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Buchschmuck

VI. Kapitel.
In den Bergen

Ein reizvoller Julimorgen! Ausgegossen über die silbergrauen Felszacken der Dolomiten vibrierender Lichtglanz, ein Sonnenfluttag. Ethel atmete glücklich in der Bergluft, die um diese Morgenstunde – es schlug eben Sieben – von köstlicher Rauheit war. Sie befand sich nur in Gesellschaft Woppls.

Es war fast um dieselbe Stunde, für die Andersen das Rendez-vous in Landro verabredet. Ethel hatte keine Ahnung, daß er kam, Woppl hatte der Gesellschaft diese Überraschung aufgespart. Die Firma Zisch & Woppl war mit sich einig geworden, daß es für ihre Automatenfabrik von größtem Wert wäre, das Geheimnis im Sarkophag des schwedischen Ingenieurs anzukaufen. Wenn der Android gelungen war, so warf es eine Bombenreklame, ein Millionengeschäft! Sie standen eigentlich vor einer Krisis. Ehrsam als Betriebsdirektor wußte nichts davon. Sie hatten ihm gekündigt und hüteten sich wohl, ihn darin einzuweihen, daß ihr Hauptkommanditeur von Holthoff gesonnen war, seine Kapitalien zurückzuziehen; ein unruhiges Börsentemperament, war diesem seine Rolle als stiller Gesellschafter mit zu wenig Sensationen durchwirkt. Der Android konnte sie retten. Es war, wie der dürre, langstielige, sanguinische Zisch mit sprühenden Augen bemerkte, das Tam-Tam, die Erregung, das Risiko, das dieses Krokodil Holthoff aufstacheln konnte. Nur sind Erfinder eisenköpfig. Sie sind hart wie Kokosnüsse; man muß sie mit der Hacke spalten, um die Milch zu bekommen. Sie wollten ihm den Androiden »abknöpfen«, für »ein Butterbrot«. Woppl, der in der Fabrik als ernster Arbeiter ganz unbrauchbar war, erwies sich dafür desto tüchtiger als Diplomat. »Laß mich nur machen! Für ein Butterbrot! Du wirst staunen!« Woppl hatte nämlich seine Idee. »Ehe braucht Brot; Andersen und Ethel!«

... Auf der Frühstückterasse in Landro saß bereits eine kleine Gesellschaft von Sommergästen. Es waren vorwiegend Österreicher, mindestens 40 bis 50 Seelen, gerade mit Kaisersemmeln und Honig beschäftigt. Die anderen Mitglieder der Familie Ehrsam waren um diese Zeit noch nicht sichtbar. Woppl und die Familie Ehrsam hatten sich gegenseitig diesen Sommeraufenthalt empfohlen und waren vom Resultate sehr befriedigt. Ethel und Woppl waren beide die frühesten, wollten die schönste Stunde des Tages genießen. Rings von Bergen und Waldwildnis eingeschlossen, ergötzten sie sich am Morgenlicht, das über den Gletscher streift und Firn und Fels in Flammenhauch taucht. Wie Zacken und Zinken aufglühen gegen die zartblaue Ätherwölbung, feuervoll durchleuchtet, rosige Riesenkrystalle!

Die Herrschaften waren trotz des Fröstelns sehr glücklich, in der wunderbaren Natur, um 1400 Meter, d. i. ein Drittel »Jungfrau« dem Himmel näher, gemütlich Kaffee zu trinken, sorglos plaudernd, den Blick auf ewigen Schnee gerichtet. Felsarme, Bergfäuste drohend erhoben, schienen ihnen stumme, steinerne Proteste der Erde gegen die Vergänglichkeit, die in grauen Schutthalden und Geröllströmen wild zu Tal raste. Es schritten Fichten und Lärchen aufrecht die Abhänge herab, während Legföhren sich am Boden wanden und bogen, um bergauf zu kriechen, den grauen ausgestorbenen Felsöden zu; sie sahen dabei aus wie Kron- und Armleuchter, an denen sehnsüchtiger Blütentrieb in tausend smaragdenen Lebensflammen züngelte. Die Gäste standen alle unter dem Eindruck von etwas Seltenem, und die Umstände, Schwierigkeiten und besonders Geldausgaben, die sie gehabt, um sich von Hause loszureißen, bildeten gewissermaßen die kostbare Fassung zu diesem Edelstein von Genuß. Jeder dachte sich besonders glücklich, daß er hier sein durfte; unsichtbar fern lagen Brotsorgen und Schweiß und Staub und Stank der Großstadt. Ethel besonders empfand es mit jedem Atemzug wie Himmelsgnade.

