Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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Die erste Zeit, deren ich mich entsann, war die, als wir zuerst hier herausgezogen. Ich war seit einigen Jahren als kommerzieller Direktor einer Aktiengesellschaft angestellt, und meine Arbeit war von der Art, daß sie mir die Abende frei ließ, aber mich ungefähr den ganzen Vormittag beschäftigte. Die Geschäfte der Gesellschaft waren recht umfassend, und da ich in dieser Zeit in lebhafte Berührung mit einer Menge Menschen kam, war es natürlich, daß ich auch in das Verkehrsleben hineingezogen wurde, das Stockholm charakterisiert und dessen Schwerpunkt immer mehr von den Familien in die Restaurants verlegt wird. Es gab Zeiten, wo meine Frau und ich uns kaum öfter sahen, als wenn ich nach Hause kam, um sie abzuholen, und uns erst allein trafen, wenn wir um zwölf oder ein Uhr zu zweien auf der Straße standen, eine Droschke suchend, die uns nach Hause bringen sollte.

Die Hetzjagd dieses Lebens war es, die zum ersten Male etwas wie eine Verstimmung zwischen uns beiden hervorrief. Ich kann mich noch erinnern, wie wir, wenn wir zufälligerweise einen Abend allein zu Hause saßen, uns unruhig fühlen konnten, als ob wir etwas vermißten oder wünschten, daß etwas einträfe, um die Stunden auszufüllen, die nicht durch Arbeit oder Vergnügen in Anspruch genommen waren. Wir waren gleichsam befangen über dieses ungewohnte Tete-a-tete, konnten keinen Anlaß finden, es abzubrechen, ebensowenig irgend eine Beschäftigung ausfindig machen, um uns die Zeit zu vertreiben. Wenn der Abend kam, wurde diese Unruhe unerträglich. Das Bedürfnis, Menschen zu sehen, Lärm zu hören, vielleicht auch das Verlangen nach dem Stimulus der Erfrischungen – all das vereinte sich zu einem Fieber, das uns keine Ruhe ließ. Als ob wir gefürchtet hätten, daß die Gedanken in der Einsamkeit zu tief dringen und uns den Abgrund zeigen würden, an dem wir Feste feierten, begannen wir einen Anlaß zu suchen, dieses Zuzweisein abzubrechen, das unsere Unruhe erregte. In dem wahnwitzigen Wirbel, in dem wir lebten, der übrigens nichts anderes war, als was die Mehrzahl der Menschen, die »mitleben«, Jahr für Jahr erträgt, verlernten wir gewissermaßen das Vermögen, miteinander zu leben, und wir fanden es erst wieder, wenn der Sommer kam und wir uns in unsere Villa in den Schären zurückzogen. Das einzige Überbleibsel des Bedürfnisses, ein ruhiges, glückliches Leben zu leben, das noch in uns vorhanden war, äußerte sich darin, daß wir in den Sommermonaten gerne so weit als möglich hinauszogen, um wenigstens da allein zu sein. Hier lebten wir miteinander und mit unseren Kindern. Und hier holten wir Kräfte, um im kommenden Winter dieselbe törichte Lebensweise fortzusetzen, von der wir uns im Frühling weggesehnt hatten.

An wie viele Male aus dieser Zeit erinnere ich mich nicht, wo wir von einem ausgelassenen Fest, bei dem der Champagner floß und die Stimmung gehoben war, still und verstimmt durch die menschenleeren Straßen gingen, um zu unserem Heim zurückzukehren. Wir waren beide gleich müde, gleich überdrüssig des Lebens, das uns durch überanstrengende Arbeit und ebenso überanstrengende Zerstreuung ruinierte. Ich öffnete das Haustor, wir gingen die Treppen hinauf, und sowie wir die Überkleider abgelegt hatten, zündete Olga ein Licht an und ging ins Kinderzimmer. Ich folgte ihr auf den Zehen, um die Kinder nicht zu wecken, und bei ihren Betten blieben wir stehen, sahen ihre frischen Gesichter an und lauschten ihren ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen. Es durchfuhr uns wie Gewissensbisse, während wir dastanden, und wir schmiegten uns schweigend aneinander, wenn wir das Zimmer verließen. An solchen Abenden konnten wir lange aufbleiben und fühlen, wie wir immer tiefer hinab in jenes Dunkel gezogen wurden, das Leere ist. Was nützte es uns, wenn wir mit den Jahren vermögend wurden? Was nützte es uns, daß wir noch jung waren, sogar glücklich sein konnten? Wir wurden mit in den Wirbel gerissen, wie Späne, die ohne Aufenthalt oder Ziel umhergeworfen werden, unser ganzes Leben war nichts anderes als ein sinnloses Jagen nach leeren Schalen, die zu knacken es der Mühe nicht verlohnte. Bei solchen Gelegenheiten gelobten wir einander zuweilen, daß wir ein anderes Leben beginnen würden. Ein paar Tage hielten wir auch Wort – bis die physische Müdigkeit überwunden war.

