Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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14

»Vielleicht erscheint es dir wunderlich, daß mich nichts so stark an dieses Mädchen fesselte, als gerade ihre Schweigsamkeit. Ich nenne sie ›Mädchen‹, weil sie eins war, auch nachdem wir geheiratet hatten, sie erreichte kein anderes Stadium. Diese Schweigsamkeit war sozusagen ihr Wesen, sie bildete ihr ganzes äußeres Ich, hinter dem ich das Wirkliche durchschimmern zu sehen glaubte. Vielleicht betörte es mich in so hohem Grade, eben weil es mir die Möglichkeit gab, alles hineinzulegen, was ich selbst wünschte. Und es ist gewiß, daß ihr Schweigen meine ahnungsvolle Phantasie beflügelte.

»In den zwei Jahren, die wir nach unserer Verheiratung in Upsala zubrachten, war es diese ihre Schweigsamkeit, die mich zu ihr hinzog, mich an sie fesselte, ja geradezu die Quintessenz meines Glückes ausmachte. Ich meine natürlich nicht, daß sie eigentlich schweigsam war. Im Gegenteil. Sie zwitscherte wie ein Vögelchen, plauderte und sang, tagaus, tagein. Ihr Schweigen galt nur ihren innersten Gefühlen – vor allem der Teilnahme an meiner Arbeit und dem, was mich am eifrigsten beschäftigte. Sprach ich davon, oder saßen ein paar Freunde in unserem Heim, und das Gespräch verließ das Alltägliche und schweifte zu den lockenden Gefilden der ungeborenen Gedanken, da schwieg Gertrud und ließ uns andere sprechen. Aber ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als sagten mir ihre Augen dasselbe, was in unseren ausgesprochenen Worten verborgen lag. Und so gewiß war ich in dieser meiner Meinung, daß kein Tag verging, an dem ich ihr nicht für ihr stummes Verstehen Dank sagte.

»Jetzt nachträglich ist es diese Eigenschaft oder Eigenheit ihres Wesens, die mich am allermeisten in Aufruhr versetzt. Diese Eigenschaft macht es, daß ich sie wiedersehen möchte, ihr begegnen, Auge in Auge, um meine Zweifel zu stillen, um zu erfahren, was dieses Schweigen im Innersten barg.

»Kannst du mir sagen, wie es zugeht, wenn eine Illusion aufhört, ihren betörenden Einfluß auf uns arme Menschen zu üben? Du kannst es nicht, ich weiß es. Kann ich es wohl selbst? Kann irgend ein Mensch es? Und doch sollte ich es ja können. Denn ich habe selbst gefühlt, selbst erfahren, was es heißen will, aus einem peinvollen Glückstraum zu erwachen, der noch peinvoller wurde, als ich endlich merkte, daß mein eigener Glücksdurst es war, der mich so viel hinter dieser holden Unzugänglichkeit ahnen ließ, die mich betörte. Aber ich weiß nicht, wie es zuging. Ich weiß nur, daß ich nach und nach erwachte, nach und nach die Augen öffnete, und als dies geschah, da senkte sich eine lähmende, eiskalte Todesstarre auf meine Glieder und zwang mich, zu erkennen, wie ohnmächtig ich selbst war, wie leer mein Dasein, wie nichtig mein Leben.

»Ich weiß nicht, wie lange es mir erspart geblieben wäre, all das zu sehen, wenn unser Leben in denselben Gleisen hätte weiter gleiten können, wie in den ersten Jahren unserer Ehe. Aber da kam plötzlich ein Tag, an dem unser Leben seine Färbung veränderte. Das war, als ich erfuhr, daß mein Dozentenstipendium an einen andern übergehen sollte. Du hast es vielleicht in den Zeitungen gelesen. Und ich kann dir den Grund sagen. Es war, weil ich »nichts geschrieben« hatte, wie es heißt. Weil ich nichts geschrieben hatte! Nein, ich hatte nichts geschrieben, denn ich sammelte Tag für Tag Material zu dem Werke, das mir schon seit meiner Studentenzeit vorschwebte. Darum war ich nicht dazu gekommen, Zeitungsartikel, kleine Abhandlungen, populäre Vorträge zu verfassen, mit einem Worte all das sinnlose Stückwerk, das notwendig ist, um einen Menschen bekannt zu machen.