»Lydia schläft noch? … Sie sind so zerstreut?« sagte Woppl. »Ihre Gedanken sind immer in der Ferne. Sie scheinen niedergedrückt?«

Ethel seufzte und lächelte. In ihr bewirkte die Gebirgsluft eine eigentümliche Rauschstimmung. »Im Gegenteil,« sagte sie, »ich fühle mich seltsam gehoben, dem Himmel und den Sternen des Lebens um ein Unendliches näher! Wie klein erscheint mir der Alltag, wie kleinlich und niedrig alles, was dort in unsichtbaren Fernen liegt, in jener Mietskaserne, die ich mein Heim nenne. Wie kleinlich erscheinen mir alle Sorgen und Zwistigkeiten!«

Ihr war's, als ob sie in diesen Tagen über sich hinaus gewachsen, eine ganz andere geworden wäre, ein unendlich hoher Schwung in ihren Gefühlen, in ihrem Entschlusse eine seltene Tatkraft.

Sonst pflegte er nicht mit Ethel vertraut zu sein. Sie hatte gewöhnlich etwas Scheues in ihrem Wesen, eine Art, niemanden an sich herankommen zu lassen. Es war Selbstbewußtsein und Willen in ihrer mimosenhaften Empfindlichkeit gegen jede Annäherung, in ihrer Abneigung gegen jedes gesellschaftliche Kompliment. Ihre Scheu wirkte nicht wie Schüchternheit, sondern vornehm. In ihrer Ablehnung lag eine graziöse Unliebenswürdigkeit; Woppl nannte sie »das zierliche Noli-me-tangere.« Aber schließlich war doch Woppl ein alter Freund des Hauses und als bekannt »guter Kerl« die einzige Persönlichkeit, der gegenüber sie ein Wort über ihre Gefühle verraten durfte. Sie sagte, sich gleichsam entschuldigend:

»Sie wissen nicht, wie die Hochluft alle Nerven in mir aufstachelt. Ich schäme mich hier sentimental zu sein, hier wo alles so rauh und herrlich ist … Es ist übrigens auch keine Sentimentalität, es ist ein von Lebenssorge schweres Herz.«

»Sie und Lebenssorge?!«

»Ja, spotten Sie nur! Es ist eine vertrackte Zeit, in der wir leben. Den Männern stehen die kühnsten Ziele offen! Nichts ist für sie lächerlich, nichts vernunftwidrig. Wollen sie Tragödien schreiben! – Weltteile erobern! – Hunderttausende abschlachten! – Uns armen Frauen aber wird der Kreis eng gezogen: Ein Besen, ein Kochtopf und das Allerhöchste, eine Wiege! – – Ah, diese köstliche Luft!«

Sie lachten beide und ihre Lungen dehnten sich im Genuß.

»Ein reizender Kerl!« dachte Woppl. »Schade, daß sie nicht mit sich flirten läßt.« Und laut fügte er hinzu: »Ist's nicht auch eine schöne Lebensaufgabe, liebenswürdig und geliebt zu sein!«

»Ja und Lieben! Mit allen Nerven des Leibes, mit allen Tiefen der Seele! Wie wollen Sie aber dies anders erreichen, als indem eine Frau ihr ganzes Denken, ihre Sorgen der Lebensarbeit eines hochstrebenden Mannes widmet! Kennen Sie jenes Mädchen aus der Novelle Turgenjews: Die Tochter eines angesehenen Beamten, die heimlich ihr Elternhaus verläßt, um einem bettelhaften Wundermann zu folgen, dessen kranke Füße sie pflegt, eine Sklavin, und mit dem sie die Dörfer der Armut und die Hütten des Elends durchwandert? …« Ihre Stimme verlor sich.

