Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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15

Als ich wieder erwachte, fühlte ich zu meinem Erstaunen, daß ich so ruhig war, als hätte sich in meinem ganzen Leben nichts ereignet, oder als wäre ich von Kälte gegen die ganze Welt erstarrt. Diese Ruhe wich den ganzen Tag hindurch nicht von mir, ich fühlte nichts, sah nichts, ging herum, sprach, brachte meine Arbeitszeit im Kontor zu, aber alles vollkommen automatisch. Es war mir, als stände ich selbst außerhalb des Ganzen und betrachtete einen Fremden, der unter dem Schein, zu leben, eine Menge bedeutungslose Dinge tat und sagte. Ich war vollständig betäubt, und ich konnte nicht einmal Schmerz fühlen, als ich hörte, daß Frau Dagmar wirklich abgereist war. Es störte mich nicht einmal, als man diese Fahrt in Verbindung mit der plötzlichen Geschäftsreise eines Bankdirektors brachte. Es war, als hätte ich die Krise einer Krankheit überstanden, ohne doch noch Rekonvaleszent genannt werden zu können.

Und die Tage gingen in einem furchtbaren Einerlei, das mich sachte und unmerklich unter der Last einer Ohnmacht begrub, die mich betäubte und sich in der Unmöglichkeit äußerte, auch nur wollen zu können. Alles erschien mir so fremd, so neu. Es war, als wäre ich mit leerem Bewußtsein, ohne Erfahrung und Erinnerungen in eine neue Welt versetzt worden, an die ich mich erst gewöhnen mußte, um sie verstehen zu können. Alles kam mir dort wunderlich, fremd, bedeutungslos, ohne Sinn vor. Die Menschen, die auf der Straße an mir vorbeigingen, wanderten mit müden, niedergeschlagenen Blicken umher, nichts suchend, nichts verlangend, mit dem Nichts beginnend, und bei demselben leeren Grab landend, das einmal alle gleich machen wird. Warum lebte ich? Warum arbeitete ich? Warum lebte überhaupt jemand? Woher kam diese Müdigkeit, die mich und alle beherrschte?

Ich begriff auch nicht, daß irgend ein Sinn in dem Verlangen war, das meine Frau an mich stellte, als sie eines Tages in mein Zimmer kam und mich bat, sie im Sommer allein fortreisen zu lassen. Sie sah so seltsam erregt aus, als sie diese einfachen Worte aussprach, und in meinem damaligen Zustand konnte ich es nicht fassen, wie jemand überhaupt über etwas erregt sein konnte. Wenn sie fortreisen wollte, so war es, weil sie nicht länger mit mir zusammenleben konnte. Was war da wohl Wunderliches daran? Trauerte sie noch über etwas? Hatte sie noch so viel Illusion übrig, daß sie trauern konnte?

Olga saß vor mir, als sie von ihrer Reise sprach, ihr Gesicht war bleich und ihre Augenlider schwer, wie nach Nachtwachen oder Weinen. Ein wunderliches Gefühl des Mitleids mit uns beiden überkam mich, aber dieses Gefühl war zu schwach, um mich ganz auszufüllen. Es sank zurück wie in ein Chaos, und ich saß wie früher da, erstaunt und starr, und blickte in ihr Gesicht, das mir alt erschien.

»Warum willst du reisen?« fragte ich.

»Ich kann nicht hier bleiben,« war die Antwort.

»Du hast das Bedürfnis von mir fortzukommen?«

»Das auch.«

Olga hatte also alles verstanden. Sie hatte nur nichts gesagt. Ja, es war ja auch natürlich. Ich glaubte mich noch erinnern zu können, wie sie ihre Kränkung in dem unzugänglichsten Winkel ihres Herzens verbergen konnte, wenn Leid ihr Leben bedrückte. Von ihr Abschied zu nehmen, erschien mir so hoffnungslos und zugleich so einfach, wie alles andere in der ganzen Welt, oder richtiger – es schien mir so einfach zu sein, daß alles hoffnungslos war.

»Wohin willst du reisen?« fragte ich.

Sie nannte einen kleinen Badeort in Norwegen, und ich antwortete, sie möchte tun, was sie wollte.

»Es wird vielleicht dann besser,« sagte sie mit Anstrengung und reichte mir ihre Hand.

Ich nahm sie, aber ich begriff nicht, wie sie zu glauben vermochte, daß etwas besser werden könnte. Ohne etwas anderes zu empfinden als mein tägliches Gefühl, wie neu und fremd alles war, hielt ich ihre Hand in der meinen und streichelte sie gedankenlos.

Da brach sie in Tränen aus, und indem sie sich vorbeugte, küßte sie meine Hand.

Ein Gefühl unendlicher Qual bemächtigte sich meiner, und ich zog meine Hand zurück. Sie merkte es, und indem sie wegsah, murmelte sie:

»Ich habe dir so unendlich viel abzubitten.«

Sie? dachte ich. Sie? Ich fühlte, daß ich ihr etwas sagen, sie nach dem Sinn ihrer Worte fragen sollte. Aber ich konnte nichts sagen, weil die Leere in meiner Seele war und meinen Willen hemmte. Ich stand auf und ging im Zimmer auf und ab, außerstande zu fassen, was nun mit uns beiden vorging.

Da hörte ich wieder, wie Olga zu sprechen anfing, und ihre Stimme nahm einen bittenden Tonfall an:

»Und dann bitte ich dich, laß uns von hier fortziehen. Ich kann nicht hier bleiben.«

»Zurück nach Stockholm?« sagte ich.

»Wohin immer,« sagte sie. »Hier kann ich nicht sein.«

Ich versprach es ihr, so wie ich zu allem Ja gesagt haben würde, um was sie mich auch gebeten hätte. Aber meine Antwort war keine feste Einwilligung zu einer gemeinsamen Handlung, nur eine müde Konzession, die ich machte, um wieder in die einschläfernde Ruhe meiner müden Gedanken versinken zu dürfen.

 


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