Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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Margit

Es gibt ein geheimnisvolles Gefühl, das sicherlich in den meisten Menschen verborgen liegt, das Gefühl von dem innigen Zusammenhang zwischen all dem Bösen und Guten, das zusammen die ganze Summe ihres Lebens bildet. Ich erinnere mich, starke und harmonische Menschen sagen gehört zu haben, daß wenn sie eine schlechte Tat ungeschehen machen könnten, wenn sie nicht nur aus ihrer Erinnerung, sondern auch durch einen übernatürlichen Willensakt aus der Wirklichkeit selbst, den tiefsten Schmerz auslöschen könnten, der ihrem Leben seinen Stempel aufgedrückt, sie es nicht wollten. Sie wollten keine einzige Erinnerung verlieren, keinen einzigen Tag auch nicht von jenen, die sie später beschämen, weil sie damit zugleich auch etwas von dem auslöschen würden, was dazu beigetragen hat, ihr Ich zu dem zu machen, was es heute ist. Dieses ungeheure Lebensgefühl ist der Gegensatz zu der feigen Reue, die sich von sich selbst wegschleichen will. Es hat etwas von der Gesundheitsempfindung der großen Natur selbst, die die morschen Stämme langsam sich selbst vertilgen läßt, während der lebende Wald unbekümmert um die Grundvesten seiner Stärke neue Knospen treibt und aus der Fäulnis selbst seine Nahrung zieht.

Ich habe selbst immer geglaubt, daß ich zu diesen ungebrochenen Menschen gehöre, die die Macht haben, was ihnen das Leben bringt, zu ertragen. Ich habe es bis vor wenigen Tagen geglaubt. Aber diese wenigen Tage scheinen mein ganzes Leben verändert zu haben, nicht nur mein eigenes, sondern alles, was sich in meinem Gesichtskreis regt, lebt und atmet. Es liegt wie ein Schleier über meinem Dasein und dem der anderen, und durch diesen Schleier suche ich die Form zu entdecken, die die Dinge früher zu haben schienen, das Rauschen des Stromes zu hören, der mich einstmals trieb, meinen Gedanken Inhalt gab, meinen Muskeln Spannkraft und meinen Wangen Farbe. Ich sehe nichts, höre nichts, kann nichts unterscheiden. Alles in mir ist ein Chaos geworden, und ich fühle nichts anderes als ein unmögliches, wahnwitziges, wildes und unbezwingliches Verlangen, mein ganzes Leben umzugestalten, zu verändern – nicht eine Einzelheit oder eine Kleinigkeit – sondern das Ganze zu verändern, von dem ersten Tage an, den ich gelebt habe, bis zum letzten.

Das Leben beginnt ja unter den wahnwitzigen Angstrufen des Schmerzes und schließt mit einem Seufzer der Erleichterung. Es dünkt mir, als wäre mein eigenes von Anfang an dazu verurteilt, in einem Schrei zu enden, verzweifelnder, herzzerreißender als die qualvollen Jammerrufe eines gebärenden Weibes.

 

Das erste, was ich in diesem grausigen Chaos zu hören glaube, ist der Laut der großen Stille des Waldes, der um mein Kindheitsheim rauschte. Ich höre diesen stillen wunderlichen Laut, der den Sinn läutert und das Herz mit sachterem, gleichmäßigerem Schlage pochen macht, höre ihn so wie ich ihn oft gehört, wie eine stille, feierliche Musik, die in den seltenen großen Augenblicken des Lebens meine Seele erfüllte und mich die Schmach dessen vergessen ließ, was in den übrigen klein und unbedeutend erschienen war.

Es ist im übrigen seltsam mit uns, die wir mit dem Walde um unser Heim aufwachsen. Und ich glaube nicht, daß ich mit diesem Gefühl allein stehe. Der Wald ist uns auf der Wanderung durchs Leben gefolgt, er hat sozusagen einen stillen Raum in uns geschaffen, in dem er, unberührt vom Lärm des Lebens, zu uns spricht. Wir hören so manches, was unhörbar für andere Ohren ist als solche, die sich gewöhnt haben, dem Walde zu lauschen. Wir sehen vieles, weil unsere Augen sich gewöhnt haben, all das Seltsame zu entdecken, das die Dämmerung der großen Wälder erfüllt. Wir ahnen vieles, weil unsere Sinne geschärft sind, unsere Augen offen und unsere Herzen gläubig. Wohin das Leben uns auch führen mag, immer behalten wir etwas von dem, was wir vom Walde lernten, und wenn alles um uns verstummt, spricht der Wald wieder mit seiner zugleich einlullenden und weckenden Stimme.

Aus dieser starken Erinnerung an den Wald leite ich die Eigentümlichkeit ab, die ich oft an mir selbst bemerkt habe, nämlich, daß ich, der ich mein ganzes Leben lang in einer Großstadt gelebt, stets eine Hinneigung zur Einsamkeit hatte, die es bewirkte, daß ich erst in sehr vorgerückten Jahren eine ernste Neigung für ein Weib faßte. Hieraus leite ich auch noch etwas anderes ab, das nicht weniger bemerkenswert ist. Ich habe nämlich immer die Empfindung gehabt, daß ich stets, auch in der Einsamkeit, gleichsam mein Leben zu Zweien lebte. Ich pflegte im allgemeinen nicht das, was man denken nennt, zu tun, oder was ich wenigstens zu finden glaubte, daß Menschen gewöhnlich unter diesem Worte verstehen. Meine Gedankentätigkeit ist sozusagen in Dialogform vor sich gegangen, indem ich bei allem, was für mich im Leben von Wichtigkeit war, mit jemandem zu sprechen pflegte, dessen Züge ich wohl nie gesehen und von dem ich auch nie dachte, daß ich ihn je sehen würde, aber dessen Worte ich doch auf jeden Fall vernommen, so als ob er mich anspräche, meine Gedanken weckte und auch darauf antwortete. Ich habe oft geglaubt, daß dieser sechste Sinn, diese zweite Persönlichkeit, die bei mir wacher sein muß als bei anderen Menschen, eigentlich ihren Ursprung aus der Zeit herleitet, in der ich noch ein Kind war und meine größte Freude darin bestand, mich aufs Geratewohl so weit in den Wald zu vertiefen, daß ich rings um mich nichts anderes sah, als die hochstämmigen Bäume, deren Kronen am Horizont zusammenzuwachsen schienen, das weiche, feuchte Moos, die Steine, das Preiselbeerkraut, die Vögel und die Eichhörnchen. Da ging ich immer und sprach zu mir selbst, sprach von allem, was meine kindliche Phantasie weckte. Ich sprach mit den Bäumen, den Vögeln, den Steinen, den Blumen und dem Grase, und ich versuchte sie mir in den Worten, nach denen ich mich sehnte, antworten zu lassen. So muß ich eine schlummernde Stimme in mir geweckt haben. Denn was ich als Kind begonnen, nahm seinen Fortgang, als ich zum Manne geworden, und tief in mir vernahm ich diese Stimme, die nicht mehr der Hilfe meiner Lippen bedurfte, um sich mir mitzuteilen, sondern die stille und ruhig erklang, so als vernähme ich die Gedanken eines anderen, die, für meine äußeren Sinne unhörbar, zu meinen eigenen flüsterten. Das Denken dieses anderen behielt übrigens bei allen Gelegenheiten, wo ich in einem Entschlusse zögerte oder in einer Bestrebung schwankend wurde, meinem eigenen gegenüber recht, und ich gewöhnte mich allmählich, ihm ganz blindlings zu gehorchen, als wäre ich ganz überzeugt gewesen, so nie einen Fehltritt zu begehen oder in bezug auf das Rechte oder Nützliche irren zu können.