»In Ihrem Alter muß man leben.«

»Leben ist nichts, sich opfern, das ist Leben!«

»Sie, so zart und gebrechlich! Wie könnten Sie frierend und hungernd das Land durchstreifen?!«

»O, wir Frauen täuschen immer, im Guten wie im Bösen. Die Zartesten übertreffen im Ertragen von Leiden den robustesten Kraftmenschen. Sind es doch die unwägbaren Lichtwellen von Tausendstel Millimeter Größe, die das ungeheure Leben im Weltall bauen. O, wir Frauen …!«

»Wie schön ihr schwarzes Auge leuchtet, voll Herzinnigkeit!« dachte Woppl. »Aber es ist Wahnsinn! Ausbrüche der Frauenreife!« Und laut fügte er hinzu: »Zu was für einer Liebe sind Sie geboren!«

»Sie meinen wohl zu einer unglücklichen?«

»Nein, nicht zu einer unglücklichen Liebe, aber zu einer Liebe des Unglücks! Ich seh' es schon kommen: Er – sicherlich ein Mann erlesenen Geistes, aber ein schlechter Wirtschafter, ein lahmer Verdiener – er wird Sie im Sommer in die Hochluft der Leidenschaften führen, und im Winter auf den Lumpenball des Elends.«

Ethel erwiderte nur verträumt: »Sie, der einzig in Gesellschaft und Bällen lebt, Sie, der elegante Lebemann, begreifen mich gewiß nicht!«

»Aufrichtig gesagt, nein! Aber begreift man euch Frauen denn überhaupt jemals? Ihr seid wandelnde Blumen der Mystik, voll übersinnlicher Kräfte.«

Ethel lachte auf: »So gefallen Sie mir! Wenn Sie so treuherzig wiederholen, was tausend andere sagen, so seh' ich doch wenigstens, daß Sie selbst nicht daran glauben. Ich habe viel über mich und andere Mädchen nachgedacht und bin zu der Erkenntnis gekommen: Was man rätselhaft an uns nennt, ist die Mischung edelster, überschwenglicher Gefühle voll Selbstlosigkeit mit unkultivierten, noch in Kindheit steckengebliebenen Launen und mit Begierden voll Verworrenheit und Unvernunft. Und wenn noch über das Ganze der Schein von Logik und Grazie ausgegossen ist, dann gleichen wir jenen wildzerklüfteten Bergen dort drüben, die erhabene Stimmungen wecken, die in Wirklichkeit aber weder Krystalle sind, noch Schwanenfedern, noch grüner Samt, noch trotzige Gedanken oder drohende Hände, sondern einfach Gestein! Kiesel, Kalk, in die tausend Zufälligkeiten, Stürme und liebliche Naturereignisse wild hineingeschnitten. Scheinbar sind's künstlerische Formen! Aber genau genommen: die Landschaft ist nichts, das Licht alles!«

»Sie dozieren meisterhaft, statt unter die Haube, kommen Sie unter den Doktorhut.«

»Mit ihm entgleist das Gespräch immer,« dachte Ethel, aber sie lachte mit und betrachtete die Bekannten, die nach und nach kamen.

»Guten Morgen, Herr von Holthoff!« Woppl begrüßte einen korpulenten, sehr breitspurig auftretenden Herrn, der Börse und alten Adel in sich vereinigte und deshalb für zwei dick war. Er machte in seinen Wadenstrümpfen auf Woppl den Eindruck, als ob er die Elephantiasis hätte. Er winkte Woppl einen gnädigen Gruß zu mit jener Nonchalance der Börsianer, die überlegenen Reichtum und Cordialität markieren soll. Woppl war verletzt und geschmeichelt.

»Verdrehen Sie den hübschen, jungen Mädchen nicht schon so früh den Kopf,« rief ihm Holthoff zu. Woppl lächelte krampfhaft und dachte: »Sogar seine Galanterie hat die Elephantiasis.«

Dann ging er auf Holthoff zu und sprach sehr angestrengt liebenswürdig auf ihn ein.

Ethel glaubte von ihrem Platze aus, in Woppls Gesicht all' die Komplimente zu lesen, mit denen er vermutlich den reichen Bankier überschüttete. Als Woppl wieder an ihren Tisch zurückkam, sagte sie:

»Man sah es von ferne, daß Sie ihm den Hof machten. Alle jungen Damen werden hier eifersüchtig werden. Sie strahlten förmlich, wie von Fettglanz!«

»Ja, vom Schmeichelfett, mit dem ich ihn schmierte. – Es ist ja unser Hauptkommanditeur. Und er macht uns jetzt Schwierigkeiten. Einen solch' steinreichen Onkel findet man nicht alle Tage. Wir haben ein neues Projekt, da muß ich diesen alten Klavierkasten erst stimmen.«

»Ein Projekt?«

»Das ist eben noch mein Geheimnis. Und Ihnen kann ich's am wenigsten sagen! Sie sollen mitwirken, ohne eine Ahnung davon zu haben. Vertrauen Sie sich nur meiner Leitung an. Sie wissen, ich bin ein Diplomat der alten Schule und ein Sonntagskind dazu. Mir fällt alles in den Schoß. Vertrauen Sie mir! Noch heute zeige ich Ihnen den Mann Ihrer Wahl.«