Es gibt keine Worte, um die sinnlose Qual zu schildern, die ein solches Leben mit sich bringt. Wir hatten eine Lebenskraft, die uns gestattete, zu genießen, wir waren jung genug, um uns des Lebens freuen zu können, wir hatten das Glück, zumeist mit Menschen zusammenzutreffen, die unsere Tage nicht zu inhaltslos machten. Aber dieser beständige Wechsel zwischen Müdigkeit und Fieber hält die Seelen, die er einmal ergriffen, fest, ebenso sicher, wie die Prostitution die Frauen behält, deren Körper einmal in den Zauberkreis gekommen sind, wo das schwarze Gespenst über die Nächte der großen Städte herrscht.

Ich weiß nicht, ob andere in meiner Lage dieselben Erfahrungen gemacht haben, wie ich. Aber ich habe Grund zu glauben, daß wir nicht die einzigen waren, die ihr ganzes Verhältnis entzweigerissen fühlten durch jene Überreizung, die in einem Übermaß von Zerstreuungen liegt. Es war beinahe, als schämten wir uns voreinander dieser Lebensweise, deren einzige Entschuldigung die war, daß sie sich in keiner Hinsicht von der aller anderen unterschied. Wir wurden nervös und überreizt. Der geringste Mißerfolg war hinreichend, um uns aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eine Kleinigkeit konnte Zornesausbrüche hervorrufen, deren Brutalität uns erröten ließ, während wir gleichzeitig bei ruhigerem Nachdenken über die Übertreibung lachen mußten, die in unseren Handlungen wie in unseren Worten lag. Ein kleiner Wortwechsel über die unbedeutendste Sache konnte eine Mißstimmung hervorrufen, die tagelang dauerte. Während dieser Tage wichen wir uns aus, es war zwischen uns wie ein heimlicher Groll, der bloß eines geringen Anlasses bedurfte, um loszubrechen. Dieser Groll war gleichzeitig schleichend und offen. Ich weiß nicht, wie ich ihn charakterisieren soll. Aber ich glaube, daß er eine gewisse Verwandtschaft mit jenem lauernden Haß hatte, der zwischen zwei Menschen besteht, die im geheimen durch das gemeinsame Bewußtsein eines gemeinsamen Verbrechens verbunden sind.

Und war es nicht auch so zwischen uns? Wußten wir nicht, daß wir mit jedem Tage, der ging, etwas von dem zärtlichen Gefühle abstreiften, das uns einmal verbunden hatte? War es uns fremd oder unbekannt, daß wir all das versäumten, was das Leben reich und warm macht, und nur alles aufsuchten, was zersplittert und zerstört? Wußten wir nicht, daß der Kultus, den wir trieben, der Gottesdienst der Barbaren war, bei dem das Getöse der Pauken und Tambourine das Jammern der Unglücklichen übertönt, die in dem glühenden Ofen dem Moloch geopfert werden? Wußten wir nicht, daß wir täglich unser Heim opferten, unser Glück, unsere Kinder, und daß der Rausch der ordnungsmäßigen Orgie die Andacht des Lebens aus unseren Herzen vertrieb?

Diese Andacht war es, die mehr als irgend etwas anderes aus unserem Leben fortstarb. Ihr Fehlen schuf das jagende, hitzige Gefühl der Disharmonie, das uns jeden Augenblick betörte, neue Betäubungsmittel zu suchen, um die Wirkung der früheren aufzuheben. Das furchtbare Gefühl, aus allem Gleichgewicht herausgeschleudert zu sein, ließ uns immer weiter die Unmöglichkeit, innezuhalten oder umzukehren, steigern. Und nie kann der Mahlstrom, der einen passionierten Spieler ergreift, verheerender wirken, als unser beider Glücksverlangen, das Tag für Tag unerbittlich das Glück in uns tötete.

An einem Tage im Juni, nachdem wir kürzlich aufs Land gezogen waren, wurde uns diese Wahrheit zuerst klar. Wie gut erinnere ich mich nicht an jenen stillen Juniabend, wo wir den Strand entlang gingen und hinaus über das klare, ruhige Wasser sahen, in dessen Tiefe die eben aufgesprungenen Birken ihre hellen Knospen spiegelten. Ein Dampfboot glitt vorbei. Es warf große Wellen zum Strand hinauf. Sie seufzten unter unseren Füßen, spritzten auf den Kiesweg vor uns, und sanken wieder zurück, bis die Bucht wieder ruhig und klar dalag, nur mit einem leisen Schaukeln. Rings um uns kreisten die Vögel, der schrille Schrei einer Fischmöwe durchschnitt die Stille, und weit weg flogen einige Enten schwer über das niedrige Schilfrohr.