 

Ich stamme von einer alten Familie ab, deren Angehörige ebenso wie ich selbst stets einen gewissen Sonderzug hatten, der sie mehr oder weniger zu Einsiedlern im Leben machte. Ich weiß nicht, ob sie ihre Lage ebenso ruhig und philosophisch aufgefaßt haben, wie ich lange – ja bis zu allerletzt – die meine. Ich weiß nur, daß ich selbst ein vollkommen ruhiges, harmonisches, sorgenloses Leben führte, und wenn mich die Verhältnisse irgend einmal in Berührung mit einem meiner Verwandten brachten, dann geschah das Eigentümliche, daß ich immer das Gefühl hatte, daß zwischen mir und ihnen etwas existierte, was ich eine unausgesprochene Freimaurerschaft nennen möchte. Es war, als spräche in ihnen sowohl wie in mir das Blut, und oft war ich nahe daran, ihnen von meinem eigenen Seelenleben zu erzählen. Ich hatte dabei das Gefühl, daß der andere – die Stimme in mir – nichts dagegen habe. Er schwieg nämlich immer, sagte weder ja noch nein. Aber gerade deshalb, weil er nie ausdrücklich ja sagte, hatte es bei meinem bloßen Wunsche sein Bewenden. Zu anderen als zu solchen zu sprechen, die ich von meiner eigenen Art wähnte, kam mir niemals in den Sinn, und so kam es, daß ich nie jemandem etwas darüber mitteilte, sondern, wo ich mich auch befand, bei angestrengter Arbeit oder bei lärmenden Vergnügungen, stets mein eigenes eigentliches Leben ferne von allen Menschen lebte, sozusagen – mitten im Walde.

Dies war um so merkwürdiger, als das Leben mich auf einen Platz gestellt hatte, der bei den meisten alle Möglichkeiten zu dem stillen Einsiedlerleben der Einsamkeit vernichtet. Ich wurde nämlich als das dritte von vielen Geschwistern geboren, und das kleine Eisenwerk, das mein Vater besaß, reichte nicht hin, um uns allen eine Universitätserziehung angedeihen zu lassen. Wir zerstreuten uns früh nach verschiedenen Richtungen, und ich bekam eine Stelle in einem Großhandlungskontor in der zweiten Stadt des Reiches, eine Stelle, die ich behalten habe und von der ich, beinahe ohne es zu merken, dazu aufgestiegen bin, ein vermögender Mann zu sein.

All das ging jedoch, so schien es mir, gewissermaßen neben mir selbst vor sich, und es machte mir nicht mehr Eindruck, als daß ich es ganz natürlich fand, und das, was sich mir bot, mit demselben Gleichmut hinnahm, den ich mich auch für fähig hielt, dem unerwartetsten Mißerfolg gegenüber an den Tag zu legen. Während dieser ganzen Zeit lebte ich jene Art Doppelleben, das für mich natürlich war, aber, wie ich glaube, allen anderen abnorm oder geradezu unglaublich vorkommen muß; und nicht ein einziges Mal geschah es mir, daß ich mich der inneren Stimme widersetzte, die noch immer zu mir sprach, wenn ich allein war, ja die zuweilen auch erklang, wenn ich von anderen Menschen umgeben war.

Ich habe in meinem Leben zahlreiche Beweise dafür gehabt, daß man im allgemeinen der Ansicht war, daß ich ein sehr eigentümliches Dasein führe. Obgleich alle Welt wußte, daß ich mir nichts zu versagen brauchte, suchte ich in meinen späteren Jahren wenig Vergnügungen auf, und ich habe im ganzen keine Freunde gehabt, wenigstens nicht in dem Sinne, in dem man dieses Wort im allgemeinen gebraucht. Ich verkehrte mit einigen meiner Bekannten, und ich war froh, wenn ich ihnen einen Dienst erweisen konnte. Aber ich erinnere mich nicht, daß ich je das Bedürfnis empfunden habe, ihnen etwas über meine eigene Person anzuvertrauen, und ich glaubte übrigens zu merken, daß wenn jemand von sich selbst sprechen wollte, es ihm am liebsten war, wenn ich mich mit seinen Verhältnissen beschäftigte, ohne ihn dadurch zu stören, daß ich etwas von meinen eigenen hineinmischte. Ich empfing auf diese Weise so viel Geständnisse, daß es mir schließlich zur Gewohnheit wurde, solche entgegenzunehmen, und ich habe in meiner Einsamkeit viele Dialoge über die Schicksale der Menschen geführt, die man mir anvertraut hatte, und die ich wie meine eigenen bewahrte.

Wenn ich die Vorstellung ausnehme, die ich als Kind hatte, daß Frauen nicht Beine haben wie andere Menschen, sondern dem Fall des Kleides entsprechend aus einem Stück sind – ein Irrtum, der zu gehöriger Zeit durch die Erfahrung aufgeklärt wurde – kann ich mich nicht erinnern, daß sich während meiner Jünglingsjahre meine Phantasie irgendwie besonders mit dem Gedanken an Frauen beschäftigte. Ich habe von meiner Mutter den hellen, ruhigen Eindruck der Geborgenheit und Fürsorge, und als sie starb, hatte ich lange das Gefühl, als wäre rings um mich eine Leere. Ihr Bild ist das einzige Frauenporträt, das, bis ich über vierzig Jahre wurde, je auf meinem Tisch gestanden hat, und von anderen Frauen habe ich nie andere Eindrücke empfangen als den Rausch eines Augenblicks.

Ich ging durch die Welt, als berührte sie mich nicht, und meine einzige große Freude war, wenn ich mir für einen Monat Urlaub nehmen und allein fortreisen konnte, um in fremden Ländern das Bedürfnis nach einem reichen Leben voll wunderlicher Gedanken und starker Eindrücke befriedigen zu können, das mich stets erfüllt hatte, seit ich einsam unter den heimatlichen Tannen umherging und mir Flügel wünschte, um die große Lichtung zu erreichen, wo der Wald ein Ende nahm. Wenn ich dann von einer Wanderung am Quai der Seine oder in den Tiroler Bergen heim in mein Zimmer kam und zufällig mein Bild im Spiegel sah, konnte ich mich nicht enthalten zu lächeln. Dieses ruhige Gesicht mit den gepflegten schmalen Whiskers, die mit dem Schnurrbart zusammenhingen und das Kinn frei ließen, diese kalten, vielleicht etwas wehmütigen grauen Augen und dieser ernste Mund, das schien mir alles im seltsamsten Gegensatz zu einem Menschen zu stehen, der glücklich und frei die Welt durchstreifte, ohne einen Gedanken an Kontors und Fakturas, nur die Stille mitten im Volksgewühl suchend, dessen eigentümliches Brausen mein Inneres stets in Harmonie versetzte. Dann lächelte ich in Gedanken mir selbst zu, und es kam mir in den Sinn, daß ich, so alt ich auch war, noch einherging und darauf wartete, daß das Leben sein Rätsel vor meinen Augen lösen sollte. Ich war kein Zuschauer der Schicksale anderer, kein Fremdling im Leben, ich war auf einer langen, langen Reise begriffen, und mein einziger Reisekamerad saß heimlich und verborgen tief in meiner Brust, mir Laute zuflüsternd, die für das Ohr unhörbar waren, meine Geständnisse empfangend und sie bewahrend wie kein anderer. Ich entkleidete mich in meiner Einsamkeit und ging zu Bette, und in meinem Ohr erklang es wie der Laut einer Stimme, die mein Gutenacht beantwortete.

Wenn ich darauf wartete, daß das Leben einmal sein Rätsel vor meinen Augen entschleiern würde, so stand das im Zusammenhang mit einem wunderlichen religiösen Gefühl, das mich immer bei dem Gedanken an den Tod erfüllt hat. Ein Grauen hat mir das Gefühl vom Tode nie eingeflößt, es war nur von einer ernsten Gemütsstimmung begleitet, die dem nahe lag, was man Wißbegierde zu nennen pflegt. Der Tod würde eigentlich das Ganze erklären oder es abschneiden. Und wenn ich mich nach diesem Augenblick nicht sehnte, so war es wohl deshalb, weil ich von keinen Sorgen wußte.

Daß das Leben mir sein Rätsel schon hienieden lösen könnte, kam mir nicht in den Sinn, ganz einfach, weil ich mir nie dachte, daß ich mich selbst in anderer Weise verändern würde, als es eine natürliche Folge der Wechselfälle der Jahre und Verhältnisse war. Ich hatte schon graue Haare an den Schläfen und in meinem Barte, und noch hatte ich nichts von dem erfahren, was die Sinne der Menschen in Aufruhr bringt. Ich erschauere, wenn ich diese Worte niederschreibe, und ich glaube zu ahnen, daß ein Sinn in der Sage von dem Mann liegt, der sein teuerstes Geschmeide ins Meer warf, aus Entsetzen darüber, was das Schicksal, da es ihn nie einen Schmerz fühlen ließ, mit ihm im Sinne haben mochte.

Das Schicksal hatte seine eigene Absicht und nahm das Opfer nicht an. Der Ring kam zurück, und da begriff der Mann, der von seinem Glück zu Boden gebeugt wurde, daß sein Urteil gesprochen war. Zitternd erwartete er das Schicksal, das vielleicht am sichersten in seinem eigenen Schrecken verborgen lag.