Ethel lachte: »Noch heute?«

»Ja, noch heute, in einem Zauberspiegel.«

»Es lebt bereits einer im Spiegel meiner Phantasie.«

»Eben denselben.«

»Denselben? – – So sind Sie ein Jahrmarkts-Gaukler.«

»Ja, denselben! Ich bin ein Jahrmarkts-Gaukler, und noch heute werde ich ihn herzaubern.«

Ethel sah ihn gespannt an: »Sie schieben Ihre Bekannten durcheinander wie Figuren auf einem Schachbrett.«

»Seit meiner Bekanntschaft mit Andersen sehe ich die Menschen nur noch als Automaten an. Beobachten Sie dort jenen Herren, Justizrat Kunow! Wie er beim Gespräch fortwährend mit der Linken nach Fliegen zu haschen scheint! Natürlich hypothetische Fliegen! Würde nicht unser Schwede sagen: ›Unbewußte Reflexbewegungen, Automatismus!‹ Eigentlich habe ich immer in den Menschen nur Automaten gesehen, wenn auch unbewußt. Die ganze Diplomatie besteht ja eben darin, im vorhinein abzuschätzen, wie das Räderwerk in jedem Einzelnen gehen wird, und nun muß man den Schlüssel so ansetzen, daß jeder an der richtigen Stelle aufgezogen wird.«

»Am Ende haben Sie heute Morgen nichts getan, als mich aufziehen?«

»Ich würde mir so etwas nie erlauben. Und wenn ich es mir erlaubte, so werde ich mich wohl hüten, es Ihnen zu verraten. – Ihnen gefällt wohl Herr von Holthoff nicht sehr?«

»Wenn er nur anderen gefällt.«

»Nun, Lydia scheint ihn nicht gerade antipathisch zu finden.«

»Sie wissen ja, Lydia ist eine gesunde Natur.«

»Beinahe zu gesund und das gefällt mir an ihrer ätherischen Schönheit: Der flair für edle Erzgänge, der Instinkt für den rocher de bronze. Eine Wünschelrute von Herz! Das liebe ich. Gefühle, die mit den Börsenkursen steigen und fallen! Zahlen sind der beste Maßstab für den Wert eines Mannes, die sicherste Physiognomik. Sie beurteilt nicht die Menschen, sie schätzt sie ein.«

Während Woppl so sprach, durchblitzte ihn ein neuer Gedanke: Wie, wenn Holthoff sich ernstlich für Lydia interessierte! Da konnte man ihn leichter fassen! Dann würde er eher für den Androiden seines zukünftigen Schwagers – denn Andersen wurde dann sein Schwager – einen Chec auf einige Hunderttausende mit seinen »Krähenplattfüßen« bekritzeln.

»Wenn nur Lydia mir nicht einen Streich spielt!« dachte Woppl. »Am Ende findet sie Holthoffs altes Fett doch zu unverdaulich! – Ach was, solche ätherische Sylphiden haben gewöhnlich guten Magen. Und dann hat Lydia das Bequeme, sie ist völlig mannsblind. Es schmeichelt ihr jeder; aber keiner ihren Sinnen, alle nur ihrer Eitelkeit. Ihr femininer Instinkt geht auf den Mann wie auf einen Kleiderstock. Sie wäre imstande, Andersens Androiden zu heiraten, wenn er nur mondain gekleidet würde.«

Woppl strich sich selbstzufrieden den Schnurrbart! Was war er für ein Diplomat! Andersen und Ethel! Holthoff und Lydia! Seine Spekulationen bekamen goldenen Boden. Dann rückte er unruhig auf seinem Sessel hin und her und griff sich verstohlen ans Kinn. »Was haben Sie nur,« frug Ethel, »jetzt sind Sie der Zerstreute. Denken Sie jetzt an Lebensaufgaben oder solches Zeug?«

»Ich erwarte fieberhaft den Raseur. Man fühlt sich hier im Gebirge gar nicht mehr Mensch.«


In der neuen Dependance machte eben das Ehepaar Ehrsam Morgentoilette.

