Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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5

Zu dieser Zeit hatte sich alles, was in uns beiden an Glücksverlangen war, zur Ruhe gelegt, nicht weil es verstummt war, sondern weil wir fühlten, daß es außerhalb der Welt, die wir uns selbst geschaffen, für uns nichts mehr zu verlangen gab. Nachher habe ich gedacht, daß vielleicht einige Wahrheit darin liegt, daß, wenn zwei Menschen das Glück gefunden haben, ihnen zuweilen in ihrem Glücke neidische Wesen folgen, die insgeheim daran arbeiten, daß ihre Seligkeit nicht länger währe. Vielleicht hat die Sage recht, wenn sie diesen Wesen, die sich ohne unser Wissen mit unserem Dasein beschäftigen, die Macht gibt, ohne daß wir es ahnen, ohne daß wir einen Augenblick ihre Nähe spüren, in unsere Sinne das heimliche Gift zu träufeln, das unseren Blick trübt und unseren besten Gedanken eine neue, früher ungeahnte Richtung gibt.

Wie oft ist mir das nicht in den Sinn gekommen! Wie oft erschien es mir nicht als eine bloße plumpe Umschreibung, um das unerforschliche Schicksal zu bezeichnen, das unser ganzes Leben beherrscht. Dieses Schicksal, das wir mit Entsetzen und Neugier zugleich anstarren und das zu erforschen uns doch nie gelingt. Und doch ist diese Erklärung der Sage, wenn man es recht bedenkt, ebenso gut wie irgend eine andere. Im Grunde erklärt sie ebenso viel und ebenso wenig, wie irgend eine der gelehrten Auslegungen, die die Folianten moderner Psychologie füllen. Und es ist eigen, wenn der Schmerz kommt, dann kehren unsere Gedanken zurück zur Sage, zu den Ahnungen, die seit Generationen das schwermütige Bewußtsein der Alten von des Lebens Qual ausdrücken, und wo sie den Trost suchen, den die Psychologie nicht schenkt.

Wenigstens taten es meine Gedanken, als das Unglück an einem Tage im April über uns hereinbrach. Das ist nun über ein Jahr her. Es kam in der Form von Krankheit und Tod, unser ältester Knabe war es, der starb – er, der das erste Kind unserer Liebe war, das Unterpfand unseres Glücks, er, der einmal das Licht der Welt unter Jubel und Freude erblickte, als es Mai war und alles um uns blühte. Er erreichte nun seinen neunten Geburtstag nicht, sondern die Krankheit nahm ihn, tötete das zarte Wesen, das unser Glück und unsere Hoffnung war. Und das war das Ende des ersten Jahres unseres Glücks, nachdem wir geglaubt hatten, die Welt verlassen und alles vergessen zu können, was uns mit Zauberbanden gefesselt.

Wie erinnere ich mich nicht an diese Tage. Es waren nicht viele, aber ich gedenke ihrer jetzt, als wären es Monate gewesen. Am zweiten Tage hatte ich eine Absage ins Kontor geschickt, und im Schlafzimmer, in das wir sein Bett getragen hatten, saßen Olga und ich und fühlten schweigend, wie die Minuten gingen, und betrachteten den Knaben, der mit geschlossenen Augen und schwer keuchender Brust dalag. Er brannte im Fieber, und er zuckte wie ein Licht, das der geringste Windhauch verlöschen kann. Wir saßen da, ohne zu sprechen, aber in unser beider Brust kämpften die Tränen, und unsere Finger griffen in krampfhaftem Schmerz zu, wenn einer von uns versuchte, die Hand des anderen zu drücken. Wir warteten auf den Arzt, und er kam. Wie Stunden dünkten uns die kurzen Minuten, während deren er sich über unser Kind beugte. Er richtete sich auf und sagte ein paar Worte, die in unserm Ohren klangen, als könnten sie keine Beziehung auf das haben, was nun geschehen sollte. Aber als er ging, wußten wir, daß alle Hoffnung vorüber war, und daß unser kleiner John in ein paar Stunden tot sein würde.