 

Nun da alles in mir klar zu werden beginnt, mit jenem quälend hellen Lichte, das morgens dem überwachten Blick des Grüblers begegnet, fange ich an, alles zu sehen, wie es war, und vor mir steht zuerst, vom Schimmer der Maisonne beleuchtet, das Bild einer Straße, in der ich an der Seite eines jungen Weibes auf und ab gehe, an der Ecke umkehre, wo der Vogel sang – ich höre noch sein Trillern im Ohr erklingen –, an ihrer Seite umkehre und aufs neue über die sonnenbeschienene Promenade gehe, die von hellen Frühlingskleidern unter frisch knospenden Blättern leuchtet.

Es ist jung, dieses Weib, es hat durch einen Zufall meinen Weg gekreuzt. Das Ganze kam daher, daß ich ihr eines Morgens, als ich mich ins Kontor begab, begegnete, als sie ihre Promenade machte. Sie stürzte durch irgend einen Zufall, und im Fall verstauchte sie sich den Fuß. Ich rief eine Droschke an und begleitete sie nach Hause. Das war alles.

Ich fing dann an, in ihrem Heim zu verkehren, die freundliche Lehrerfamilie, bei der ich sie fand, wollte mich um keinen Preis wieder von sich lassen. Und nachdem ich einmal hingekommen war, fügte es sich ganz natürlich, daß ich wiederkam.

Nie habe ich etwas gesehen, das sich in so hohem Grade von allem, was ich früher gekannt, unterschied, als diese Häuslichkeit, wo ich vom ersten Augenblick, in dem ich die Türschwelle der Alten überschritt, geradezu das Gefühl hatte, als wäre ich daheim bei mir.

Schon das Äußere des Hauses, der altväterische, geräumige Hof, die alten, ausgetretenen Steinstufen, die in Spiralen gingen, der schwere Türklopfer aus getriebenem Eisen – alles zeigte, daß hier ein Heim war, in dem die Menschen gleichsam einem anderen Zeitalter als unserem eigenen angehörten. Ja, man war schon von Anfang an versucht zu denken, daß sie wohl auch in Frieden vor dem Gewühl der Vergnügungen, der Jagd nach Geld, Glück und Macht lebten. Auf dem Hofe wuchs eine alte Ulme, um deren Stamm ein grünes Sitzbrett ging, und tief in einer Ecke, die durch das Gebäude selbst und eine hohe Steinmauer gebildet wurde, lag ein kleines offenes Lufthaus, von einer Anpflanzung umgeben, die auf der Erde wuchs, welche man auf den Steingrund gebracht hatte. Man sah, daß sie wohlgehegt war, und auf dem kleinen Platze, wo jedes Zollbreit Erde ausgenützt war, wuchsen all die altmodischen Blumen, die aus den modernen Gartenanlagen mehr und mehr verschwinden. Reseda duftete zu den Füßen der lichten Provencerose, Erbsenblüten schlangen sich um das grüne Spalier des Lusthauses, die dunklen Blätter der Dahlien beschatteten die Astern, die blühen sollten, wenn der Herbst kam, dunkle Sonnenblumen erhoben sich von dem Beete, auf dem Narzissen und Hyazinthen schon verblüht waren und die hellblauen Glocken des Immergrüns aus dem üppigen Laub hervorguckten, das die Einfassung des Beets bedeckte. Auf dem Wege lag eine große grüne Gießkanne vergessen, so als ob sie kürzlich benützt worden wäre.

Die Wohnung, in der die kleine Familie wohnte, war wie der Hof, oder machte wenigstens denselben Eindruck wie dieser. Eine große Eßstube mit einfachen Möbeln und Laufteppichen, ein kleines Wohnzimmer, wo weiße Überzüge die verschnörkelten Stühle und das lange gerade Sofa bedeckten, Mahagonitische, Kupferstiche an den Wänden, ein hoher vergoldeter Spiegel in Rokokogeschmack, von einem rosa Gazeschleier umgeben, ein großer Kronleuchter aus Glasprismen, die in der Sonne schimmerten, welche über den Boden mit seinem alten, abgetretenen Teppich und den weißen Läufern fiel. In allen Farben des Prismas glänzte das Sonnenlicht durch die geschliffenen Gläser, fiel wie Regen über die Wände, huschte über das große Napoleonsbild mit Soldaten, Generälen, weißen Pferden und Wolken von Kanonenrauch, das über dem Sofa hing, und warf die wunderlichsten Glanzlichter auf die pausbäckigen kleinen Engelchen, die von dem unteren Rande der lithographierten Sixtinischen Madonna herausguckten.

Dies war der erste Eindruck, den ich von dem Heim des alten Schullehrers empfing, und ich stand einen Augenblick allein dort drinnen, mich in die eigentümliche Stimmung vertiefend, die dieses Heim erweckte, bevor noch die Hausleute sich zeigten. Ich erinnere mich, daß ich in den ersten Minuten den Eindruck hatte, als erschienen sie mir gleichsam verändert seit dem Tage, an dem ich zum ersten Male über ihre Schwelle getreten war, das junge Mädchen heimbringend, das sich den Fuß verstaucht hatte. Damals waren sie erschrocken und unruhig, ihre Gesten waren heftig, ihre Rede überstürzt. Nun verschmolz der Eindruck der beiden Alten in eigentümlicher Weise mit der Stimmung, die die kleine Wohnung hervorrief, während die Julisonne durch die Fenster schien. Dieser Eindruck verstärkte sich, als wir uns niedergelassen hatten und das erste von den gewöhnlichen Höflichkeitsphrasen unterbrochene Schweigen vorüber war und das Gespräch in Fluß kam.

Im Anfange war ich ganz verwirrt über die Dankbarkeit der beiden Alten für eine an sich selbst so unbedeutende Sache, wie die, daß ich ein junges Mädchen, das sich verletzt hatte, in einem Wagen nach Hause gebracht hatte. Der Lehrer kam unaufhörlich auf diesen Vorfall zurück. Er sprach kurz und in abgehackten Sätzen, beinahe als fürchtete er, seine eigene Rührung zu verraten, und er strich sich einmal ums andere über seinen grauen Bart, während die Augen zu beiden Seiten der gebogenen Nase feucht wurden. Die alte Frau beherrschte sich besser, sprach ruhiger und sah aus, als hätte sie von dem niedrigen Sofa, auf dem sie saß, einen Überblick über alles, was geschieht und sich begibt. Aber ihre Stimme war ebenso freundlich, und ihre Augen musterten mich zwar ein wenig, drückten aber jenes Wohlwollen aus, das man immer so wohltuend empfindet, wenn es von einem Menschen kommt, der lange und gut gelebt hat.

Es war ein wunderlicher Eindruck und eine wunderliche Anziehungskraft, die dieses ganze Heim schon von allem Anfang an auf mich ausübte. Ich erinnere mich, daß ich zuerst das junge Mädchen weniger beachtete, und daß hauptsächlich die Alten mein Interesse in Anspruch nahmen. Sie selbst schienen das nicht begreifen zu können, und ich kann mir sehr wohl denken, daß mein Interesse ihnen seltsam erscheinen mußte. Sie konnten ja nicht wissen, wie verschieden ich im Grunde von meinem ganzen äußeren Menschen war und daß ich mit dieser Umgebung, die so himmelweit von meiner übrigen Welt getrennt war, harmonieren mußte. Sie hörten mich darum mit einem gewissen Mißtrauen sagen, daß ich mich bei ihnen wohl fühlte. Der Alte saß in seiner Sofaecke, rieb sich die Hände und sagte: »Hier kann man nicht viel bieten. Hier ist alles so altfränkisch.« Und die alte Frau sah von ihrem Strickzeug auf, indem sie antwortete: »Es ist vielleicht für jemanden, der etwas anderes gewöhnt ist, eine kleine Abwechslung.« Ich lächelte und dachte, wie wenig ich mich nach etwas anderem sehnte.