Merkwürdig ähnlich, wie Ethel, erging es ihrer Mutter. Obwohl sie eigentlich mit Sorgen um zwei ehereife Töchter hergekommen war und nur im Gedanken lebte, irgend eine Verlobungsaffäre diplomatisch einzufädeln, so erlag auch sie unbewußt dem Zauber dieser Luft. Die verleugneten Ideale ihrer Jugend erwachten voll schmachtender Schwermut, ihr einstiger Trieb zur dramatischen Kunst. Aber alles durchtränkt von harten Erfahrungen, von allen Bitterkeiten, die sie in zwanzigjähriger Ehe heruntergeschluckt oder andern in den Kaffee gegossen. Eine Unruhe war über sie gekommen. Die Morgenstunde war besonders dieser Muse geweiht.

Am glücklichsten oder unglücklichsten, wie man eben will, fühlte sich Ehrsam in der Sommerfrische. Seine Frau hatte den Aufenthalt bestimmt. Er schwärmte ja von jeher für Natur, nur in seiner Weise. Er war Anhänger der Naturheilkunde, und alles, was mit natürlicher Ventilation, Sauerstoff, Ozon, Stoffwechsel, Tannen, Wasser und Wolle zusammenhing, war ihm heilig. Überall brach bei ihm das Nützlichkeitsprinzip durch. Besonders glücklich war er, wenn er seinem Liebling Ethel beim Betrachten der Felsen geologische Schulreminiszenzen oder physikalische Gesetze vordemonstrieren konnte. Seine Frau nannte ihn eine wandelnde Mechanik, behauptete, er sei hergekommen ohne Willen, bewundere ohne Augen, genieße ohne Seele – aber mit Physik!

»Was du nur wieder hast, Amalie?« beklagte sich Ehrsam, indem er seine Brille suchte. »Seit wir hier sind, bist du kribblig, die Wände hinaufzuklettern! Nicht eine friedliche Minute!«

»So was!« brummte Frau Ehrsam mit einem tiefem Baß, der ihr nur in den tragischen Momenten zur Verfügung stand, »ein Mann, der seine Familie an den Bettelstab bringt, und da soll ich noch fröhlich sein. Mit deiner Stellung bei Zisch & Woppl ist es aus und die neue ist noch gar nicht perfekt.« Sie steigerte langsam ihre Stimme. »Du bildest dir wohl ein, daß wir hier sind, wie andere Leute? Zu unserm Vergnügen?«

Sie unterbrach sich, um ihm einen Rock aus den Händen zu reißen. »Um alles in der Welt, tu' mir nur den einen Gefallen und laß deinen Jägerianer im Koffer!«

»Wann soll ich ihn denn tragen, wenn nicht im Gebirge, man muß sich doch ans Rationelle halten.«

»Du lieber Himmel!« Sie schlug die Hände zusammen. »Hier, wo alle Welt Loden trägt! Da hört doch alles auf! Jägerianer, Vegetarianer, Naturheilbeflissener, Kneippianer, Turner, Wagnerianer – du bist der geborene I–a–ner! Alles Armeleute-Manieren! Ich begreife gar nicht, wo du die her hast! Trägt sich Herr von Holthoff jägerianisch? Woppl? Du kompromittierst dich, mich, deine Kinder!«

»Woppl ist Lebemann, Gigerl; eh' er etwas Unmodernes anzieht, erkältet er sich lieber bis auf die Knochen. Ich bin ein ernster Mann, Familienvater. – Jetzt bitt' ich dich aber um meine Brille.«

»Komm mir nur nicht so! Du weißt, ich habe hier meine Projekte! Dein unbeholfenes Auftreten derangiert mir alles. In der Fabrik hast du auch alles verfahren, du und Woppl.«

»Ich? Nein du! Hast du denn nicht jedesmal hinter Woppl hergehetzt, er solle nicht immer nur Zisch das große Wort führen lassen? Hast du ihm nicht gesagt: ›Zisch ist doch eigentlich alles in Ihrem Etablissement, Sie müssen zeigen, wer Sie sind.‹«

»Hab' ich auch? Aber in wessen Interesse? In deinem Interesse, im Interesse unserer Kinder. Ich wollte Woppl klüger machen. Wenn er was zu reden hat, dann ist auch deine Stellung bedeutend besser. Ein Mann, der so intim in unserem Hause verkehrt, auf den ich so großen Einfluß habe, der sich für Lydchen so lebhaft interessiert! Schließlich hätte es ja mit Lydia werden können! Jetzt freilich gebe ich's auf. Der fängt ja bei jeder Feuer, dieser Zunderfritze!«

»Na, siehst du, dadurch ist ja alles gekommen. Zisch will sich nichts hineinreden lassen. Er hat Woppl verpflichtet, sich nie mehr in die Fabrikangelegenheiten zu mischen und mir hat er gekündigt.«

»Und er ist darauf eingegangen? O, dieser Moppl! Es gibt keine Männer mehr!« Sie sagte das mit heroischer Haltung, indem sie ihrem Gemahl mit einem Ausdruck hochdramatischer Verachtung ins Gesicht blickte.