Wir gingen und sahen all dies, als erwachten wir langsam dazu, einander zu kennen und zu verstehen. Aber es war, als hätte das Fieber und die Unruhe uns stumpf gemacht. Gedankenleer schritten wir dahin, und wir konnten das Gefühl der Hingerissenheit nicht wiederfinden, das uns ehedem beherrscht, sobald wir den Lärm der Stadt verlassen hatten und wieder Angesicht gen Angesicht der Natur gegenüberstanden. Wir konnten nicht wie früher Erleichterung empfinden, daß die Ruhe endlich kam. Wir konnten überhaupt nicht mehr das fühlen, was wir wußten, daß wir fühlen sollten, und es war kein Zweifel, daß nicht dieselbe Stimmung uns beide beherrschte und daß wir beide uns dessen bewußt waren. Todesverzweiflung lag in diesem Gefühl. Zum ersten Male empfanden wir es, und wie Kranke, die lange die Krankheit bemerkt, aber sie aus Unachtsamkeit die Oberhand gewinnen ließen, fühlten wir die eisige Furcht, die in der Vorstellung liegt, daß die Krankheit unheilbar sein würde, den Vorwurf, nicht beizeiten Heilung gesucht zu haben. Und mit Angst merkten wir, daß wir der Umgebung fremd waren, nach der wir uns mit dem wilden Ungestüm gesehnt, das stets all unsere Gefühle auszeichnete. Wir waren der Natur fremd, der Stille, dem Leben, einander, und beinahe mit Verwunderung hörten wir, daß alles um uns stille war, und begriffen gleichzeitig mit Schrecken, daß, wenn wir nur einen kleinen Schritt weiter gingen, wenn wir nur ein, zwei Jahre so fortfuhren, wir verurteilt waren, niemals umkehren zu können. Die Einsamkeit würde uns unleidlich werden, das Schweigen erschreckend wirken, wir würden beide vor den Tagen zurückbeben, an denen die Einsamkeit uns das Medusenhaupt der Leere zukehrte, und in unverbesserlichem Zerstörungsdrang würden wir uns aufs neue weiterziehen lassen, um das Entsetzen zu vergessen, das diese Stunde in sich schloß, – und das Entsetzen selbst ewig machen. Der Alp des Großstadtlebens war es, der uns in unserer Einsamkeit verfolgte, uns mit dem Wahlspruch der Hölle bedrohend: Lasciate ogni speranza voi ch' entrate.

Es war kein ruhiger Entschluß, den wir jetzt faßten. Es war eine plötzliche, unwiderstehliche Todesangst, die uns einander in die Arme führte. Das Bedürfnis nach Rettung war so schreiend stark, daß wir kaum davon zu sprechen brauchten, und zuerst taten wir es auch gar nicht, ganz einfach weil wir es nicht konnten. Wie Menschen, die sich an narkotische Mittel gewöhnt haben, brauchten wir Zeit und Ruhe, um uns dem Einfluß zu entziehen, den diese Mittel ausüben. Wir brauchten Zeit, damit unsere Gefühle, die betäubt waren, die Fähigkeit wiedererlangten, zu sprechen, wir brauchten Zeit, bis alles, was in uns selbst verzerrt war, wieder in die richtige Lage kommen konnte.

Wir sprachen nicht davon an diesem Abend, als wir schweigend miteinander den Strand entlang gingen, unter den hellen Blättern der Birken. Aber ich weiß, daß an diesem Abend in uns beiden das aufkeimte, was später unser Entschluß wurde. Da dachten wir zum ersten Male an das, was uns dann bewog, das gelbe Haus zu mieten, das auf dem Hügel liegt, von wo man Stockholm wie eine wunderbare Feenstadt sieht, im Sonnenlicht gebadet, im grellen Licht des Gases und der Elektrizität glitzernd, in das das Wasser kleine dunkle Furchen schneidet, in Nebel gehüllt, von weißem, blendendem Schnee bedeckt oder von Sprühregen umgeben, dunkel, schmutzig und unförmlich in allen Linien.

