von seiner künftigen Schwiegermutter mit ihr unter sehr kompromittierenden Umständen betroffen wurde. Indessen war er eine zu »gute Partie«, als daß man aus einem solchen Zwischenfall viel Wesens gemacht hätte. Schließlich führten Rudolf seine Wanderungen nach Brüssel, wo er sich, um mit Gräfin Larisch zu reden, »müde der Wahl unter all den Übeln, entschloß, das kleinste von ihnen zu nehmen, das ihm in der Prinzessin Stephanie von Belgien entgegentrat«. Und Stephanie sagte oder soll gesagt haben, »er bat so lieb um meine Hand, daß ich sie ihm nicht wohl verweigern konnte«.

Und dies, trotzdem sie um seine geheime Reisebegleiterin wußte.

Gräfin Marie Larisch versichert, daß Stephanie simpel und ohne Stil gewesen sei. Sie spricht von ihren roten Armen, ihrer kläglichen Gestalt und unkleidsamen Frisur. Das zeitgenössische Brüssel urteilt jedoch anders. Dort sah man sie täglich im Park und auf den Straßen, und man erinnert sich ihrer als eines lieben und sehr anziehenden Mädchens, das an ein Dresdener Porzellanfigürchen gemahnte: ein Kind noch in kurzem Rock und hängendem Haar. Sie war noch in den Kinderschuhen, sagt Brüssel, als sie verheiratet wurde, man kleidete sie nur so, als ob sie schon erwachsen wäre. Von heute auf morgen steckte man sie in lange Kleider und zwang ihr Haar in die Frisur einer Dame, weil diese glänzende Heiratsaussicht plötzlich vor ihr auftauchte.

Wahrscheinlich hatte sie noch viel von der Unbeholfenheit eines Schulmädchens an sich, als sie so plötzlich und vorzeitig zur Gesellschaftsreife avancierte. Stephanie mußte den Wienern anfangs etwas »provinzlerisch« vorgekommen sein, und es gab eine Menge Wiener Damen – Palastdamen und andere – die es sich zur Aufgabe machten, alles schlecht an ihr zu finden, um sich darüber zu freuen, daß, weil Rudolf eine solche Frau hatte, »es für ihn unmöglich sei, ein Musterehemann zu werden«.

Er wurde in der Tat auch keiner, und es scheint, daß es in dieser Ehe nicht einmal Sonnenstunden gab, ehe die Wolken sich zusammenzogen. Sogar die dem Kronprinzenpaare bald geschenkte Tochter scheint ein Zankstifter zwischen den Eltern gewesen zu sein. Stephanie, welche mit fast allen Gliedern des Habsburgischen Hauses, außer Franz Joseph, die Neigung teilt, Bekenntnisse zu Papier zu bringen, hat ein Bekenntnis verfaßt und herausgegeben, darin sie über die Erfahrungen in ihrer Ehe spricht. Die wesentlichen Punkte sind diese:

»Zwei junge Leute sehen einander zum erstenmal, kennen sich seit einer Viertelstunde und sprechen das bindende Wort, das nur der Tod zu lösen vermag.«

»Wenn etwas Schönes in dem Gedanken liegt, daß zwei Menschen, die einander lieben und achten, sich vor Gott die Hand zum heiligen Ehebunde reichen, so ist etwas ungemein Abstoßendes in der Vorstellung, daß eine solche Verbindung ohne jede Vorbereitung zustande kommen kann und vom Alter bis zum Grab eine Lüge bleibt.«

»Eine lange, lange schreckliche Nacht ist für mich vorüber und ich sehe einen rosigen Morgenschimmer von Hoffnung an dem umwölkten Himmel, einen Lichtstrahl, welcher mir das Aufgehen einer Sonne der Freude verkündet? Wird die Sonne in vollem Glanz aufgehen? Wird sie mich mit ihren Strahlen wärmen und mir die Tränen von den Wangen trocknen? Komm, meine Sonne, komm, du findest eine arme schmachtende Blume, deren Frische von harten Schicksalsfrösten zerstört worden ist.«

So schrieb Stephanie, nachdem sie durch das Drama in Meyerling frei geworden war und von ihrer Freiheit Gebrauch machen wollte, um in einer Ehe nach ihrer eigenen Wahl ihr Glück zu suchen.

