Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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Ich habe versucht, meine Bücher wieder herunterzunehmen, meine Studien von neuem an dem Punkte zu beginnen, wo ich sie vor mehr als vier Jahren verließ. Aber es geht nicht. Dieses entsetzliche klare Licht, das an solch einem langen Frühlingsnachmittag mein Zimmer erfüllt, macht jede gesammelte Arbeit unmöglich. Ich gehe auf und ab und sehe es an, fühle gleichsam mit allen Poren, wie die Frühlingssonne in mein ganzes Wesen sickert und meine Gedanken in Unordnung bringt. Mit Verbitterung denke ich daran, daß der Winter so lang gewesen ist, so dunkel und so traurig, daß die Ungewohntheit an das Licht mich unruhig macht, als sei das Licht eine Qual und die Dunkelheit eine Segnung. Die Zeit herbeisehnend, da die Dämmerung kommen und das matte Licht der Lampe meinen Gedanken Ordnung bringen wird, gehe ich auf und ab, und all die Zeit grübele ich darüber nach, warum ich doch die Erinnerung an die Jahre, die gewesen sind, nicht aus meinem Leben zu drängen vermag. Es ist wunderlich, daß man sein eigenes Schicksal nicht an das eines anderen binden kann, ohne daß dieses unser ganzes Leben verwirrt, es in Unordnung bringt. Noch wunderlicher ist es, daß nun, da der Anlaß zu dieser Unordnung entfallen ist, die Harmonie zwischen mir und meiner Welt dennoch nicht wiederkehren will. Und während ich an dies denke, wird es mir klar, daß der Anlaß dazu, daß meine Frau und ich uns trennten – oder daß ich mich von meiner Frau trennte – der war, daß ich schon von Anbeginn an fühlte, daß mein Leben mit ihr nicht das werden konnte, was es früher war. Sie war es, die die Geordnetheit in meinem Leben erschütterte, und ich glaube, daß ich schon sehr bald in meiner Ehe das Gefühl hatte, daß sie ein Hindernis für mich war.

Warum mußte sie das sein? Was in ihrer Natur oder in meiner machte es, daß ich schon frühe, während mein Gefühl für sie noch so brennend stark war, daß ich mir es als eine Niedrigkeit vorwarf, doch stets mit der Idee umherging: ›Sie steht mir im Wege. Die Bahn, die mich vorwärts führen sollte, ist durch sie versperrt?‹ Ich habe darüber gegrübelt und gegrübelt, worin dies lag, und nie habe ich es finden können. Ich weiß bloß, daß ich beständig ein Gefühl hatte, als hielte sie mich zurück, als fesselte sie mich gleichsam an sich, als bände sie mich an jene Welt der Träume und der Ruhe, die die ihre war, und über die sie nie hinauskam.

Ich merkte es am deutlichsten, als wir nach Stockholm zogen. Sie hegte eine wunderliche Furcht vor der großen Stadt, einen kindlichen, naiven, beinahe abergläubigen Widerwillen gegen alles, was ihr hier begegnete. Sie fürchtete die Gassen mit ihrem Volksgewühl und Lärm, besonders die Promenaden, wo die bekannten Persönlichkeiten der Stadt einander treffen. Sie hatte Angst vor den hohen Häusern, mit ihren vielen Stockwerken, mit der Menge von Familien, die sich unter demselben Dach zusammen drängten. Die Theater, die Cafés, die überfüllten Speisesäle, das Tellergeklapper, das Stimmengemurmel und Lachen, den Wirrwarr dieses Außenlebens, das sich in dem elektrischen Licht drängt, die Glocken der Trambahnen, das Läuten der Telephone, den Witz jener Welt, deren Lebensgefühl sich als Ironie und ein bißchen leichtfertiger Scherz äußert – all dies fürchtete sie, fürchtete es, als schlösse es eine Gefahr für sie selbst in sich. Und führte ich sie unter Menschen, so kam sie mit; aber mitten in lebhaftem Scherz oder interessanten Debatten saß sie still und verschlossen da und erwiderte jede Ansprache mit müdem Lächeln und abwesenden Antworten. Mitten in einer Gesellschaft konnte ich mich selbst darauf ertappen, daß ich dasaß und sie betrachtete, und wenn ich dann ihrem Blick begegnete, der mich zu bitten schien, sie heimzuführen, fühlte ich, wie die Energie in meinem Wesen einfror, die Worte auf meiner Zunge erstarrten und ich nur begriff, daß die Welt, die die meine sein mußte, nie die ihre werden konnte. Sie ging außerhalb derselben, wenn sie mir auch Abend für Abend zu den Menschen gefolgt war, die ich nicht entbehren konnte, wollte ich mich nicht selbst begraben.