»Was wollte er machen,« stotterte Ehrsam, »du weißt doch, er kann nichts und tut nichts. Er kommt alle Tage nur auf zwei Stunden ins Bureau, gewissermaßen als Amateur. Die Arbeiter nennen ihn den Mann mit der überflüssigen Meinung!«

»Ein Mann mit solcher Jupiterstirne!«

Ehrsam lachte; Woppl war bekanntermaßen stolz darauf, eine Stirne mit einer Kraftfalte und einem steifgesträubten Haarschnörkel zu haben, wie der Zeus von Otricoli. »Er ist nicht dumm, solange er einen klügeren Vormann hat. O, in dieser Beziehung,« seufzte Ehrsam, »ist er sehr glücklich veranlagt, er hat den Verstand der anderen. Aber jetzt bitte ich dich, liebe Amalia, wo hast du meine Brille?«

Während das Ehepaar seine Morgentoilette so mit munteren Reden begleitete, hatte im Nebenzimmer eine ältliche Dame, die eben aus ihrem Gesichte diskret einige Lebensjahre, allerdings nur die letzten, wegzufärben im Begriff war, die Schminke rasch beiseite gelegt und ihr Auge an das Schlüsselloch gebracht. Sie konnte Herrn Ehrsam unterscheiden, wie er in Pantoffeln und Hemdärmeln im Zimmer herumfuhr und während des Gesprächs in allen Ecken kramte, indes die stattliche Frau Direktor die Arme in die Hüften gestemmt in einem etwas nachlässigen Negligé dastand, halb zu ihm gewandt, halb verstohlen in einen Spiegel schielend, in dem sie Posen zu studieren schien.

»Amalia!« jammerte er, »meine Brille! Du findest wieder ein boshaftes Vergnügen daran, mich suchen zu lassen. Du weißt ja, ich bin ohne sie hilflos, ich kann keine drei Schritt weit sehen.«

»Hilflos bist du überhaupt, eine Null bist du, und erst gestern, als dich der Bankier von Holthoff auf den Piz Popena aufmerksam machte, sagtest du, daß du nicht soweit sehen kannst.«

»Wenn ich aber kurzsichtig bin! Ich habe überhaupt vom Naturgenuß fast gar nichts.«

»Ja, das stimmt, du kommst überhaupt überall im Leben zu kurz, und mit dir deine arme Frau, deine Kinder. Dann tut man doch wenigstens so! Im Gegenteil, du mußtest ihn noch auf was Besonderes aufmerksam machen, auf irgend eine Gemse, die dort auf der Spitze herumbalanziert.«

»Aber das wär' ja lächerlich, so weit sieht ja kein Mensch!«

»Desto besser! Dann hast du die scharfen Augen und er sieht nichts! Du wirst nie lernen, Mensch sein! Man bindet nicht jedem seine Schwächen auf die Nase. – Nimm dir ein Beispiel an Woppl! Er weiß alles, er sieht alles. Und dann seine Witterung! Einem Jagdhund würde die Ehre machen! O Ernst, wenn du nur den zehnten Teil davon hättest! Er ahnt, daß ich ihm jetzt die Schlinge über den Kopf zusammenziehen möchte.«

»Er ist überhaupt ein Sonntagskind. Was andere mühsam erschinden, fällt ihm in den Schoß. Siehst du nicht, daß er auch gegen mich was vorhat; wie er scheu und zweideutig tut!«

»Gegen dich!« höhnte Amalia, indem sie alle Register ihrer Stimme zog, um die feinsten Nuancen von Spott und Ironie mit dem niederschmetternden Baß tiefer Verachtung zu vereinen. »Glücklicherweise bin ich noch da! Wir wollen sehen, ob ich nicht diesmal einen Sporn habe, die Flanken seines Willens zu stacheln!«

»Aber wo hast du meine Brille hingetan,« jammerte Ehrsam.