Was in diesen Stunden mit und in uns beiden vorging, das kann ich ja nie erzählen. Es ging uns, wie es den Menschen immer vor dem Tode geht. Hilflos saßen wir da, hilflos und ratlos. Wir hatten keinen Trost zu geben, uns kein Wort zu sagen. Wir saßen nur in verzweiflungsvollem Schweigen da und ließen die Sekunden Tropfen für Tropfen ihren Schmerz in unsere Herzen gießen. All unser Denken, alles, was wir empfinden oder meinen konnten, preßte sich in dem Gefühl für den kleinen Knaben zusammen, der dalag und im Fieber ächzte und leise für sich selbst Worte sprach, die wir nicht verstehen konnten. Und als der große Schatten sich zwischen ihn und uns senkte, als er uns schon dahin schien, unempfindlich für unsere Worte wie für unsere Liebkosungen, als nur die Brust sich mechanisch hob und der Atem so leise vernehmbar war, daß wir in Verzweiflung beinahe jene wunderliche Stille herbeisehnten, die sagte, daß zwischen uns und dem Toten das letzte Band zerschnitten war – da überfiel uns beide eine unnennbare Angst davor, daß er das ertragen sollte, was Menschenkraft übersteigt, und daß wir ihm nicht helfen konnten. Ach, wir fühlten ja da, was jeder Mensch, der sein Kind sterben gesehen, zu allen Zeiten gefühlt hat. Aber ich weiß, daß sich in diesem Augenblick zwischen mich und meine Frau das Schicksal drängte, das ich nun aufhalten möchte, aber nicht kann. Das war nicht nur ein Kind, das starb. Es waren die verborgenen Kräfte unseres ganzen alten Lebens, die, ohne daß wir es wußten, in diesem Augenblick zu wirken begannen.

Wenn ich sage, daß wir beide unser Kind betrauerten, so ist das ein Ausdruck, der in keiner Weise dem Gefühl entspricht, das uns wirklich zu Boden beugte. Dieser Schlag traf uns mitten in einem Glück, das keiner kennen kann, außer dem, der einmal das Glück verloren zu haben glaubte und es dann wiederfand. So kostbar war uns das, was wir wiedergefunden, daß ein Verlust einem Todesstreiche gleichkam, der in uns das Lebensgefühl selbst vernichtete. Und unaufhörlich kehrten wir zu der Frage zurück: warum geschah das erst jetzt? Warum mußte das Ärgste geschehen, gerade als wir nach der Rettung aufatmeten? Es kam Frage auf Frage, mit jener Stärke gestellt, die eine Antwort hervorzwingt. Und in meiner Frau wuchs die Antwort, die sie im Anfang nicht einmal sich selbst eingestehen wollte. Sie benahm ihr die Kraft, sie erfüllte Tag und Nacht ihre Gedanken, und das machte ihren Sinn so schwer, wie der Tod des Kindes allein es nicht vermocht hätte. Ich hatte Angst vor diesem Schmerz, der mir in seiner Gewaltsamkeit unnatürlich schien, aber es vergingen Tage, während deren ich nicht wußte, daß dieser Schmerz etwas anderem galt, als unserem Kinde.

Am Tage vor dem Begräbnis hörte ich Olga zum ersten Male davon sprechen. Wir standen zusammen an seinem Sarge, den man in ein kleines Kabinett gestellt und mit Hyazinthen, Aurikeln, Narzissen und Schneeglöckchen umgeben hatte. Alles, was der Frühling an Blumen und Grün besaß, hatten wir um das letzte Lager unseres Knaben vereinigt. Meine Frau hatte selbst alles geordnet, sie hatte die Blumen gepflückt oder sie gekauft. Es sah drinnen nicht wie in einem Sterbezimmer aus, sondern so, als feierten wir einen Geburtstag, und wie sie sich so mit den Blumen beschäftigte, betrachtete ich sie, und zum ersten Male fühlte ich einen Stich der Angst. Nicht Kummer prägte sich in ihren Gesichtszügen aus, sondern ein Gemisch von Grübelei und Selbstvorwürfen. Sie stand stille vor dem kleinen Bettchen. Ihre Hände strichen nervös über das Haar des Kindes, oder spielten mit den Blumen auf seinem Kissen. Stundenlang saß sie dort drinnen, und ihre Lippen murmelten unhörbare Worte. Endlich stand sie auf und strich liebkosend über das Bett – ein Mal ums andere – und ich glaube, daß sie den Toten um Verzeihung bat.