Ich versank sozusagen in die Ruhe und Stille, die aus diesen stummen Räumen auf mich einströmte, und im Anfange – bevor ich bei den Alten heimisch geworden war – fiel es mir recht schwer, nicht zu oft zu kommen. Es sprach mich gleich an, daß ich nie jemand anderen traf als die Familie. Diese wurde für mich eine abgeschlossene Welt, deren tägliche Freuden und kleine Sorgen mich mit einem Interesse erfüllten, wie ich früher nicht geglaubt, daß man es für irgend etwas auf der Welt empfinden könne. Es war so gut, in einer Ecke bei diesen Alten zu sitzen und von allem zu sprechen, was in der Welt geschehen war und geschah, so als könnte all dies gar keine Bedeutung für uns haben; diese Stille zu fühlen, die nicht erschüttert werden konnte, und die doch so voll von Gedanken, Interessen und Reiz war. Es war, als gäbe es hier ein Ziel fürs ganze Leben, einen Sinn in jedem ereignislosen Tag, der vorüberging. Hier war die Einförmigkeit nicht drückend, sie war nur natürlich, so als hinge sie mit der Einsamkeit zusammen und bekäme durch diese ihre Erklärung. In jedem Zimmer hingen Porträts, blasse Daguerrotypien und moderne Kabinettphotographien. »Es ist zuweilen wunderlich zu wissen,« sagte der Alte, »daß so viele unserer Freunde tot sind.« Und er fügte hinzu: »In meinen Jahren lernt man selten neue kennen.«

Ich fühlte mich von diesen Worten so seltsam berührt, als offenbarten sie mir ein Geheimnis, das mir mein ganzes Leben hindurch verborgen gewesen war, und ich entsinne mich, daß ich mich während dieser Zeit zum ersten Male bedrückt, unruhig und sehnsüchtig fühlte, wenn ich einmal an einem Abend allein zu Hause saß. Aber während die Tage gingen, gewöhnte ich mich daran, meine Besuche in der Familie natürlich zu finden, ich merkte, daß ich willkommen war, und bald kam ich jeden Tag.

 

Während dieses ganzen Sommers vergaß ich von meinem Recht auf Urlaub Gebrauch zu machen und ins Ausland zu reisen, und ich kann sagen, daß ich eigentlich in dem kleinen Lusthaus auf der Terrasse des bepflanzten Hofs lebte. Ich sah die Blätter der Rosen fallen, welken und sterben, ich sah, wie Stiefmütterchen und Reseda von Levkojen und Erbsenblüten abgelöst wurden. Ich sah diesen die prachtvolle Blütezeit der Sonnenblumen folgen, ich sah Astern und Dahlien kommen. Auch diese sah ich verschwinden, als die erste Frostnacht kam und es nichts mehr gab, dessen man sich freuen konnte, als den klaren Sonnenschein, der über die abfallenden Blätter der alten Ulme gaukelte. Ja, ich erinnere mich auch an den Tag, wo diese entblättert und kahl dastand und wir durch die Kälte von unserem sommerlichen Lieblingsplätzchen vertrieben und auf die Stuben in der Wohnung der beiden Alten verwiesen wurden.

Aber es war für mich kaum eine Entbehrung, als die kalten Herbststürme kamen und der Wind vom Meere um die Stadt heulte und uns miteinander einschloß. Es verursachte mir kein Bedauern. Es war nur ein Wechsel der Jahreszeit, der so unmerklich und still kam, daß es mir kaum bewußt wurde, daß etwas in unserem Leben sich verändert hatte. Daß der Sommer nach dem Frühling kam und der Herbst auf den Sommer folgte und der Winter mit seinem Schnee die Sommererinnerungen des Herbstes bedecken würde – was lag Wunderliches darin, wo doch jeder Tag seine Bedeutung hatte, jede Stunde, die ging, von einem Sinn erfüllt war, von einem Gedanken, oft von einer Freude?

Ich kannte nun das Leben der Alten in- und auswendig. Ich wußte, daß es nichts anderes barg, als eine Menge kleiner Tätigkeiten, daß, wenn das Mittagessen vorüber war, der Nachmittag mit seiner Tasse Kaffee und seiner Pfeife kam, und wenn der Abend kam, schied man mit dem Gedanken, sich am nächsten Morgen wieder in Freude zu begegnen. Das war alles. Der Rest war eine kleine Anpflanzung, eine Menge Blumen im Hause, ein großes Vogelbauer, das den Vorraum mit Jubel und Gesang erfüllte. Das war alles. Wenigstens glaubte ich anfangs so.

 

Aber ich merkte bald, daß es etwas anderes gab, das in diesem Heim mehr bedeutete, als die alten Gewohnheiten, die täglichen Sorgen, die Stille, ja selbst die Erinnerung an verstorbene Freunde. Ich begreife nachträglich nicht, daß ich es nicht früher merkte. Ich lebte einen ganzen Sommer unter diesen Menschen, ohne daß ich begriff, was ihrem Leben seinen ruhigen Glanz, ihrem Heim sein Gepräge gab. Aber ich sah es nicht. Ich sah sie nicht. Ich fühlte mich bei diesen stillen Menschen so wohl, daß ich nicht wußte, daß die Sonne ihres Alters Margit hieß, das junge Mädchen, das mich zuerst in dieses Heim geführt, es nicht wußte, bis der Herbst kam und ich mich schon daran gewöhnt hatte, wie einer der Ihren zu sein, jemand, dessen Abwesenheit bemerkt worden wäre, sogar wenn ich selbst versucht hätte, fortzubleiben.

Ich hätte es vielleicht nicht einmal dann gemerkt, wenn nicht Margit zu Verwandten eingeladen worden wäre und man mir nicht eines schönen Tages erzählt hätte, daß sie nach Stockholm reisen würde, um einen ganzen Monat fortzubleiben. Ich erinnere mich, daß es mich bei dieser Nachricht durchzuckte, und zum ersten Male in meinem Leben sah ich das junge Mädchen an und sah, daß sie schön war. Hoch, schlank, mit hellem, weichem Teint, und einem Ausdruck der Freude in ihrem erwartungsvollen Gesicht stand sie vor mir. Ich sah ihre feine schmale Hand die Karaffe halten, während sie fragte, ob sie mir zum Kaffee ein Gläschen einschenken dürfe. Die Augen leuchteten und die weißen Zähne glitzerten hinter den lächelnden Lippen. Es lag wie ein Sonnenschimmer um ihre ganze Gestalt. Sie nickte mir zu und sagte: »Ja, ich soll fortreisen. Können Sie sich das denken?« Ich konnte es mir wirklich nicht denken, und während ich heimging, beschäftigte mich diese Neuigkeit wie eine Sache von allergrößter Bedeutung.

Margit reiste ab, und ich blieb mit den Alten allein. Sie baten mich, oft zu ihnen zu kommen, und ich fühlte, daß ich wie ein Schuljunge errötete, als die alte Frau sagte: »Herr German wird vielleicht bald müde werden, zu uns beiden Alten zu kommen.« »Das wird er gewiß nicht,« meinte Margit. »Ich bin sicher, daß er viel öfter kommt als früher.« Margit behielt natürlich recht. Ich kam noch öfter, ich kam jeden Tag, manchmal zweimal am Tage.

Unser Zusammenleben war in dieser Zeit vielleicht noch inniger denn je. Denn ohne daß wir uns davon Rechenschaft gaben, hatten wir in der Abwesenden ein gemeinsames Interesse, das in ganz besonderer Weise den Vereinigungspunkt in unserem Kreise bildete. Unsere Gespräche knüpften sich an Margits Briefe, und da diese fast jeden zweiten Tag kamen, gaben sie uns meist genügenden Gesprächsstoff, bis wieder ein neuer ankam und uns neue Themen zu Überlegungen und Gesprächen gab. Diese Briefe waren übrigens wirkliche kleine Tagebücher, und sie bat die Eltern, sie gut aufzuheben, damit sie, wenn sie heimkäme, sich wieder an all das Herrliche, das sie erlebt, erinnern könnte. Sie hätte wirklich nicht darum bitten müssen. Denn es gab niemanden, der daran dachte, diese Briefe zu zerstören, in denen die ganze Frische eines jungen Mädchens war, das zum ersten Male etwas von der Welt sieht und sich durch alles, was es sieht, beglückt fühlt. Sie erzählten von Promenaden und Ausflügen, von Theaterbesuchen und Musikabenden. Sie schilderten Eindrücke aus Museen und Ausstellungen. Wenn sie von einem Abend im Grand Hotel oder einem Mittagessen in Hasselbacken erzählte, lag etwas Neckisches im ganzen Ton des Briefes, und ich erinnere mich, wie sehr es mich freute, wenn sie sich in ihrer Auffassung der jungen Herrenwelt ein wenig ironisch zeigte. Aber wenn sie von ihren Kunsteindrücken sprach, wurde sie ernst, so, als hätte sie in neue Welten des Lebens geschaut, die ihrem eigenen erhöhten Glanz liehen. Nie glaubte ich Stockholm so gesehen zu haben wie jetzt, nie hatte ich gewußt, daß diese Stadt, in der ich wie in meiner eigenen daheim war, all die Herrlichkeiten barg, die ich in diesen Briefen wiederfand. Es schien mir, daß die Hauptstadt eine ganz neue Bedeutung erlangt hatte, die viel höher war, als ich es je ahnen konnte. Ein kleines Wort, eine Wendung warf den Sonnenstrahl des glücklichen Lächelns Margits über diese Orte, diese Vergnügungen und Persönlichkeiten, die für mich alte Bekannte waren, und dieses Lächeln folgte mir, so daß ich in diesem Monat in und mit Margit vielleicht intensiver und voller lebte, als wenn ich an ihrer Seite gesehen hätte, was sie sah, und der selige Glanz ihrer jungen Augen mich erwärmt hätte.