»Deine Brille!« erwiderte sie laut und scharf, »du wirst dein lebelang nichts als deine Brille suchen!«

Ehrsam duckte sich, er spürte in ihrer Stimme ein herannahendes Gewitter. Seit nahezu zwanzig Jahren kannte er diese Tonnuancen. Amalia hatte in ihrer Jugend Glanzrollen einstudiert, Lady Macbeth und Medea mit Pose und Tönen der Niemann-Raabe und der Wolter. Aber den Sprung aus dem bürgerlichen Leben hinaus nicht gewagt. Und um sicher zu gehen, hatte sie einen wohlhabenden Rechtsanwalt geheiratet, einen älteren Mann. Nun tragierte sie die Heroinen im Hause. Besonders ihr Wolterschrei war bekannt. Nach zwei Jahren schon starb ihr Erster. Die Leute sagten, aus Verzweiflung. Aber Herr Ehrsam mußte immer hören, daß es überhaupt keinen so Vollkommenen auf der Welt gegeben, wie diesen ersten, »Mucki«. Das war die größte und einzige Wunde des Herrn Ehrsam. Es sind ja immer lächerliche Nadelstiche, die das Leben vergällen! Sie sprach von »Mucki« immer voll Bewunderung, während sie dem Zweiten jeden Kosenamen versagte. Sie überfloß von posthumer Zärtlichkeit.

Sonst nahm Ehrsam alles mit bewundernswerter Geduld hin. Selbst den berühmten Wolterschrei, in Amalias Mädchenzeit viel bewundert, den sie großartig konserviert hatte und in den häuslichen Szenen immer für den hochdramatischen Gipfelpunkt aufbewahrte. Aber im Gebirgshotel, hier unter Fremden, suchte er sie sanft zu stimmen, mit doppelter Nachgiebigkeit, er zitterte vor dem Schrei! Frau Amalia dagegen sammelte all' ihre Kräfte und spähte nach einem Übergang zu diesem erhabenen Moment. Und sie hatte ihn gefunden.

»Deine Brille?« rief sie mit dumpfem Pathos und richtete sich zu klassischer Höhe empor. Die Lauscherin hielt den Atem an und blickte angestrengt durchs Schlüsselloch. Frau Ehrsam war schwärzlicher als je, und ihre Augenbrauen finsterer. Ihre Stimme klang wie Wildbachsdonnern, gefolgt vom dumpfen Felsrutsch nasaler Töne, eine Mischung von Bosheit und Stockschnupfen. »Ich soll wohl deine Brille suchen! Das hat mir Mucki niemals zugemutet! Nie!« Und ihre Stimme nahm unheimliche Grabestiefe an: »Das hat Mucki nicht, n–ei–ei–ein!«

Das »Nein« klang fürchterlich, es war der Schmerzensschrei einer tief verwundeten Frauenseele, der zum Brüllen der Tigerin emporwächst. Ernst fuhr zusammen. Dies »Neieiein« mußten alle Stockwerke gehört haben.

»Da liegt sie doch vor deiner Nase!« Mit einer plastischen Armbewegung voll heroischer Kraft und künstlerischem Schwung, ganz die Anmut der Wolter, zog sie die Brille unter einer Serviette hervor, – unter die sie sie früher geschoben hatte. Dann ließ das Grollen ihrer Stimme nach; wie Donner, nachdem es eingeschlagen, über Leichen hinweg in unheimliche Grabestiefe sich verliert.

»Das dachte ich mir,« hauchte Ernst, aber so, daß nur er selbst es hörte. Er wurde noch viel kleiner, ganz klein. Er versuchte gleichsam in sich selber hineinzukriechen. Er zitterte, den Skandal durch Widerspruch, ja durch den bloßen Atemzug seiner Anwesenheit noch mehr zu entfachen. Doch seine Erregung überwältigte ihn und er stieß einen tiefen, ehrlichen Seufzer aus: Das war die alte Geschichte!

So pflegte sie ihm zu Hause, wenn er müde von der Arbeit kam, den Stiefelknecht zu verstecken und die Pantoffeln zu vertauschen; er fand sie nie am Platz und mußte, so kurzsichtig er war, immer erst nach den Dingen herumtappen. Zumal im Winter, wo die Brille, sobald er ins warme Zimmer trat, trüb anlief. Es war ihr besonders beliebter Scherz, seine Kurzsichtigkeit zu verhöhnen.

Endlich faßte er sich ein Herz: »Das mit der Brille war dein Werk,« sagte er halblaut.

»Natürlich,« erwiderte sie, »man muß dich doch erziehen.« Und in der Freude, ihren Mann erzogen zu haben, wurde sie plötzlich zärtlich und sagte mit sanftem Säuseln, das aber noch Gewalt atmete und die herbweichen Stimmungen einer Heroine versinnbildlichen sollte: »Ernstchen, wir wollen die Kinder aufsuchen.« Kaum hatte sie das zephirgleiche ›Ernstchen‹ hervorgehaucht, als auch Ehrsam bereits alles vergessen hatte. Er besaß für diese Ehe die glücklichst veranlagte Haut.

