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II. Kapitel

Inzucht der Habsburger / Degeneration / Skandale / Tragödien / Frau Schratt


Das Haus Habsburg liefert die »abschreckenden Beispiele« in zwei jüngst erschienenen Werken: »Die Erblichkeit der Merkmale der Entartung« von Dr. Galippe und »Der Ursprung des habsburgischen Familientypus« von Dr. Oswald Rubbrecht. Beide Bücher nehmen ihre Beweise nicht nur aus geschichtlichen Tatsachen, sondern auch aus dem Vergleichen von Bildnissen; ihre Verfasser gelangen – wenn auch in einigen Punkten voneinander abweichend – zu denselben Schlußfolgerungen. Beide bezeichnen die Habsburger als »degeneriert« und beide führen die Entartung auf die gleiche Ursache zurück, nämlich auf die »Inzucht«, auf die Wirkung einer langen Reihe von Ehen zwischen verhältnismäßig nahen Verwandten.

Man hört von diesem physiologischen Gesetz in der Regel, wenn eine Ehe zwischen Geschwisterkindern in Frage steht. Als Folgen einer solchen Ehe zeigen sich typische Eigentümlichkeiten und Schwächen, körperlich wie seelisch. Die übertragenen Anomalien, insbesondere die geistigen, können eine Generation überspringen, oder ein einzelnes Individuum frei lassen, allein sie lauern immer in den Untergründen und können jeden Augenblick wieder zum Vorschein kommen.

Dies ist nach Dr. Rubbrecht und Galippe bei den Habsburgern der Fall gewesen und ist es auch noch heute. Jeder kennt das sog. »Habsburger Kinn«. Dr. Rubbrecht verfolgt es bis zu seinem mittelalterlichen Ursprung zurück und gibt auf Grund einer Reihe von Familienbildern in sorgfältig wissenschaftlicher Art folgende Schilderung des »Habsburger Gesichts«:

»Außer dem herabhängenden Unterkiefer und der großen Unterlippe weist die Habsburger Physiognomie folgende bezeichnende Eigentümlichkeiten auf: Außerordentliche Länge und mitunter auch Größe der Nase, mehr oder weniger hervortretende Übertreibung und bisweilen eine beträchtlich hohe Stirn. Fast als ob der Kopf durch seitlichen Druck zusammengequetscht, senkrecht verlängert wurde, und wieder ausgedehnt, gleichsam nach oben und unten gezogen worden wäre. Nach Dr. Galippe ist die seitliche Abflachung des Schädels das wesentliche Kennzeichen, aus welchem alle anderen Anomalien hervorgehen.«

Das ist's, was Dr. Rubbrecht aus den Bildnissen herausholt. Er verallgemeinert vom Standpunkt des Physiognomen aus, ohne auf die geistigen und moralischen Folgen einzugehen oder sich eine Prophezeiung anzumaßen. Dr. Galippe spricht sich in dieser Hinsicht deutlicher aus:

»Die Habsburger«, schreibt er, »weisen gewisse, auf Inzucht zurückzuführende Merkmale der Entartung auf, die – teils körperlicher teils seelischer Natur – teilweise oder in vollem Maße auf die mit ihnen durch Ehen verbundenen Familien übertragen werden. So haben sie einen neuen Menschentypus geschaffen, auf demselben Weg, durch den die Pferde- und Hundezüchter eine neue Unterart herausbilden.«

Alte Probleme in neuem Licht! Die jüngste unter den Wissenschaften hat hier einen Gedanken angeregt, der Tür und Tor öffnet für Erwägungen von großer Tragweite und unabweislicher Wichtigkeit auch in bezug auf noch manch anderes Königshaus als die Habsburger. Sie dürfen sich ihre Ehegatten nur innerhalb des Zauberkreises suchen: Könige müssen Königinnen, Prinzen müssen Prinzessinnen heiraten, und die Auserlesenheit der Herrschergeschlechter muß durch stets erneute Verwandtschaftsehen aufrecht erhalten bleiben.