Hierher zogen wir auch nach jenem Sommer der Gewissenspein, nachdem wir uns von allem losgemacht hatten, was uns an die Stadt band, und hier glückte es uns anfangs, das durchzuführen, was wir uns gedacht, uns selbst wiederzufinden und ein Leben zu leben, das von dem verschieden war, was wir früher durchgemacht hatten. Wie erinnere ich mich an dieses erste Jahr und den Sommer, der dem Umzug voranging. Wir waren wie Kinder, die der Riese gefangen gehalten, und ängstlich tasteten wir uns über die wohlbekannten Wege zurück, die, wie wir wußten, zur Heimat führten. Wir waren froh und doch beklommen. Wir genossen unsere Freiheit, aber wir fürchteten insgeheim, auf unserer Flucht von den bösen Geistern ertappt und gezwungen zu werden, in ihren Kreis zurückzukehren. Wir waren auf unserer Hut bei jedem Schritt, den wir machten, wir kämpften, um unser Leben zu schützen, und in uns fühlten wir neue Kräfte erwachen, neue Möglichkeiten neue Wege eröffnen. Still und sicher kehrte bei uns jenes ganze Gefühl für das Leben zurück, aus dem alles Glück kommt. Wohltuend fühlten wir das Einerlei der Tage an uns vorbeigleiten und unseren Sinn zum Zusammenklang mit dem ewigen Gang des Lebens stimmen, und als wir in das alte Haus zogen, vor dem die Bäume in herbstlicher Pracht standen und wo einige verstreute Astern in dem verwilderten Garten blühten, da war es uns, als wären wir durch ein Wunder einer großen Gefahr entronnen und nach einer furchtbaren Gefängniszeit dem Leben wiedergegeben.

Was für ein Jahr das war! Was für ein Jahr! Nie wußte ich, daß das Zusammenleben zweier Menschen soviel Glück bergen kann, auch nicht, daß man auf so innige Art mit den Seinen zu leben vermag. Meine Kinder, die ich früher kaum gesehen, denen ich höchstens einen sentimentalen, in wunderlicher Weise mit Reue gemengten Gedanken zu widmen pflegte, wenn ich, von einem nächtlichen Souper heimkehrend, mich an der Seite meiner Frau über ihre Betten beugte, sie waren nun Persönlichkeiten geworden, die mit mir selbst zusammenhingen, auf mir beruhten, deren Charaktere ich würdigte und deren Freude und Schmerz ich teilen wollte und bat, teilen zu dürfen. Wir nahmen jeden Tag als ein neues Glück, und es verging keine Stunde, die nicht ihren Wert, ich möchte beinahe sagen ihre Freude hatte.

Es war ein Altweibersommer in unserem Leben, der den ganzen Glanz des Frühlings hatte und uns mit einem Glück umstrahlte, über das wir uns selbst wunderten und das wir anderen nie zeigen konnten.

Ich erinnere mich nur an eines, was uns verfolgen konnte, als trüge es eine Quelle der Unruhe in sich. Das war die Nähe der Hauptstadt, die wir durch die großen Bäume vor unseren Fenstern schimmern sehen konnten, und die wir unter unseren Füßen sahen, so oft wir in dem alten Parke spazieren gingen, wo Erinnerungszeichen früherer Tage von einer Zeit sprachen, in der unser stiller Zufluchtsort der Sammelplatz für all die Vergnügungen war, von denen wir uns zurückgezogen hatten. Wenn wir über das niedrige Staket hinaussahen, konnte dieses Gefühl über uns kommen, besonders wenn die Festesfackeln sich in tausend Lichtern entzündeten, die gleich einer glitzernden Flamme durch die Nacht glühten. Dann konnte von dieser Stadt, in der wir so nahe daran gewesen, uns selbst zu verlieren, eine dumpfe Stimmung des Unglücks aufsteigen, die gleichsam eine fieberheiße Erinnerung der alten Vergnügungsjagd in unser Blut goß. Diese Erinnerung lockte und erschreckte zugleich. Es lag darin ein Etwas, das zurückkommen konnte, das unser ganzes Leben bedrohte. Und ich erinnere mich, daß ich einmal als Ausdruck unserer Gefühle Baudelaires Worte zitierte:

La Prostitution s'allume dans les rues.

Ein Schauer durchfuhr uns beide, und wie vom selben Gedanken ergriffen, wendeten wir uns um. Vor uns lag das alte, freundliche gelbe Haus, von seinen hohen Bäumen umgeben, hinter denen graue Felsen schimmerten. Es sah auf uns herab mit seinen leuchtenden Fenstern, und als wir hineingingen und die Tür hinter uns zuschlossen, senkte sich ein Gefühl der Geborgenheit in unseren Sinn, und ohne daß wir recht darum wußten, wuchs mit jedem Tage, der ging, in uns die Kraft, aus der die Freude am Leben sproßt.

 


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