»Im Anfang traf mich dieser Schlag so heftig, daß ich mir beinahe meinen eigenen Gedankengang nicht klar zu machen vermochte. Aber so tief und fest lag in mir der Gedanke an das Werk, das ich einmal ausführen wollte, daß ich glaubte, es könnte nichts geschehen, das mich an dieser Ausführung zu hindern vermöchte. Ich wußte, daß ich warten konnte. Aber für den Augenblick beschäftigte mich nur der Gedanke, daß meine Frau und ich leben mußten. Ich suchte eine Gymnasiallehrerstelle in Geschichte, und du weißt, daß ich sie bekam.

»Damals nahm unser Elend seinen Anfang. Oder richtiger – damals lernte ich erst verstehen, daß das, worin ich lebte, ein Elend war, so tief, daß ich nie etwas Ähnliches geahnt, obgleich ich wohl einsehe, daß, was ich litt, Tausende von Menschen vor mir gelitten haben.

»Ich kann sagen, daß mein Leiden damals begann, als ich mir das erste Mal klar darüber wurde, was ich geopfert hatte. Denke dir, nie, nie, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken war es mir früher in den Sinn gekommen, daß, wenn dieses kleine Mädchen meinen Weg nicht gekreuzt hätte, mein ganzes Leben ein anderes geworden wäre. Nie, nicht einmal in meinen Träumen hatte ich das einfache Rechenexempel gemacht, darüber nachzudenken, was sie durch unsere Ehe gewonnen, und was ich verloren hatte. Es war mir nie eingefallen, bis der Tag kam, an dem wir einander fremd gegenüber standen und mein Auge klar wurde. Du kannst nicht glauben, wie klar.

»Im Anfang, nachdem wir hierher gekommen waren, merkte ich nichts. Wir hatten ein kleines behagliches Heim, und wir fingen an, so nach und nach mit meinen Kameraden zu verkehren. Ich fühlte mich wohl mit ihnen und bei meiner Arbeit in der Schule. Es gibt nichts, was man im Anfang so wohltuend empfindet, als nach dem Glockenschlag geordnete Arbeit, wenn man sein Lebelang die überreizte Existenz geführt hat, die darin besteht, sich mit freier geistiger Arbeit zu beschäftigen. Ich nehme an, daß du irgend einmal in deinem Leben dasselbe erfahren hast. Für mich war es klar, daß ich in dem Moment, wo ich eine Wirksamkeit hatte, mich vor allem hineinarbeiten und den Platz behaupten mußte, auf den das Schicksal mich einmal gestellt hatte. Erst in zweiter Linie durfte ich daran denken, die Träume zu verwirklichen, die meine Jugend erfüllt hatten.

»Ja, es war mehr als das. Je länger ich in diesem Milieu von Lektionen, kleinen Verhältnissen, Lehrerkonferenzen und Büffelei lebte, desto deutlicher wurde es mir, daß ich den Rubikon meines Lebens überschritten hatte. Und hier gab es kein Zurück. Ich konnte nicht zweien Herren dienen. Eins mußte ich opfern, um ein anderes zu erringen. Der Traum meiner Jugend war es, der der festgesetzten Arbeit weichen mußte. Und mit einem wunderlichen Gefühl der Kühle merkte ich, wie mein Ich begann, sich einer langsamen Verwandlung zu unterziehen, wie das, was mich früher erfüllt, fortglitt; und aus der Asche des Verflossenen stieg, wie ein häßlicher Vogel Phönix, ein gestählter Mann der Arbeit empor, der für sich selbst und seine Familie lebte.

»In einer unbeschreiblich quälenden Weise fühlte ich damals, wie mein Weib und ich allmählich auseinanderglitten, und ich merkte es erst, als ich empfand, wie lang unsere Abende wurden. Gleich einer seltsamen Beklemmung füllte die Stille unsere Räume, und wie wir so allein saßen, kam es mir manchmal vor, als hätten wir einander nichts zu sagen. Ich grübelte darüber, und ich versuchte, mit Gertrud von der Arbeit zu sprechen, die mich in der Schule beschäftigte.

»Ich werde nie den erstaunten Blick vergessen, der dem meinen begegnete, als ich zum ersten Mal dieses Gesprächsthema anschlug. Und zum ersten Mal in meinem Leben ging es mir auf: Sie versteht mich nicht, ebenso wie ich sie nicht verstehe. Ich merkte deutlich, wie es war, und ich begriff es auch. Mit kindischem Eigensinn hatte sie sich an den Gedanken geklammert, daß ich ein großer Mann der Wissenschaft werden würde, und sie sah nicht ein, daß durch unsere Übersiedelung alles verändert war. Kindlich und unreflektiert war sie mir hierher gefolgt, weil ich es vorschlug. Aber als es geschehen war, faßte sie nicht, daß wir beide die Konsequenzen tragen müßten, und daß diese Konsequenzen dahin führten, daß mein Leben ein anderes wurde.