Ich glaube, daß die Eltern etwas Ähnliches gefühlt haben müssen. Denn es war augenscheinlich, daß Margits Abwesenheit sie nicht verstimmte, wie ich zuerst glaubte, daß es der Fall sein würde. Im Gegenteil, sie waren beide wie verjüngt. Sie lächelten bei jeder Erinnerung, die diese Briefe in ihnen erweckten, sie erzählten von früheren Besuchen in der Hauptstadt, die sie selbst gemacht, und es sah aus, als lebten sie in diesem Monat ihre eigene Jugend wieder. »Sie unterhält sich,« sagte der Alte und rieb sich die Hände. Er sah fröhlich aus, so als stände er im Begriffe, für sein eigen Teil Torheiten zu begehen, als er diese Worte aussprach. Und es war uns allen so zumute, als wenn wir an dem Festmonat ihrer Jugend teilgenommen hätten. Dann lasen wir ihre letzten Briefe wieder – oft war ich es, der sie den Alten laut vorlas, und es geschah zuweilen, daß sie uneröffnet aufgehoben wurden, damit wir gemeinsam den ersten Duft ihrer Beschreibungen genießen könnten – wir unterbrachen die Lektüre, um zu bemerken, wie gut sie schrieb oder wie fein ihr Verständnis war, und ich glaube, daß wir nicht wußten, wer von uns dreien am weitesten in der kindlichen Bewunderung unseres entzückenden Kindes ging.

So war uns zumute, und ich erinnere mich, daß ich nur ein einziges Mal eine Spur von Mißstimmung in mir selbst entdeckte. Das war, als sie in ihrem letzten Briefe schrieb: »Ja, nun ist alles aus. Und nun komme ich bald wieder heim.« »Alles aus,« dachte ich, »sie hat uns vergessen, sie sehnt sich gar nicht einmal darnach, uns wiederzusehen.« »Das ist ganz natürlich,« dachte ich weiter, »was haben wir Alten ihr wohl zu bieten, das die ganze große weite Welt und all ihre Herrlichkeit aufwiegen könnte?« Aber in mir hatte ich das Gefühl einer großen schmerzlichen Leere, und es gelang mir nicht, ihre herzlichen Schlußgrüße als etwas anderes zu deuten, als einen matten Versuch, den Kopf hoch zu halten. Ich glaubte zu sehen, wie sie weinte, als sie den letzten Abend allein in ihrem Stübchen saß, sich vielleicht in den Schlaf weinte wie ein unglückliches Kind, das aus einem schönen Traum erwacht ist und sich wieder mitten in die kalte Wirklichkeit versetzt sieht. Wie im Fieber ging ich an dem Tage umher, an dem ich wußte, daß sie wieder heimkommen würde. Ich dachte daran, daß sie jetzt, wo sie zurückkam, vielleicht ganz anders sein würde. Ich wünschte beinahe, daß ihre Heimreise aufgeschoben wäre, wünschte, daß mir noch einige Tage des Lebens, das mir so teuer geworden war, bevorständen. Ich glaubte, daß sie selbst, wenn ich sie wiedersah, mein Glück stören, mich von der Freude ausschließen würde, die ich genossen hatte. Ja, ich hatte Angst davor, sie wiederzusehen, ich war bange wie ein Junge, der glaubt, daß er jung und kindisch erscheinen wird, wenn er mit einem gleichalterigen Mädchen spricht, das seine Phantasie gefangen genommen hat.

All das wurde mir damals nicht völlig klar. Ich hatte nur das Gefühl, als ob alles, woran ich mich lange gefreut, plötzlich verschwinden würde. Ich war der einzige Überflüssige in diesem Kreis, in dem der Zufall mich zu einem geduldeten Mitglied gemacht, und ich wünschte tausendmal, daß ich mich nie hätte dazu verleiten lassen, die Schale zu durchbrechen, die mich bis dahin vor jeder Berührung mit dem Leben anderer Menschen geschützt hatte.

Ich hatte mir jedoch meine eigenen Gefühle bei dem Wiedersehen mit Margit so lebhaft ausgemalt, daß die Begegnung selbst mir ganz anders erschien, als ich eigentlich erwartet hatte. Mein erstes Gefühl war eigentlich, daß nun alles war wie früher, daß nichts sich verändert hatte, und ich teilte beinahe die Freude der Alten darüber, daß wir sie nun wieder hatten. Ich hatte die Empfindung, daß das Leben ohne meinen Willen in neue Bahnen glitt, und ich gab mich diesem wunderlichen Gefühl hin, von der unerklärlichen Empfindung erfüllt, daß ein unbeschreibliches Glück meiner harrte.

Nun erzählte mir mein alter Freund eines Abends von Margit. »Du glaubst gewiß, daß sie unser Kind ist,« sagte er. »Und es ist ja auch ganz natürlich, daß du nichts anderes glauben kannst. Aber,« fügte er hinzu, »das ist das einzige Glück, das das Leben mir versagt hat. Meine Frau und ich, wir haben nie eigene Kinder gehabt.« Ich saß da und dachte an das, was ich gehört hatte, es erschien mir nicht wunderlich, daß er es mir erst jetzt erzählte, ich glaubte nur, daß ich es schon früher einmal gehört hatte und daß es natürlich war. »Ich begreife nicht, daß ich dir das nicht schon früher gesagt habe,« fügte er hinzu.

Ich dachte nicht daran. Ich saß ja nur da und freute mich, daß dies in irgend einer wunderbaren Weise geschehen war und daß ich es erfahren hatte. Ich wußte nicht warum, aber es schien mir, daß dies mir in unerforschlicher Weise Margit näher brachte. Inzwischen erzählte der Alte eine romantische Geschichte von einer Frau, mit der er entfernt verwandt war und die ihn in ihrer Todesstunde hatte holen lassen, nachdem sie einer Tochter das Leben geschenkt hatte. Aus der Erzählung des Alten empfing ich im übrigen den Eindruck, daß sie nicht die Frau gewesen war, für die er sie in seiner Güte hielt. Er sagte mir, sie sei unglücklich und verlassen gewesen und habe keinen anderen Wunsch gehabt, als ruhig zu sterben. Er hatte Margit von diesem Totenbette mit heimgebracht, und er sagte mir, daß er geglaubt hatte, ein Lächeln auf dem Gesichtchen des neugeborenen Kindes zu sehen, als er sich zum ersten Male über dessen Bettchen beugte.

Dies alles erzählte er mir, und er sah erstaunt aus, weil ich, der ich mich sonst für die geringste Kleinigkeit interessierte, die sie oder ihr Leben betraf, mir nicht einmal die Mühe nahm, etwas darauf zu erwidern. Es kam mir auch selbst zum Bewußtsein, daß ich einen wunderlichen Eindruck machte. Aber ich konnte mich nicht aus den Träumen losreißen, die mich umfingen und über die sie mit einer Stärke herrschte, die mir beinahe Schmerz verursachte. Ich war so von diesem erfüllt, daß ich nicht wie gewöhnlich zum Abend bleiben konnte. Ich sagte Gutenacht und ging heim, und mein Herz zitterte vor Jubel.

Daß Margit im Leben allein stand, war alles, was ich denken konnte, einsam wie ich selbst, ja noch einsamer. Wenn die Alten einmal tot waren, würde niemand darnach fragen, ob sie lebte oder starb. Sie würde dann nur mich haben, ich würde ihr Vater, Bruder und Freund sein. Alles andere verschwand vor diesem Gedanken, dessen Glückseligkeit so überwältigend war, daß keine Musik mir je so schön geklungen hatte wie dieser stumme Jubel, der mein ganzes Wesen erfüllte und Tränen in meine Augen lockte. »Margit,« sagte ich für mich selbst, »Margit!« Und ich ging in meinem Zimmer umher, mit dem Gefühl, daß sie meine Stimme hören und kommen müßte, wenn ich nach ihr riefe.

