Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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14

Paris, im September.

Es geht nicht so leicht, eine Erinnerung auszustreichen, wie den kleinen kurzen Strich über einen Tag im Kalender zu ziehen. Es geht nicht so leicht. Ich fühle es wohl. Denn sie kann über mich kommen, wenn ich allein bin oder wenn Pierre bei mir ist. Sie läßt mich zusammenzucken, wenn ich über die Straße gehe, oder unter anderen Menschen sitze, rings um mich fröhliches Geplauder. Es ist derselbe kleine Punkt, der früher zu schmerzen pflegte und den ich wieder fühle.

Wenn ich nun an den Sommer denke, der vergangen ist, weiß ich nicht, wie ich ihn ertragen konnte. Und wenn ich daran denke, welches Unrecht ich gegen Pierre begangen, dann glaube ich zuweilen, daß ich es ihm einmal sagen werde. Wenn wir beide sehr alt geworden sind, und die Jugend nur mehr in unserer Erinnerung lebt, dann werde ich einen Abend wählen, an dem wir allein in der Dämmerung sitzen und das Feuer im Kamin verkohlt ist. Da werde ich ihm alles sagen und ihn fragen, ob er mir verzeihen kann, daß ich ihn so sehr geliebt, daß eben die Liebe selbst meine Zunge band.

Aber ich weiß auch, daß, wenn ich alt werde, ich ebensowenig imstande sein werde zu sprechen wie jetzt. Dann wird alles, was Pierre und mich verbindet, mir so kostbar sein, daß ich fürchten werde, zu verlieren, was wir an gemeinsamen Erinnerungen besitzen, so wie ich jetzt fürchte, das zu verlieren, was uns an Glück und Leben verbindet. Denn alles, was geschieht, und alles, was ist, fügt ein neues Glied in die Kette, die wir beide im Leben verflochten haben. Ich kann es nicht ertragen, daß das kleinste Stück davon verloren geht, und darum werde ich mein Geheimnis bewahren, wie ich es bisher getan. Und jeden Abend, bevor ich einschlafe, werde ich Pierre schweigend um Vergebung bitten.

Wie die Erinnerung an einem wunderlichen Traum sucht mich zuweilen der Gedanke an die Frau heim, die nie einen Mann liebte, sondern ein Kind suchte, das ihr Reichtum ward. Wenn das geschieht, denke ich immer an Erik, und ich möchte wissen, was er sagen würde, wenn er erführe . . . Ich meine, daß diese Frau mir etwas zu sagen hätte, wenn ich sie sehen würde, aber ich verstehe sie nicht. Ich erinnere mich an Pierres Worte, daß ein Mensch immer daran schuld ist, wenn er im Leben etwas begegnet, das er nicht versteht. Aber könnte er mir wohl verzeihen, wenn er alle meine Gedanken wüßte? Ich glaube nicht. Vielleicht ist dieser Zweifel von Anfang an mein ganzes Unglück gewesen.

Nun sind wir wieder zu Hause, und alles ist wie zuvor. Pierre ist heute in Arbeitsstimmung, ich höre es an seiner Stimme, wenn er manchmal draußen im Atelier pfeift. Ich sitze allein – nur ein Zimmer trennt mich von ihm – ich habe keine Angst mehr, hineinzugehen, wenn ich mich sehne, in seiner Nähe zu sein, und ich schlage meinen Blick nicht mehr nieder, wenn ich dem seinen begegne. Es liegt ein Jubel in diesem Gefühl, der ohne Grenzen ist. Und zuweilen fühle ich einen wilden, unbezwinglichen, unvernünftigen, unbändigen Stolz auf alles, was ich um meiner Liebe willen gelitten habe. Es scheint mir, daß mein Leiden mir das Recht gegeben, glücklich zu sein, und ich fühle mich stark, weil ich mich auf mich selbst verlassen kann.

Aber es gibt auch andere Augenblicke, und da überfällt mich eine Angst, die ich nicht bezwingen kann, die Furcht, daß das, was geschehen ist, sich wiederholen könnte. Ich fürchte, daß ich dann nicht dieselbe Stärke des Widerstands haben werde. Die Erde scheint mir so unheimlich klein, und ich wollte gern Weltenräume zwischen mich und alles legen, was mich von Pierre trennen kann.

Denn ich habe um Pierre gekämpft, nicht mit dem Tode, sondern mit dem Leben selbst. Und niemand kann den Tod so fürchten, wie ich einmal vor dem Leben geschaudert habe. Die Erinnerung an dieses Entsetzen kann mich noch zuweilen überfallen und mich ängstigen. Aber sie kann mich nicht unglücklich machen. Denn ich liebe Pierre, liebe ihn mehr als Worte aussprechen können, mehr, als ich selbst weiß. – – –

Aber denke ich an all dies, dann erscheint es mir so seltsam, daß ich glaube, nie das Geringste von meinem eigenen Leben verstehen zu können. Und dennoch weiß ich, daß jeder andere es noch weniger verstehen würde als ich.

 


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