Diese Ansicht ist in königlichen wie in diplomatischen und politischen Kreisen die herrschende geblieben, obwohl die Wissenschaft schon längst die unseligen Folgen eines solchen Handelns festgestellt hat. Es ist anzunehmen, daß die Beweisgründe auch zu den Ohren derjenigen gedrungen sind, die sie am nächsten angehen; aber sie prallten wohl an dem mehr oder weniger uneingestandenen Empfinden ab, daß Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, so gut und groß und herrlich wären, daß die Naturgesetze ihre Macht über sie verloren hätten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Wissenschaft zeigt, daß Könige die Gesetze der Natur nicht umstoßen können, selbst nicht in den Ländern, in denen es ihnen gestattet ist, sich außerhalb der Staatsgesetze zu stellen, und daß Abgeschlossenheit nur um den Preis der Entartung möglich ist. Gesundes, natürliches Empfinden war es, was König Kophetua handeln ließ, als ihm der Sage nach die junge, barfüßige Bettlerin entgegentrat:

Als ob in rabenschwarzer Nacht
Mit einem Mal der Vollmond schiene,
So stand sie da trotz ihrer armen Tracht.
Der Eine pries die unschuldsvolle Miene,
Dem Andern schien sie einem Engel gleich,
Der Dritte rief: »Nicht nur in diesem Reich,
Sie ist das schönste Weib auf Erden.«
»Bei meinem Schwert«, der König schwörend spricht,
»Dies Kind, dem's nur an kaltem Gold gebricht,
Soll Königin an meiner Seite werden!«

Das Beispiel König Kophetuas und die leicht herauszulesende Moral müssen wir im Sinne behalten, wenn wir eine richtige Wertung jener Ereignisse in der jüngsten Geschichte des Hauses Habsburg anstreben, von denen man mit Recht oder Unrecht annimmt, daß sie dem Familienoberhaupt den größten Kummer bereitet haben.

Die Auflehnung kam auf verschiedene Weise zum Ausdruck: Teils in achtbarer und sogar ehrenhafter, teils in mehr oder weniger skandalöser Form. Der eine wirft allen Staatsprunk von sich, um geheimnisvoll auf den Balearen nach seiner eigenen Weise zu leben, ein anderer verschwindet als Kapitän eines Handelsschiffes für alle Zeiten. Es gab ferner Intrigen, die als Tragödien endeten. Es gab morganatische Ehen mit Schauspielerinnen und anderen bei Hofe »unmöglichen« Frauen, und es gibt eine durchgegangene Prinzessin aus dem Hause Habsburg, welche mit einem Kronprinzen nicht in glücklicher Ehe leben konnte und deren Hang nach Abenteuern auch ein Pianist nicht zu befriedigen vermochte.

Bekannt ist, wie das allgemeine Urteil über diese Erscheinungen lautet: Alle Habsburger sind geisteskrank, alle, mit Ausnahme von Franz Joseph – und da ist wieder mal ein Habsburger, der (oder die) sich ebenso überspannt zeigt, wie die anderen, wenn nicht überspannter. Diese Bemerkung geht nicht in die Tiefe, ist aber oft als grobe Schätzung wahr.

Johann Orth, Herr Wölfling, Prinzessin Luise von Toscana, sie alle (und nicht nur sie) haben sonderbare Dinge getan, Dinge, die kaum für eine normale Geistesverfassung sprechen. Es ist hier nicht der Platz ausführlich darüber zu sprechen, aber es ist lehrreich, in diesem Zusammenhang auf die auffallende Häufigkeit ihres Auftretens hinzuweisen. Es handelt sich hier nicht um ein einzelnes »Skelett im Hause«, wie es ja wohl in jeder Familiengeschichte zu finden ist, sondern der Eindruck, den man beim Studium der jüngsten Annalen des Hauses Habsburg gewinnt, ist der, daß es in allen Ecken und Winkeln spukt und einzig und allein der Kaiser als gesunder und starker Mann durch sein trübsalschweres Leben hindurchschreitet, nicht unangefochten von dem unheimlichen Geisterrumoren, aber sichtlich kaum in seiner äußeren würdigen Haltung beirrt – ein Mann, auf den man in etwas erweiterter Bedeutung jene alten und bekannten Worte anwenden möchte:

Si fractus illabatur orbis,
Impavidum ferient ruinae.