Mein ganzes Leben zog in dieser Stunde an mir vorbei. Nackt, leer, freudlos und in einen unfaßbaren Jubel ausmündend, zog es in dem wehmütigen, zitternden Licht der Erinnerung und der Hoffnung an mir vorbei. Ich dachte an die Frauen, die ich geliebt hatte, und an die, die ich zu lieben geglaubt. Leere, kalte Frauen, Frauen ohne Herz und ohne Seele, voll Berechnung, List und Verstellung, Frauen, die sich selbst verwerteten, ihre Schönheit und ihren Körper, und deren einziger versöhnender Zug die unberechenbar gewaltsame Laune der Sinne war. Ich sah sie vor mir, eine nach der anderen, und sie schienen vor meinem Blick zu entfliehen, tief in den Nebel zu fliehen, der das Verflossene umhüllt. Es war mir, als hätte ich gelebt, ohne zu sehen und zu verstehen. Ich hatte nichts anderes gesehen als sie, und in meiner Erregung glaubte ich, daß es ihre Schuld war, daß ich so lange gleichsam neben meinem eigenen Leben einhergegangen war, ihre Schuld, daß ich ein unnützer Mensch war, der nur für sich selbst lebte.

Ich war voll Glück, ich empfand kein Zaudern, keine Furcht. Denn Margit gegenüber empfand ich nichts von dem Begehren der Liebe. Ich würde über mich selbst gelacht haben, wenn ich auf den Gedanken gekommen wäre, das Gefühl, das ich für sie hegte, Liebe zu nennen. Ich war nur glücklich, in ihrer Nähe weilen zu dürfen und es war mir nicht möglich, weiter in die Zukunft zu denken.

Aber der Winter verging, und der Frühling kam, und diese ganze Zeit lebte ich mein neues Leben mit diesen drei Menschen, die mein Glück und der Zweck meines Daseins waren. Margit wurde mit jedem Tage schöner, und es schien mir, daß sie sich mir gleichsam immer mehr näherte. Sie wandte sich an mich, wenn sie sprach; das war vielleicht, weil sie nach ihrer Reise vieles wissen wollte, wovon ich ihr erzählen konnte. Das tat ich auch, und zwischen uns entstand gleichsam eine ganze Welt von Gedanken und Interessen, die ihr Netz um meine Gefühle spannen und mich zu ihr hinzogen. Den Übergang vom Winter zum Frühling merkten wir gar nicht, ebensowenig als ich je merkte, wann meine Gefühle für sie ihr Wesen veränderten. Aber als der Frühling kam, pflegte sie mit mir allein Spaziergänge zu unternehmen, denn die beiden Alten konnten nicht so weit gehen, und da sagte ich ihr eines Tages, wie innig lieb ich sie hatte und wie reich sie mein ganzes Leben machte. Ich war ganz bestürzt, als ich sie in Tränen ausbrechen sah, und noch mehr ergriff es mich, als sie meine Hand faßte und sie ohne ein Wort in der ihren behielt. »Um Gottes willen,« sagte ich, »mißverstehen Sie mich nicht! Sie dürfen nicht glauben, daß ich je etwas begehrt habe, was Sie mir nicht geben könnten. Ich will nur, daß Sie wissen, wie grenzenlos glücklich Sie mich gemacht haben.« Da weinte sie nicht mehr, sondern antwortete: »Und was wäre das, was ich Ihnen nicht geben könnte?« Ihre Stimme, ihr Blick, ihre ganze Gestalt schienen mich zu liebkosen. »Margit! Margit!« rief ich aus, »ich bin ein alter Mann.« »Ah!« Sie lachte mich aus, lachte wie ein Kind. Und wir wanderten unseren gewohnten Weg, uns mit den Armen umschlungen haltend, während das kleine Vöglein über unseren Häuptern zwitscherte. – –

Diese Stunde möchte ich aus meinem Leben reißen, und wenn ich denke, wie glücklich ich damals war, preßt sich mein Herz im Krampf zusammen. Aber glücklich war ich damals, glücklicher als Menschen sind, und in mir war der Himmel höher als der Himmel der Erde, und Sonne und Sterne tauschten da so leicht ihren Platz wie die Stunden für die Erdenkinder wechseln. Ich hätte den Staub unter ihren Füßen, den Saum ihres Gewandes küssen mögen, ich wollte sie auf meinen Armen tragen, sie hoch emporheben, wo das Weh der Erde sie nicht erreichen konnte. Ich erinnere mich an alles aus dieser Zeit, und dennoch glaube ich mich an nichts erinnern zu können. Es ist wie die Erinnerung an große Musik. Ich erinnere mich an alles, es kommen Takte, die ich summen kann, dann verschwinden sie wieder, und in der Erinnerung ist ein einziges bebendes Gefühl, das weint und jubelt, klagt und lächelt, aber vom Leben erfüllt ist so wie die Umarmung der Liebe.

Durch dieses Glück glitt ich dahin, all meine Jahre vergessend, alles vergessend, was ich erlebt, und so kam der Tag, an dem die Kirchenglocken läuteten und ich meiner Braut in dem kleinen Salon begegnen sollte, in dem wir beinahe ein ganzes Jahr miteinander gelebt hatten, und wo Napoleon und seine Generäle von tanzenden Sonnenpünktchen überhuscht wurden, während an der gegenüberliegenden Wand das Licht durch die Glasprismen des Kronleuchters gebrochen auf die Madonna mit dem Kinde fiel, die auf den Wolken des Himmels emporsteigt, umjubelt von den Heiligen der Erde und des Himmels.

Aber vor diesem Tage durchlebte ich eine Nacht, die in seltsamer Weise im Gegensatz zu dem Leben stand, das mir so still und unerwartet zuteil geworden war. Das war die Nacht vor meiner Hochzeit, ich ging allein durch meine Zimmer, die ich nun bald verlassen sollte, und wehmutsvoll verweilten meine Gedanken bei dem Verflossenen. Es war Ende August, wenig mehr als ein Jahr seit dem Tage, der begonnen hatte, mein ganzes Schicksal zu verändern. Hell und klar leuchtete der Augustmond vor meinen Fenstern, die Gasse war stumm, und sachte ging ich auf und ab und nahm von meinem alten Leben Abschied. So als hätten meine Gedanken und Erinnerungen sich in den Möbeln, Tapeten, Wänden, ja in der ganzen Atmosphäre dieser Räume, die ich durch so viel Jahre bewohnt, eingenistet, erschien es mir, als flüsterten all die Gedanken, die ich einst gedacht, all die unbedeutenden Erinnerungen, die mein früheres Leben barg, in ihrer stummen Sprache mit mir und wiegten mich in unbestimmte Träume, die mir von Ahnungen der Zukunft erfüllt schienen. Mir war so weich ums Herz, wie wenn man von Dankbarkeit erfüllt ist und gleichsam umhergeht und jemanden sucht, dem man dies zeigen kann. Und in der Erwartung dessen, was kommen würde, dachte ich an das, was gewesen war.