Er in seinem guten Gemüte begriff sie vom ersten Entgleisen ihrer Kunst, da sie aus kleinbürgerlichen Bedenken sich nicht auf die Bühne wagte, bis zum Heranwachsen ihrer Muttersorgen, und er blickte sie verzeihend an mit seinen sanften, warmen, braunen Seehundsaugen. Auch sie war befriedigt. Sie dachte: »Menschen und Hunde, je mehr man sie schlägt, desto treuer hängen sie an. Er wedelt schon.«

Und sie verließen Arm in Arm mit ostentativer Zärtlichkeit die Dependance, nachdem sie an der Zimmertür der Mädchen, wo Lydia noch schlief, geklopft hatten: »Kommt frühstücken!«

Wie zufällig trat in diesem Augenblick auch die Lauscherin aus ihrem Zimmer, eine Hofratswitwe aus Prag. Mit »Schönen guten Morgen« und Knixen schmeichelte sie sich heran. Sie wollte sich Ernstchens Gesicht ansehen nach der Szene. »Guten Morgen, Frau Direktorin, guten Morgen, Herr Direktor! Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Frau Hofrätin!« Das war eine Freundlichkeit und Freudigkeit des Wiedersehens und ein Scharwenzeln. Allerdings hatte Frau Ehrsam tags zuvor erklärt, daß die Hofrätin Kubžik die zudringlichste Person sei, die jemals in untröstlichem Witwenschwarz alle Modebäder der Reihe nach heimgesucht. Sie nannte sie nur das »Trauer-Automobil«.

»Der Herr Direktor sieht gar nicht so echauffiert aus,« sagte sich das Trauer-Automobil. »Der ist auf den Pfiff dressiert.« Sie haspelte Fragen und Bemerkungen eilig herunter, es war gar nicht möglich, loszukommen.

»Ach,« sagte Frau Ehrsam, »Sie gehen gewiß nach der Frühstücks-Terrasse. Ich sehe schon dort an der Balustrade Herrn Woppl sitzen. Würden Sie nicht die Güte haben, ihm zu sagen, er möchte uns an seinem Tisch einige Plätze reservieren?«

»Aber gern, außerordentlich gern!« sagte die Hofrätin und lächelte und nickte und verneigte sich und legte die Hand aufs Herz und lächelte wieder und verneigte sich wieder: »Herr Woppl, ein sehr interessanter Mensch, ein außerordentlich interessanter Mensch! Sagen Sie, was ist er eigentlich?«

»O, er ist nichts, er hat!« sagte Frau Ehrsam, die gern mit ihren Bekanntschaften groß tat. »Ein steinreicher Junggeselle. – Was er ist? Rentier und Fabrikbesitzer.«

»Er ist auch Amateur-Photograph,« ergänzte Amalia, »er hat viele Liebhabereien, er treibt Sport, ist fleißiger Radler, einer der ersten Gesellschaftsmenschen …«

»... und a Hofmacher,« fiel die Hofrätin ein »Und seine Fabrik?«

»Ach Gott, – nach der sieht sich ein anderer um. – Er treibt eine ganze Menge, er ist überhaupt von Anlage und Beruf Amateur.« Die Damen lachten und Frau Ehrsam beeilte sich zu sagen: »Aber bitte, lassen Sie sich nicht stören, wir kommen gleich nach.«

Es blieb der Hofrätin nach wiederholten Aufforderungen nichts weiter übrig, als sich zu verabschieden. »Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« lächelte sie und nickte und verneigte sich.

»Auf Wiedersehen!« rief ihr Frau Amalia herzlich nach und brummte zwischen den Zähnen: »Alter Malkasten!«

Als Ethel von der Terrasse aus ihre Eltern erblickte, verabschiedete sie sich von Woppl, um sich dem Morgenspaziergang der ihrigen anzuschließen: »Wollen Sie nicht auch Frau Hofrat Kubžik ausweichen?«

Woppl: »Im Gegenteil, das ist ja mein Privat-Detektiv-Institut.«

Er sah dem jungen Mädchen nach: »Ein herrliches Geschöpfchen! Schade! Nichts für mich! Sie hat nichts von der klugen Verlogenheit von Mutter und Schwester. Jammerschade!«

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