Was half es mir, wenn sie, sobald wir allein waren, mit einem seligen Ausdruck, bei dem mir manchmal ganz warm ums Herz wurde, sich dicht an mich schmiegte und sagte: »Nun bin ich allein mit dir. Nun können wir heimgehen!« Was half es mir, wenn ich fühlte, daß ihre Empfindungen mit derselben Intensität weiterlebten wie früher, daß sie mich inniger liebte, als alles andere auf Erden? Sie liebte mich, so wie sie lieben konnte. Aber sie liebte mich nicht so, daß sie um meinetwillen die Schale ihrer Natur durchbrechen und zusammen mit mir uns beide durchs Leben vorwärts zwingen konnte.

Als wir nach Stockholm ziehen sollten, bat sie mich, ich möge uns eine Wohnung verschaffen, die weit ab von den besuchten Straßen läge, und von der aus wir ein Stückchen Land sehen könnten. Ich tat es, und an einem Fenster der Wohnung, die jetzt verschlossen ist, pflegte sie mit ihrem Buch oder ihrer Arbeit zu sitzen. Wenn ich sie zu einem Spaziergang abholte, wollte sie immer hinaus über die Ebene gehen, oder in den Wald hinein. Sie sagte es mit einem Blick, dem ich nicht widerstehen konnte. Und ich folgte ihr, von einem wunderlichen Gefühl der Wehmut und des Widerstrebens erfüllt. Es war, als arbeitete sie daran, mich vom Leben fort und zu sich zu ziehen, oder richtiger – zusammen mit sich aus jenem Leben heraus, das ich leben mußte. Und wenn das Gesellschaftsleben seine Forderungen geltend machte, waren ihre Worte stets: »Kannst du nicht allein gehen? Du findest es amüsant, aber ich fühle mich am wohlsten, wenn ich daheim sitze und auf dich warte.«

Es lohnte nie, mit ihr über so etwas zu sprechen, ihr zu zeigen, was sie eigentlich von mir verlangte, ihr zu zeigen, daß, so wie die Welt nun einmal war, sie eigentlich nicht mehr und nicht weniger anstrebte, als mich auf meinem Platz als armer Lektor festzuhalten, dessen einzige Möglichkeit zu erhöhtem Einkommen darin lag, daß er die Anzahl seiner Privatlektionen vermehrte. Wenn ich davon sprach und ihr zu beweisen versuchte, wie töricht sie handelte, lauschte sie immer aufmerksam meinen Worten, und ich glaubte einmal ums andere, daß sie mir recht gab. Sie widersprach mir nie, und sie betrachtete mich stets mit einer Miene, als dächte sie selbst das gleiche, und als fehlte ihr bloß die Energie, ihre Gedanken auszuführen. Aber bald merkte ich, daß dies nicht der Fall war. Meine Worte waren im Gegenteil an ihr vorbeigerauscht, ohne in ihrem Gedächtnis haften zu bleiben. Und wie eine glückliche Schlafwandlerin ging sie ihren Weg, unbekannt mit der Welt, in der sie lebte. Wenn ich davon zu ihr sprach, weckte ich sie nicht aus ihrem Wahn. Ich störte sie nur für eine kurze Minute. Wenn sie mich anhörte, waren ihre Gedanken weit weg, und was ich sagte, war ihr eine Qual, die sie mir bloß eine Zeitlang verhehlen konnte.

Aber sicherer, rascher, unerbittlicher als der ernsteste Anlaß zu Uneinigkeit und Spaltung trennte mich dieser Zug ihrer Natur von meiner Frau. Ich glaube nicht, daß sie ahnte, wie fremd sie mir nach und nach wurde, und wie scharf ich die Kluft zwischen mir und ihr empfand. Ich glaube nicht, daß es ihr auch nur in den Sinn kam, daß dies ernstlich mein Herz von dem ihren zu entfernen vermöchte. Denn merkte sie ab und zu eine Gereiztheit oder Zeichen des Unmuts von meiner Seite, so glaubte sie nie, daß diese Mißstimmung ihr gelte. Sie beunruhigte sich nur darüber, daß ich so nervös war. Geschah es manchmal, daß sie zu mir sprach und ich nicht antwortete, gleichgültig, wie ich für ihre Interessen geworden war, ebenso wie sie für die meinen, nannte sie mich zerstreut und scherzte darüber. Ging ich im Zorn und ließ sie allein, warf sie mir meine Heftigkeit vor und glaubte, daß ich bereute. Ja, ich bereute auch. Aber nicht, wie sie glaubte. Ich bereute den Tag, an dem ich zum erstenmal ihrem Blick begegnete, der versprach, was sie selbst nie halten konnte. Ich bereute, daß ich – wie es nun einmal stand – mich nicht besser beherrschte. Aber ich bereute die Gefühle nicht, die meine Handlungsweise diktierten, und von denen sie nichts wußte. Ich betrachtete sie als eine gerechte Folge meiner Antipathie gegen eine unfruchtbare, starre und welke Traumsucht, die, wie eine Mauer, die im Bau ist, strebte, täglich Stein auf Stein zu häufen, um endlich sie und mich von dem Leben abzuschließen, in dem ich wirken und teilnehmen wollte.