Da überraschte mich plötzlich der Gedanke, daß ich während eines ganzen Jahres nicht wie früher gelebt hatte, ich war ein anderer geworden, und ich hatte mein früheres Ich vergessen, so wie man ein Kleid vergißt, das man zu tragen aufhört. Alles, was gewesen, und alles, was ich gewesen, stieg aus den Schatten der Vergangenheit auf und erhob sich aus dem Dunkel des Daseins selbst gleichsam drohend gegen mich. Und zum ersten Male wurde es mir bewußt, daß ich nicht mehr mit dem anderen sprach, wenn ich allein war. Diese Entdeckung machte mich zuerst lächeln, wie eine wunderliche Kinderei, aber zugleich fühlte ich mich in seltsamer Weise beklommen. Es war, als hätte ich etwas vergessen, das zu vergessen ich nicht das Recht besaß, als hätte mich das Glück ungerecht, saumselig gemacht. Es war beinahe, als hätte ich eine Pflicht außer acht gelassen. Und während ich daran dachte, zuckte ich plötzlich zusammen. Die Stimme, die ich früher so oft in mir erklingen gehört hatte, sprach zum ersten Male während dieses ganzen letzten Jahrs. Deutlich und klar, als wäre ich nicht allein in meinem Zimmer, hörte ich diese Stimme sagen: »Tu es nicht! Tu es nicht! Tu es nicht!«

Ein Gefühl namenlosen Schreckens überfiel mich. Was wollte er von mir? Was wollte diese Stimme? Warum ließ sie sich gerade jetzt hören, wo das Vergangene begraben und ich kaum erst glücklich geworden war? So als würde ich gewaltsam zu dem Verflossenen zurückgezogen, begann ich wie einst zu denken oder zu sprechen, und ich dachte: »Was willst du von mir?« »Ich will dich retten,« antwortete die Stimme. »Warum hast du nicht früher gesprochen?« fragte ich weiter. »Ich habe gesprochen und gesprochen. Aber du hast mich nicht gehört,« lautete die Antwort. »Nun ist es zu spät,« erwiderte ich, »es ist zu spät.« »Heute nicht, aber morgen,« antwortete wieder dieselbe Stimme. »Reise, reise. Versäume keine Minute.«

So ging ich lange auf und ab, ohne Worte mit mir selbst sprechend. Ich kann nicht erklären, wie dies möglich war, weiß nur, daß es sich so verhielt. Rings um mich nahm die Dämmerung zu, und der Mond versteckte sich in Wolken. Ich zündete die Lampe an, es wurde hell, aber die Stimme in mir wollte nicht verstummen. Sie sprach so laut, daß ich beinahe meinte, sie wirklich mit den Ohren zu hören. Ich rang in Angst die Hände; ohne zu ermatten, als wäre ich verurteilt, gerade in dieser Nacht nicht Rast noch Ruhe zu finden, schritt ich Stunde für Stunde in meinen Zimmern auf und nieder. Ich ging und wehrte mich gegen meine eigenen Gefühle. Aber ich vermochte sie nicht zu beherrschen, und als ich endlich in meinem Bette lag, mit den Kräften kämpfend, die um die Herrschaft in meiner Seele rangen, glich ich nicht einem Manne, der am nächsten Tag Hochzeit feiern sollte.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, war ich ermattet wie nach einer langen Krankheit, ich war bleich, und in der Erregung, in der ich mich befand, schien es mir, daß ich in den wenigen Stunden, die verflossen waren, seit ich meiner Braut Gutenacht gesagt hatte, alt geworden war. Aber während ich mich ankleidete, sanken die Gedanken der Nacht wieder in Vergessenheit zurück, und als ich hinausblickte, lag Sonnenschein über der Straße. Ich öffnete das Fenster und ließ die warme Sommerluft hereinströmen. Als wäre ein ganz neuer Mensch in mir erwacht, fühlte ich wieder die Freude in meiner Brust emporsteigen. Es kam mir zum Bewußtsein, daß ich nie mehr allein zu sein brauchte, nie mehr jene Angst fühlen mußte, die panischer Schrecken heißt und die jemand daher die Furcht vor unserer eigenen Natur genannt hat. Ich glaubte, daß ich die ganze Nacht, wachend oder schlafend, in einem bösen Traum herumgegangen war. Aber nun war ich wieder erwacht, nun wartete meiner das Glück, nie mehr würde ich allein schlafen, nie mehr diese Stimme sprechen hören, die nicht meine eigene war. Ich vergaß sie, so wie man die Krankheit vergißt, wenn man sich wieder für gesund hält. Voll Ungeduld ging ich aus, kaufte einen großen Strauß Rosen und ging gegen alle Sitte und Brauch vormittags zu meinen Schwiegereltern, um nur Margit zu sehen.

Sie stieß einen leichten Schrei aus, als ich eintrat. Denn der Bräutigam soll ja die Braut am Hochzeitstage nicht vor der Trauung sehen, weil das Unglück bedeutet. Aber ich küßte ihren Unwillen fort, der übrigens nur gespielt war, ich blieb den ganzen Vormittag, und ich war die ganze Zeit in einem Gemütszustand, der sich nicht beschreiben läßt. Ob es nun Glück oder Unglück war, was mein Inneres beherrschte, ich weiß es nicht. Aber unaufhörlich fühlte ich, wie mir die Tränen in die Augen kamen, und als ich heimging, um mich umzukleiden, war ich ruhig und zufrieden, wie an all den vorhergehenden Tagen.

Es ist seltsam, wie ich mich all der Einzelheiten entsinne, die die Stunden dieses ganzen Tages ausfüllten. Ich erinnere mich, daß ein Knopf an meinem Hemde abriß und daß ich ihn wieder annähen mußte, daß ich meine weißen Handschuhe fallen ließ, als ich sie aus der Lade nahm, daß ich die Zeitung Spalte für Spalte las, als ich fertig angekleidet war, nur damit die Zeit verginge. Ich erinnere mich an all das. Aber ich erinnere mich nicht daran, wie man sich gewöhnlich an alltägliche Dinge erinnert. Ich erinnere mich daran mit einer Schärfe, die diese bedeutungslosen Geschehnisse in ein unnatürliches Licht stellt, in dem die Gegenstände keinen Schatten zu haben scheinen. In der Erinnerung sehe ich die ganze Zeit mich selbst. Es ist, als könnte ich durch mein eigenes Fenster blicken und alles betrachten, was ich selbst vornahm. Ich kann noch sehen, wie ich meinen Rock auf den Arm nahm und den Hut aufsetzte, ich kann den Laut vernehmen, als ich die Türe hinter mir zuschloß, und ich höre noch meine eigenen Schritte, als ich über die Treppe ging, und das Krachen des Tores, das ins Schloß fiel.

Dann erinnere ich mich an nichts, bis ich vor dem Geistlichen stand, in dem kleinen Salon, wo die Überzüge fortgenommen waren und die Sonne durch die Prismen des Kronleuchters Strahlenbündel von Farbenglanz über den Kranz und das Haar der Braut warf. Weißgekleidet und schlank, jung und rosig stand sie an meiner Seite, und ich schob meinen Ring an ihren Finger. In meinem Ohr klangen die Worte des Priesters: So nimm sie denn zu deinem Eheweibe und liebe sie in Freud und Leid, und ich stand da und wartete darauf zu fühlen, wie das Glück meine Brust erfüllte. Aber ich empfand nichts, ich wartete nur, und ich vernahm um mich das Rauschen großer Flügel. Ich glaubte, daß es die Feierlichkeit des Glücks war, die mich mit Andacht erfüllte. Ich ahnte damals nicht, daß das, was geschah, der Gegensatz von all dem war, was ich sah, dachte und ahnte, der Gegensatz gerade des heiligen Aktes, der allen Augen Tränen entlockte, nur den meinen nicht.

Es war besprochen, daß wir ein paar Tage in einem Hotel der Stadt wohnen sollten, und dann wollte ich Margit fortführen, um ihr zu zeigen, wie herrlich die Erde war, und um noch einmal die Orte zu besuchen, wo ich mich in meiner Einsamkeit heimisch gefühlt hatte, und ihre Schönheit aufs neue zu genießen, indem ich sie in der Empfänglichkeit ihrer Jugend gespiegelt sah. Margit hatte es so gewünscht, damit die beiden Alten nicht sogleich allein blieben, und ich hatte mich darein gefügt, weil sie es wünschte. Und von den stummen Segenswünschen der Alten begleitet, fuhren wir, als der Abend angebrochen war, heim in unsere Zimmer.

Wie gut erinnere ich mich an diese kurze Fahrt! Wie gut erinnere ich mich, wie Margit sich an mich lehnte, wie sie weinte und lachte und wie wir endlich allein blieben und ich das Gefühl hatte, daß ich nun von allen quälenden Gedanken befreit sein würde.

Das war ich auch. Großer Gott, ich war von allen Sorgen, aller Unschlüssigkeit befreit, die Jahre, die uns trennten, schienen mir verschwunden und ausgelöscht von der großen Gerechtigkeit, die mir endlich das schenkte, was ich nie vom Leben zu hoffen gewagt. Obgleich ich ein Mann war, wollte ich selbst vor Freude weinen, und ich glaube, daß ich es tat. Aber erst als der Morgen mit seiner klaren Sonne kam, fühlte ich mich so glücklich, wie ich an dem Tage, der vergangen war, gewünscht hatte zu sein. Und als ich angekleidet war, sehnte ich mich nach Margit, sehnte mich, als wäre ich Wochen und Monate hindurch von ihr getrennt gewesen. Ich mußte sie wiedersehen, und ich ging abermals ins Schlafzimmer.