Von all den Frauen, um deren willen Rudolf Stephanie vernachlässigte, kommt für uns hier nur Mary Vetsera in Betracht. Jedermann weiß – und wußte damals –, daß Mary Vetsera mit Rudolf in Meyerling starb, aber in den Berichten und Erzählungen jener Zeit machte man viel unnötiges Getue, um sie zu verschweigen. Sie figurierte darin als Marie V… oder als die »schöne Jüdin« usw. usw., obwohl sie in Wirklichkeit das wohlbekannte Mitglied einer in Wien wohlbekannten Familie war.

Ihre Mutter, die Baronin Vetsera, war eine geborene Baltazzi, und die Baltazzis waren Leute, welche in der Wiener Gesellschaft verkehrten, wenn sie auch nicht dazu gehörten. Ihre Stellung kennzeichnet sich durch die Tatsache, daß sie Einladungen zu dem Ball »beim Hof erhielten, jedoch keine zu dem intimeren und exklusiveren Ball »am Hof«. Sie kamen auf dem Umweg über London von Konstantinopel her und streuten das Geld mit vollen Händen aus. Man findet immer solche Leute sogar in den exklusivsten Gesellschaften, Leute die man duldet, ohne sie jedoch ganz für voll zu nehmen.

Der Ruf der Baronin Vetsera war nicht der beste, und die Wiener Gesellschaft ging nicht immer glimpflich mit ihr um. Sie besuchte, ihre Veranstaltungen, nannte sie aber hinter ihrem Rücken die Baronin Cardinal. Wer Halévys »M. et Madame Cardinal« und »les petites Cardinal« gelesen hat, wird sich diesen Spitznamen zu deuten wissen. Halévys Madame Cardinal ist die echte mère d'actrice, ein wohlbekannter französischer Typus; eine Frau, welche die Anziehungskraft ihrer Tochter auf reiche Theaterfreunde von rein geschäftsmäßigem Standpunkt aus wertet und ausnützt. Gräfin Larisch, die jedermanns Vertraute war, schildert die Baronin Vetsera als eine Frau solcher Art, wenn auch natürlich auf höheren Ranggefilden. Sie war nicht reich, sondern lebte von ihrem Kapital und war darauf angewiesen, daß ihre Töchter gute Partien machten. Oder, wenn das nicht glückte:

»Willst du«, so fragte sie Gräfin Marie, »eine sehr delikate Mission für mich übernehmen? Ich will mit dem Prinzen ganz offen über Mary sprechen. Du kannst ihm andeuten, daß sich alles arrangieren ließe, wenn er wirklich verzweifelt in Mary verliebt ist … – Jedenfalls weigere ich mich nicht, die Angelegenheit mit dem Kronprinzen zu verhandeln.«

Hier haben wir den Punkt auf das i, wenigstens insoweit Marys Mutter in Betracht kommt. Mary war für sie ein Handelsartikel, und Gräfin Larisch war für sie, wie für die Kaiserin, der vom Himmel gesandte Vermittler. Mary hatte Aussicht, oder glaubte wenigstens sie zu haben, den Prinzen Miguel von Braganza zu heiraten, aber Rudolf war ihr lieber. Sie warf sich Rudolf an den Hals und hing an ihm wie eine Klette. Rudolf selbst erklärte, daß sie nicht wie die anderen wäre – sie ließe sich nicht abschütteln.

Sie hatte damit begonnen, daß sie an Rudolf schrieb und um eine Zusammenkunft bat, und er ließ sich in diese Abenteuer ein, wie er es bei so vielen vorhergehenden getan hatte, leichten Herzens, ohne zu ahnen, wohin es ihn führen würde. Sie war so weit gegangen, die Kronprinzessin zu insultieren, indem sie ihr bei einem Ballfest starr in das Gesicht sah, ohne indessen ihre Gegenwart sonstwie gebührend zu beachten. Die Baronin Vetsera, rot vor Zorn, denn ihre eigene gesellschaftliche Stellung war durch Marys Benehmen gefährdet, hatte sie eilends nach Hause gebracht und in ihr Zimmer eingeschlossen, woraufhin Rudolf zu Gräfin Larisch ging, um einen Gefallen von ihr zu fordern:

»Hör' zu, ich verlange, daß du Mary in die Hofburg bringst.«

»Ich versichere dich, ich muß Mary sehen. Übrigens bin ich selbst in Gefahr.«

»Ich muß Mary allein sprechen, vielleicht kann ich dadurch der Gefahr entrinnen, die mir droht.«

»Hör' zu,« sagte er, »wenn ich dem Kaiser beichten wollte, würde ich mein eigenes Todesurteil unterschreiben

Mein Herz stockte – fährt Gräfin Larisch fort – bei dieser grausigen Enthüllung. Ich konnte keine Worte finden …

Dann übergab Rudolf der Gräfin eine Stahlkassette, die er ihrer Obhut anvertraute, indem er sagte:

»Sie darf unter keinen Umständen in meinem Besitz gefunden werden. Jeden Augenblick kann der Kaiser eine Durchsuchung meines Eigentums befehlen.«

Und weiter:

»Wie lange soll ich dieses schreckliche Ding aufbewahren?«

»Bis ich sie zurückfordere oder bis jemand anders sie zurückverlangt. Für den Fall, daß es dazu kommen sollte«, sagte er ernst, »muß ich dir Verhaltungsmaßregeln geben. Nur ein Mensch kennt das Geheimnis dieser Kassette, und er allein hat außer mir das Recht, sie zurückzuverlangen.«

»Wer ist das?«

»Sein Name tut nichts zur Sache. Du kannst sie der Person übergeben, die dir vier Zeichen nennt. Schreibe sie dir auf und wiederhole sie.« Und langsam sprach der Kronprinz die Buchstaben: »R. I. O. U.«

Eine Geschichte so geheimnisvoll und unverständlich wie nur je ein Komplott in einem Melodrama oder einer komischen Oper! Es mag hier indessen erwähnt werden, daß Gräfin Larisch vor der Veröffentlichung ihres Buches darauf aufmerksam gemacht wurde, daß ihr niemand glauben würde, weil diese Geschichte zu unwahrscheinlich sei. Aber wahr oder nicht: in was für einem Zusammenhang stand dies für Rudolf zu der Notwendigkeit eines geheimen Gesprächs mit Mary in der Hofburg?

Darauf bleibt Gräfin Larisch die Antwort schuldig, und darin, daß sie die Notwendigkeit einer Aufklärung gar nicht bemerkt, liegt vielleicht ein indirekter Beweis ihrer bona fides. Dem »Erfinder« wäre es nicht schwer gefallen, das fehlende Glied in der Kette der Beweise zu schmieden. Angenommen, daß sich Rudolf in ein politisches Komplott eingelassen hatte – sei es, um König von Ungarn zu werden, oder in einer anderen Absicht –, so könnte es sich so verhalten haben, daß die geheimnisvolle Kassette noch nicht alle kompromittierenden Belege enthielt. Irgendein weiterer Beweis – ein Brief oder sonst ein Schriftstück – mußte sich in Mary Vetseras Besitz befinden, das sie als ein Erpressungsmittel gegen ihn ausspielte, vielleicht um ihn dazu zu bringen, sich von Stephanie scheiden zu lassen und sie zu heiraten. Oder doch mochte er sie in dem Verdacht haben, daß sie so handeln könnte, und war darum bestrebt, dieses Papier wieder zurückzuerlangen. Einzig und allein bei dieser Annahme wird es klar, was Marys Besuch in der Hofburg mit Rudolfs politischen Angelegenheiten zu tun hatte, und was diesen Besuch zu einer so dringlichen Notwendigkeit stempelte.

Jedenfalls bestand Rudolf mit aller Dringlichkeit darauf, und Gräfin Larisch gab schließlich nach. Gräfin Larisch fand einen Vorwand, brachte Mary in die Hofburg und ließ sie dort. »Ich will Mary zwei Tage bei mir behalten –« sagte Rudolf, »um die Baronin mürbe zu machen«.

Er äußerte auch in Anspielung auf die politischen Angelegenheiten: »Vieles kann in zwei Tagen geschehen, und ich will Mary bei mir haben« – aus welchem Grunde indessen, das zu erraten, bleibt uns selber überlassen.

So wurde Mary nach Meyerling gebracht, von wo aus dann der Telegraph die erste Nachricht von der mysteriösen Tragödie in die Welt sandte.

*


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