Dies stand zwischen uns gleich einer Qual, einer Beklemmung, einer zehrenden Krankheit, die an der Lebenskraft unseres Zusammenlebens nagte. Es wurde allmählich immer stiller zwischen uns, eine unheimliche Stille, die mich erschreckte und mich von meinem Heim fortscheuchte, mich in einen Strudel von Vergnügungen und Arbeit schleuderte, aus dem ich erst erwachte, als ich fühllos und erstaunt an ihrem letzten Lager saß.

Es herrschte Dämmerung in dem Zimmer, in dem meine Frau lag, und wo ein Wort des Arztes mir die plötzliche Gewißheit gab, an Gertruds Totenbett zu sitzen. Oft in verbitterten Augenblicken war der Gedanke wie mit Feuerflammen durch mein Hirn gebraust, daß vielleicht eines Tages der Tod mich frei machen konnte. Dieser Gedanke hatte mich so oft beschäftigt, daß ich gleichsam auf das vorbereitet war, was kommen sollte. Darum trafen mich auch die Worte des Arztes nicht wie ein heftiger Schlag, nicht wie etwas Scharfes, das in mein Herz schnitt, nicht wie irgend etwas von all dem, womit bartlose Poeten das Gefühl zu bezeichnen pflegen, mit dem ein Mann die Todesbotschaft des Weibes entgegennimmt, das er einst geliebt. Wie eine dumpfe, von fernher kommende Kunde eines Gewitters, das ich ohne Furcht ertragen mußte, damit nachher der Himmel wieder klar werden konnte, hörte ich diese Worte, deren Wirklichkeit ich mit einer solchen Intensität fühlte, daß ich dem Arzt nicht einmal eine einzige Frage stellte. Ich setzte mich bloß nieder und nahm Gertruds Hand in die meine, gleichsam, als hätte ich beschlossen, eine Pflicht zu erfüllen. So saß ich Stunden, beugte mich hinab und empfing die Worte, mit denen sie mir ihren Scheidegruß bot. So saß ich noch, als die schweren, scharfen, röchelnden Atemzüge begannen, mit denen der Tod sein Nahen verkündet. Und ich dachte daran, wie wunderlich es war, daß ich nie zuvor einen Menschen sterben gesehen hatte. So saß ich noch, als diese Atemzüge plötzlich aufhörten, als alles um mich still wurde und der letzte Seufzer mit seinem wunderbaren sausenden Laut die letzte Luft aus ihren Nasenflügeln preßte. Bis in die innersten Fibern meines Wesens fühlte ich, daß dies Wirklichkeit war, und meine Hand zitterte nicht, als ich mich über die Tote hinabbeugte und ihr die Augen zudrückte.

Langsam, als seien es Monate, gingen die Tage vor dem Begräbnis hin. Ich sah Menschen, die in meinem Hause aus- und eingingen, Menschen, die sagten, daß ich selbst nach ihnen geschickt hätte, mit denen ich von allerlei sprach, und denen ich Rechnungen bezahlte. Ich sah den langen Zug der Leidtragenden, die von den Wagen hinauf über den Friedhof strömten, sah mich selbst schwarz gekleidet an dem Grabe stehen, hörte die wohlbekannten Worte des Pfarrers und den Laut der Erdscholle, die auf den Sargdeckel fiel. Dann fühlte ich Hände, die die meinen drückten, ich merkte, daß ich in einen Wagen stieg, hatte die Empfindung, als lehnte ich das Anerbieten jemandes ab, der mir Gesellschaft leisten wollte, und stieg endlich allein die Treppen zu meiner Wohnung hinauf.

Da ging ich durch alle Zimmer. Ohne bei den Erinnerungen zu verweilen, die sie bargen, ließ ich selbst die Rouleaus herab und verschloß alle Türen. Ermattet nach der ungeheuren Anstrengung des Tages, setzte ich mich in meinen Schaukelstuhl und sah mich um, mit einem Gefühl, als wäre ich lange fortgewesen und endlich heimgekommen. Ich saß und wartete darauf, daß ein Gefühl der Erleichterung mich überkommen sollte, weil ich nun frei war. Aber es kam nicht. Wie von der Last kommender Tage gequält, fühlte ich mich in einer Weise aufgewühlt, die ich nie beschreiben können werde. Es war mir zumute, als hätte ich im geheimen ein Verbrechen begangen, ohne zu wissen warum, und aus dieser beginnenden Qual ist die Angst meiner Tage und Nächte gewachsen, gewachsen mit stets gesteigerter Kraft.

 


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