Sie saß vor dem Spiegel, und durch die auseinandergezogenen Vorhänge übergoß der Sonnenschein ihre ganze Gestalt mit einer Flut von gedämpftem Licht. Es war wie ein Glorienschein um ihr Haar, das sie zwischen den Händen drehte und im Nacken befestigte. Ihre entblößten Arme und ihr Nacken schienen in diesem wunderbaren Licht zu erröten, und als ich mich ihr näherte, wandte sie sich um, während ihr ganzes Antlitz mir selig entgegenlächelte. Nie war sie mir so strahlend, so jung erschienen, nie hatte mich die Gewißheit, daß sie mein war, mit so unsagbarem Jubel erfüllt. Ich wagte nicht, mich ihr zu nähern, ich stand nur still neben ihr und sah in diese Augen, die, ohne daß sie sprach, den meinen begegneten, bis sie mir ihre Arme entgegenstreckte und ich mich hinab beugte, um ihrem Kuß zu begegnen.

Da wurde es plötzlich schwarz vor meinen Augen, und ich erhob mich mit einem Gefühl, als wankte die Erde unter meinen Füßen. Denn auf ihrem Halse, unter der Spitze des Hemdes, sah ich ein kleines rotes Mal in wunderlicher Streifenform. Ich stand stille und sah es an, und ich weiß, daß die Farbe aus meinen Wangen wich. Denn ich erkannte dieses Mal. Ich hatte es schon einmal gesehen. Eine halbvergessene Erinnerung zuckte blitzartig durch meine Seele, und wie ein Ertrinkender rang ich nach Luft. Ich sah eine andere Frau vor mir, ein reifes fünfunddreißigjähriges Weib. Ich sah mich selbst als jungen Mann zu ihren Füßen knieen, die Arme um ihren Hals und meine Lippen scherzend auf dieses selbe rote Mal gepreßt. Ich sah das so deutlich, als erlebte ich es aufs neue, und ich wurde erst durch die ängstliche Frage, ob ich krank sei, aus meiner Vision gerissen.

Ich antwortete Margit, so gut ich konnte. Ich gab vor, daß es ein plötzliches Unwohlsein wäre, an dem ich oft litte, das aber nichts zu bedeuten hätte, sagte, daß ich eine halbe Stunde frische Luft brauchte. Was weiß ich? Ich erinnere mich nicht, was ich ihr sagte, wußte nicht, ob sie mir glaubte. Aber wie ein Trunkener wankte ich aus ihrem Zimmer und stürzte hinaus.

Was ist noch zu erzählen? Was sonst, als daß ich alles, was das Leben aus mir gemacht hat, umgestalten möchte, vom ersten Tage bis zum letzten. Ein einziges Wesen habe ich geliebt, und diesem Wesen habe ich die wärmende Lebenssonne gestohlen. Denn nie wird sie vergessen, daß der Mann, dem sie ihr Vertrauen schenkte, an dem Tage nach der Nacht, in der sie in Liebe die seine wurde, von ihr geflohen ist.

Ich ging zu dem Alten, und ich fand ihn allein. Seine Frau war, müde von den Gemütserregungen des Vortags, noch nicht aufgestanden. Ich fand ihn, wie gesagt, allein, und wir sprachen lange miteinander. Ich fragte ihn nach allem, und ich glaube nicht, daß er meine Angst sah. Dem Äußeren nach war ich ruhig und kalt, denn ich fühlte, daß ich um jeden Preis meine Energie aufrecht halten mußte, um mich nicht zu verraten. Denn gab ich dem Aufruhr nach, der in jedem Augenblick losbrechen wollte, dann war ich nicht mehr Herr über meine Handlungen und meine Worte. Und ich mußte wissen, mußte alles wissen, damit das Grauenvolle nicht noch mehr Böses stiftete, als es schon getan. Ich hatte übrigens keinen anderen Plan bei meinem Vorgehen, als daß ich Gewißheit haben mußte, und ich erfuhr auch den Namen der Frau, die die Mutter meines Weibes war. Die ganze Zeit sprach ich mit Fassung, und ich verriet mein Geheimnis mit keinem Worte.

Nie werde ich mir jedoch sagen können, warum diese Frau, die ich ein paar flüchtige Wochen meines Lebens gekannt, mir das Geheimnis vorenthielt, es mich nicht mit ihr teilen ließ. Nie werde ich erfahren, was der Grund ihres Schweigens war. Nichts, nichts mehr, als daß ich mich in der Stunde versündigte, als ich nicht begriff, daß Margit meine Tochter war. Ich hielt mich ferne an diesem Tage, an dem das Unglück mich traf. Ich fand einen Vorwand, und am selben Abend reiste ich ab und ließ Margit in ihrem Heim zurück. Ich fuhr Tag und Nacht durch, bis ich weit entfernt von meiner Heimatstadt und meinem Lande war. Die Welt schien mir nicht groß genug für den Abstand, den ich zwischen sie und mich legen wollte.

Hier sitze ich nun, und langsam verrinnen die Stunden, langsam wie die Sandkörner aus den alten Stundengläsern fallen, die man wenden und wenden kann, während in alle Ewigkeit der Sand durch ihre Spitze rinnt. Wißt ihr, ihr glücklichen Menschen, was es heißen will, eine Tat ungeschehen zu wünschen und nichts wieder gut machen zu können? Ich habe es erfahren, ich, der ich um ihretwillen mein ganzes Leben wieder leben wollte und nur weiß, daß ich alt bin, daß in den wenigen Tagen, die vergangen sind, meine Wangen gefurcht und mein Haar grau geworden ist. Das Entsetzliche, das ich erlebt habe, hat meinem Leben den Stempel aufgedrückt, und es steht mir nun nicht mehr viel bevor, nur das eine, ein Ende zu machen. Vorher möchte ich nur an Margit schreiben und ihr Lebewohl sagen. Aber ich kann es ja nicht, denn was sollte ich ihr wohl sagen?

Aber hier im fremden Lande, wo niemand mich kennt und ich niemanden kenne, hier will ich eines Tages einsam sterben, und ich werde nicht zu lange leiden. Ich werde es bald tun, und Margit wird glauben, daß ich, als ich dies tat, den Verstand verloren hatte, oder sie wird denken, daß ich gestorben bin, um sie zu schonen. Etwas anderes wird sie nie erfahren, und darum wird sie mich lange beweinen. Aber ihre Jugend wird eines Tages über ihre Trauer siegen, und dann wird sie wieder glücklich werden können, weil sie nichts wissen wird.

Aber nun ist es nicht mehr mein eigenes Rätsel, was mich am meisten beschäftigt; es scheint mir weniger als nichts zu bedeuten. Doch Margit möchte ich zuflüstern können, was das Schicksal damit gemeint hat, als es diesen Schatten auf ihr unschuldiges Leben warf. Um das zu können, würde ich wünschen, daß es einen Geist gäbe, einen guten oder bösen, den ich fragen könnte und der es mir zu sagen vermöchte.

Wollte er dafür meine Seele nehmen, so würde ich gerne ewige Schmerzen tragen, wenn ich nur Margit das Wort schenken könnte, das den Schatten verscheuchte, den ich auf ihr Leben geworfen habe. So aber kann ich nur sterben, und ich weiß, daß meine Hand nicht zittern wird, wenn meine Stunde schlägt.

Aber für jemanden zu sterben, ist ein Geringes. Schwerer ist es für mich, in Gedanken diese drei vor mir zu sehen, die ich im Leben geliebt, Margit und die beiden Alten, die mich ihren Sohn nannten. Sie werden zusammen in dem Salon sitzen, wo die weißen Überzüge wieder die Stühle bedecken, und da werden sie den Brief empfangen, den ich an die Alten – nicht an Margit – geschrieben habe, um meinen Tod zu erklären. Die beiden Alten werden starr vor Entsetzen dasitzen, keiner wird Worte finden. Sie werden vielleicht den Fremdling verfluchen, der einst in ihr Heim einbrach und es zerstörte. Aber Margit! Ich wage nicht, an Margit zu denken. – – –

Ich fühle bloß die schwere Hand, die die Waffe in die meine drückt, ich höre den Knall eines Schusses, der in mir selbst ein Echo weckt, und ich weiß nur, daß ich im nächsten Augenblick sterbe und daß Margit mich nie mehr fragen kann.

Ich weiß, daß dies alles ist, und was übrig ist, das ist nichts. – – – – – – – – – – –

 


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