»Mit einer heftigen Kraftanstrengung hatte ich mich von allem losgerissen, was mein war, und ich hatte es getan, ohne zu reflektieren, warum. Es war geschehen, weil ich verheiratet war, weil ich nicht allein stand; und mit jenem paradoxen Widerspruch, in dem das Leben sich zuweilen gefällt, wurde ich gerade dadurch in weit fühlbarerer Art einsam, als wenn ich es wirklich gewesen wäre.

»Du kannst sagen, ich hätte mit ihr sprechen, sie lehren sollen, zu verstehen! Glaubst du denn, daß ich es nicht versuchte? Es kam zu einem förmlichen Kampfe zwischen uns, einem Kampfe, der natürlich zu keinem Resultate führte.

»Wenn ich sah, daß das, wovon ich sprach, sie nicht interessierte, wechselte ich für den Moment den Gesprächsgegenstand. Aber immer wieder kam ich darauf zurück. Ich sprach mit ihr von der Schule, von meinen Zöglingen, von der ganzen Welt, die jetzt die meine geworden war. Aber ich erreichte damit nichts anderes, als daß sie scheu und zurückgezogen wurde. Und ich erinnere mich, wie sie eines Tages zu mir sagte: ›Warum mußt du mit mir so viel von der Schule sprechen? Das kann mich ja nicht interessieren.‹ Ich kann den wunderlichen Ton von Antipathie, mit dem sie diese Worte aussprach, ebensowenig begreifen wie vergessen. Es lag eine Art Abscheu in ihrer Stimme, als setzte sie sich gegen etwas Böses zur Wehr. Sie wich meinen Blicken aus, und sich in sich selbst verschließend saß sie stumm da, wie in eine unbekannte Ferne blickend.

»Ihre Worte gingen wie ein Schwert durch mich, und von diesem Moment an lernte ich es, klar zu sehen. Ich weiß, daß nach diesem Augenblick meine Stimme nicht mehr denselben Klang hatte, mein Blick nicht denselben Ausdruck, meine Lippen nicht dieselbe Wärme, wenn ich meine Frau küßte, sie ansah oder zu ihr sprach. Ich verschloß mich in mich selbst, ebenso hart und unerschütterlich, als ich jemals meine Tür vor dir verschlossen habe.

»Ohne daß ein Wort der Bitterkeit zwischen uns gefallen war, gingen wir von diesem Tag an unsere eigenen Wege, und ich tat nichts, um sie zu dem Pfad zurückzurufen, der mein war und uns gemeinsam sein sollte.

»Ich überließ sie ihren Gedanken, und ich hatte recht, ich hatte tausendmal recht. Um ihretwillen hatte ich meine Studien im Stich gelassen, meine Wissenschaft, alles, was mich im Leben vorwärts tragen sollte. Warum hatte ich das getan? Und was war mein Lohn?

»Wenn ein Mensch alles für einen andern opfert, wenn er dann findet, daß dieser andere das Opfer nicht wert war, wenn man Schritt für Schritt merkt, daß alles, was man für Glück, Seligkeit, Feinheit, Verständnis hielt, nichts ist, nur Überdruß und Leere, da ersteht eine Hölle, die an unserem innersten Lebensfaden zehrt und die uns lehrt, das Fazit aus der zusammengesetzten règle d'étri des Lebens zu ziehen. Denn sie ist sehr zusammengesetzt. Und wehe uns, wenn wir entdecken, daß das Fazit gleich 0 ist.

»Ich sah dies, und während ich es sah, merkte ich, wie das Wesen, das Tag um Tag sein Leben an meiner Seite dahinbrachte, sich veränderte. Mit Erstaunen beobachtete ich, wie alles in der Stadt, in unserer ganzen Umgebung Gertruds Widerwillen erregte. Unser Verkehr quälte sie, das Spazierengehen, ich glaube beinahe, sie litt sogar unter der Aussicht von unseren Fenstern. Stets sprach sie von Upsala, als sei es die natürlichste Sache der Welt, daß wir bald dorthin zurückkehrten. Es war, als hätte sie außerhalb Upsalas Luft und Grenzsteinen nicht leben können.