Doch noch einen anderen Standpunkt gibt es in dieser Frage. Auf Grund der wissenschaftlichen Schlußfolgerungen kann man vielleicht die Überspanntheiten der sich in dieser Weise hervortuenden Habsburger als die besten Beweise gesunder Geisteskräfte ansehen, die sie zu geben imstande sind; nämlich als instinktiv, verzweifelte und meist nicht klug bedachte Anstrengungen, um dem drohenden Verhängnis zu entrinnen. Entartung ist ein zu hoher Preis für hochmütige Absonderung, und es ist besser, noch in letzter Stunde, wenn auch vom Gekreisch des Skandals verfolgt, aus der Stadt des Verderbens zu entfliehen, als darin zu verbleiben und dem sicheren Untergang entgegenzutreiben.

So jedenfalls bewerten Soziologen und Forscher die Habsburger Skandale – oder doch einen guten Teil derselben. Man braucht deshalb nicht anzunehmen, daß höhere Beweggründe die betreffenden Persönlichkeiten bewußt handeln ließen; sie waren vielmehr einfach von dem Drange beherrscht, eine oft nur flüchtige Neigung zu befriedigen. Die ganzen Verhältnisse ihrer Erziehung sowie die ihnen von Kindheit an eingeprägten Begriffe von Pflicht und Schicklichkeit stellen erstere Anschauung als unwahrscheinlich hin. Aber der natürliche Grundgedanke, der sich als treibende Kraft hinter den Beweggründen verbirgt, ist als ein durchaus gesunder anzuerkennen. Vom Standpunkt des Einzelmenschen aus betrachtet gleicht es der Handlungsweise König Kophetuas, vom Standpunkt der Rasse aus ist es der Selbsterhaltungstrieb.

Es ist die – oder eine der Tragödien – von Franz Josephs Leben, daß seine Regierung mit den Jahren des Kampfes der Habsburger um ihr Dasein zusammenfiel. Auserwählt zu seiner erhabenen Stellung als der normalste und gesündeste seines Geschlechtes – obgleich er selbst Sohn und Neffe von Epileptikern war – hat er von oben herab auf die aufregenden und wechselvollen Ereignisse des Kampfes geblickt. Es ist schwer zu sagen, welche Anschauung die größere Tragik enthält: Die Annahme, daß er das Wesen dieses Schauspiels begriffen hat, oder jene, daß dies nicht der Fall ist. In dem ersteren Fall enthielte das Drama mehr Pathos, in letzterem mehr Ironie. Es läßt sich jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie der Kaiser in seinem Innersten zu dieser Sache steht.

Aus Mangel an direkten Beweisen läßt sich annehmen, daß er zum Teil verstanden hat. Diese Folgerung ist möglich im Hinblick sowohl auf die gelegentliche Nachsicht wie auf die Strenge des Kaisers für diejenigen Familienmitglieder, die sich gegen die geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetze des Hauses Habsburg auflehnten. Vielleicht hat auch er die Neigungen gespürt, die der Rasse scheinbar zu eigen geworden sind, aber er hatte nicht nur außerordentliche Gründe, sondern auch außerordentliche Kräfte, um sie zu unterdrücken. Es ist bekannt, daß er Frauenfreundschaft außerhalb des Zauberkreises königlicher Familien gesucht und gefunden hat, und die Dame, in deren Gesellschaft er während der letzten Jahre seines langen Lebens die liebste Erholung von den Staatssorgen zu finden scheint, ist keine Erzherzogin, sondern war einstmals Schauspielerin. Die Tatsache hat wohl sicher dazu beigetragen, ihm das Verständnis zu verleihen.

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