Ich sah dies am letzten Abend, bevor er für immer fortgetragen wurde. Ich war in das Zimmer getreten, ohne daß Olga mich gehört hatte. Sie stand dort drinnen, die starren Augen auf das Bett des Kindes geheftet, sie weinte nicht, sondern hielt nur die Hände über der Brust gefaltet, und ihre Lippen bewegten sich. Es machte einen unheimlichen Eindruck auf mich, sie so zu sehen, fast wie eine Schlafwandlerin, die im Traume das offenbart, was sie wachend verschweigt. Ich weiß nicht, wie es mir möglich war, so plötzlich die bestimmte Empfindung zu haben, daß ich nicht Zeuge eines Schmerzensausbruchs war, sondern eines Leidens, das eine Gefahr für uns beide in sich schloß. Ich hatte das Verlangen, sie aus ihren eigenen Gedanken herauszureißen, und indem ich auf sie zuging, sagte ich, nicht als Trost, sondern wie in Angst, sie von diesem Kummer abzuziehen, den sie selbst vor mir geheim hielt:

»Olga, Olga, woran denkst du?«

Sie warf mir einen verwirrten Blick zu, als wollte sie mich abhalten, sie zu stören, und ihr Gesicht nahm langsam wieder den Ausdruck stiller Schwermut an, den es während der letzten Tage gehabt.

»Komm von hier fort,« sagte ich hastig. »Du sollst nicht hier drinnen sein.«

Sie schüttelte nur den Kopf und schob mich weg.

»Ich will bei John sein,« sagte sie und brach in Tränen aus.

Ich begriff, daß sie allein sein wollte. Aber ich konnte mich nicht überwinden, von ihr zu gehen. Es war, als fürchtete ich, sie mit dem toten Kinde allein zu lassen, und ich blieb unentschlossen stehen, auf die Laute ihres krampfhaften Weinens horchend.

Es dauerte lange, bevor es aufhörte, und als alles im Zimmer still war, wurde die Stille selbst noch unerträglicher als alles andere. Meine Beklemmung war so stark, daß ich nicht einmal fähig war, sie anzusprechen oder ein Wort zu finden, das ich sagen wollte. Da hörte ich sie aufstehen, und mit leiser Stimme begann sie zu mir zu sprechen.

»Richard,« sagte sie langsam. »Weißt du, warum John gestorben ist? Ich weiß ja, daß er Lungenentzündung hatte. Der Doktor hat es mir gesagt, und er muß es verstehen. Aber ich kann nicht glauben, daß es so war. Er starb, weil ich nie dazu kam, eine Mutter für ihn zu sein. Er hat acht Jahre gelebt, und erst jetzt hat er angefangen zu sehen, daß ich an ihn denke. Ich habe ihn nicht selbst genährt. Ich hatte ja nie Zeit. Ich habe ihn nie gepflegt, als er klein war. Nicht zu mir kam er mit seinen Freuden und Leiden. Zu Fremden. Nicht auf meinem Schoße lernte er zum ersten Male in einem Buche lesen. Wieder bei Fremden. Nicht ich war es, die mit ihm spielte, nicht ich, die ihn erzog, nicht ich, die ihm irgend etwas gab – nur das, was böse war, habe ich ihm getan. Ich habe ihn weinen sehen, wenn ich fortging. Und doch bin ich gegangen. Ich wollte anfangen, all das für ihn zu sein, was andere Mütter für ihre Kinder sind. Aber ich kam nicht dazu. Als er starb, war das die Strafe, die mich endlich erreichte. Die Strafe!«

Mit steigendem Schrecken hörte ich sie diese Worte sagen. Ich begriff ihre Übertreibung, begriff die Gefahr, die in diesem wahnwitzigen Schmerz lag, und ich kannte sie so gut, daß ich wußte, sie würde nie so gesprochen haben, bevor der Gedanke in ihr so tiefe Wurzel geschlagen hatte, daß keine Worte ihn loszureißen vermochten. Ich begriff all das in einem Nu, und ich wußte mir keinen Rat. Ich versuchte bloß, meinen Arm um sie zu legen, um sie wegzuführen, und ich hoffte, daß ich, wenn wir dieses Zimmer verlassen hatten, Worte finden würde, um das zu sagen, was ich sagen wollte, und daß Olga mich hören würde. Aber sie entwand sich meinem Arm, und wortlos standen wir neben einander, unser totes Kind anstarrend, das bleich und still dalag, von den hellen Blumen des Frühlings umgeben, die nicht die Liebe, sondern der Wahnwitz der Reue auf sein letztes Lager gelegt hatte.

 


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