»Und was vermißte sie? Das Jugendleben, die Konzerte, die Studentenkappen, den ersten Mai – was weiß ich. Genug – sie entbehrte es, sie vergrub sich in diese Entbehrung mit einer Intensität, die auf mich wie eine Ansteckung wirkte. Ich, der ich all die Zeit hindurch nur kämpfte, um zu vergessen, mir würde es notgetan haben, daß sie mir geholfen, daß sie dieses mein Streben geteilt, die Sache kalt genommen hätte, wie ich selbst. Aber sie konnte nichts vergessen, nichts entbehren. Sie konnte bloß klagen, daß sie die langen Vormittage einsam bleiben mußte, während ich in der Schule war.

»Sie haßte diese Schule, ich bin ganz überzeugt davon, und ihr Egoismus schlug mir auf jedem Schritt meines Weges entgegen. Er war so stark, daß ich in seinem Lichte sehend wurde. Ich sah, wie sie allen anderen gleich war, nur vielleicht ein wenig schöner. Und ich erinnere mich, daß ich dasitzen konnte und sie in dem Lichte jener Sinnlosigkeit betrachten, die unser Leben war und die mich an jenen Platz fesselte, wo ich ohne Nutzen für mich selbst anderen nützen sollte.

»Es liegt mir nicht, mich von Widerwärtigkeiten zu Boden drücken zu lassen. Auf Leben und Tod will ich gegen die Schwierigkeiten des Lebens kämpfen. Soll ich einen Traum töten, muß es ohne Schonung und vollständig geschehen. Und ohne Grübeln will ich das Leben leben, welches das Schicksal mir beschert. Neben mir sah ich dieses weiche, schwache Weib, dessen Augen sich mit Tränen füllten, ein stummes, verschlossenes, leidendes Weib, das geknickt ward, weil es nicht in der Sphäre leben konnte, nach der es sich sehnte. Ihre Schwäche steckte mich an. Sie erschütterte meine Widerstandskraft wie schleichendes Gift. Und ich fürchtete ihre bloße Nähe, weil ich neben ihr die Gewalt über mich selbst verlor und die Lust zu wirken.

»Ich erinnere mich dieser Winterabende. Ah, wie genau ich mich ihrer erinnere. Ich saß an meinem Schreibtisch, damit beschäftigt, mich für die Lektionen des nächsten Tages vorzubereiten, und von meinem Platz aus sah ich im Schein der Wohnzimmerlampe den Schatten ihrer Gestalt, der über den Teppich fiel. Ich hatte sie vermocht – nicht ohne Kampf – davon abzusehen, in meinem Zimmer zu sitzen, wenn ich arbeitete. Aber ich fühlte ihre Nähe. Und du kannst dir keinen Begriff davon machen, wie sie mich irritierte. Ich saß, so lange es mir möglich war in meinem Zimmer, um der Tortur zu entgehen, die darin lag, ein Gespräch zwischen uns zu erzwingen. Und wenn ich endlich zu ihr hinauskam, nahm ich ein Buch oder eine Zeitung und las laut, um nicht sprechen zu müssen.

»Einmal, als ich herauskam, sah sie zu mir auf und sagte:

»›Warum schreibst du nicht mehr, wie früher?‹

»Warum ich nicht schrieb, wie früher! Sie meinte diese Notizen, die mein Werk vorbereiteten, und bei deren Ordnen sie mir früher geholfen hatte. Und sie fügte hinzu:

»›Ich fand es so schön, zu wissen, wie deine Arbeit wuchs.‹

»Sie sagte mir das, sie, um deretwillen ich alles über Bord geworfen hatte. Es war mir, als sei ich ins Meer gesprungen, um einen Ertrinkenden zu retten, und dieser fremde Mensch packte mich zum Danke an der Kehle und preßte meinen Kopf unter Wasser, um mich zu zwingen, zu sterben.

»Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Aber ich weiß, daß diese Worte mich in dem Grade verfolgten, daß ich sie mir beinahe wie mit Phosphorschein von den Wänden des Schulsaals entgegenleuchten sah. Hätte sie begriffen, was ich tun mußte und was es mich kostete, würde sie wenigstens geschwiegen haben. Nun begriff sie bloß das was gewesen, aber nichts von dem, was war. Und darum sprach sie diese Worte die sich wie scharfe Nadeln in mich bohrten. Sie brannten in mir, wie eine heimliche Wunde, und frei, wie ich mich fühlte, grübelte ich unter ihrer Einwirkung über die Möglichkeit nach, allem zu trotzen und fort, in irgend eine deutsche Kleinstadt zu flüchten, wo ich unangefochten mein einsames Leben von neuem beginnen konnte.

 


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