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Das gebrochene Wort

Etwa ein Jahr war seit jenen fieberhaften März- und Apriltagen des Jahres 1902 vergangen. Nach 300 grauen Gefängnistagen verwischte sich allmählich in der Seele das so schmerzhaft Erlebte. Am 13. Januar 1903 saß ich ruhig in meiner Zelle und ahnte nicht im leisesten, daß sich mir das Schicksal schweren Schrittes näherte; es näherte sich meiner Tür, klopfte und sprach: »Geh hinaus.«

Im Korridor wurden Schritte laut, die Riegel knarrten; die Tür ging auf, der Kommandant mit seinem Gefolge trat ein.

Mit halb erhobener Hand und theatralischer Stimme sprach er langsam: »Seine Majestät der Kaiser ... hat das Flehen Ihrer Mutter vernommen ... laut seinem höchsten Befehl ist das lebenslängliche Zuchthaus für Sie auf 20 Jahre ermäßigt worden.«

Bei den Worten »Seine Majestät der Kaiser«, die besonders akzentuiert wurden, durchflog mich der Gedanke: die nachträgliche Strafe für die Achselstücke. Das wäre für mich leichter gewesen als das, was ich dann zu hören bekam.

Ich stand betäubt. Fest überzeugt, daß hier ein Mißverständnis vorliege – denn meine Mutter kannte doch genau meine Ansichten in dieser Hinsicht, und sie konnte nicht, durfte nicht um Gnade für mich bitten –, stellte ich die gedankenlose Frage: »Ist das eine allgemeine Maßnahme oder bezieht sie sich nur auf mich?« »Nur auf Sie,« knurrte unwillig der Kommandant und setzte dann hinzu: »Jetzt dürfen Sie Ihren Verwandten schreiben.«

Ich wollte aber gar nicht schreiben. Ich war empört, verletzt, meine erste Regung war, jede Beziehung zur Mutter abzubrechen.

Zu ihr, der Geliebten, die Beziehungen abbrechen! Zu ihr, von der die Trennung mir soviel Leid gebracht hatte! Anderthalb Jahre waren vergangen, seitdem ich ihr das letztemal geschrieben hatte, und ihr letztes Schreiben hatte ich vor zwölf Monaten bekommen. Was war während dieser Zeit zu Hause vorgefallen? Was wußte die Mutter von mir während dieser erzwungenen Unterbrechung des Briefwechsels?

Ich begriff nicht, beherrschte mich jedoch und erwiderte: »Mögen meine Verwandten zuerst an mich schreiben, ich werde dann antworten.«

Die Zelle schloß sich; ich blieb allein.

Mit bitteren Gefühlen teilte ich den Kameraden das über mich hereingebrochene Unglück mit – denn eine Begnadigung bedeutete für mich ein Unglück.

Woher brach es über mich herein? Wie konnte meine Mutter, meine tapfere, starke Mutter um Gnade für mich »flehen«?

Ohne Tränen, ohne das geringste Schwanken begleitete sie ihre zwei Töchter eine nach der anderen nach Sibirien, und als sie von mir Abschied nahm, war sie es ja, die mir das Wort gab, nie um irgendwelche Milderungen für mich zu bitten. Was war mit ihr geschehen, mit ihr, auf die ich doch gerechnet hatte wie auf mich selbst? Was war geschehen? Was veranlaßte sie, das beim Abschied feierlich gegebene Wort zu brechen? Was war in den letzten anderthalb Jahren geschehen?

Qualvolle, unbeantwortete Fragen ...

Die Mutter hatte gegen meinen Willen gehandelt: ich wollte unter keinen Umständen Gnade; gemeinsam mit meinen Kameraden wollte ich mein und ihr Schicksal bis zu Ende tragen. Jetzt hatte die Mutter, ohne mich zu fragen, gegen mein Wissen und ohne meine Einwilligung in mein Leben eingegriffen. Konnte man einen Menschen stärker verletzen? Wie durfte sie so handeln? Sie, die immer fremde Überzeugungen, fremde Persönlichkeiten so geachtet hatte, die das auch mir eingeschärft hatte. So roh, so eigenmächtig ein fremdes Leben gestalten, einen fremden Willen derartig in Stücke brechen zu wollen.

Ich fühlte mich durch die kaiserliche Gnade erniedrigt. Und wer hatte es getan? Die Mutter, die geliebte, so hochgeschätzte Mutter ...

Sie hat mich erniedrigt, aber auch sich selbst. Wie weh tat der Trost der Kameraden: »Du bist doch nicht schuld daran!«

Ununterbrochen bohrte der qualvolle Gedanke: Was konnte mit der Mutter geschehen sein? Warum wurde ihr Mutterherz schwach? Hatte sie etwa erfahren, daß ich, die vor 18 Jahren Verurteilte noch einmal verurteilt werden sollte? Daß man die vor 18 Jahren zum Tode Verurteilte noch einmal zum Tode verurteilen wird? Vielleicht erfuhr sie es – und wurde schwach. Ist sie etwa durch die Trennung und die Ungewißheit schwach geworden? Hielt sie etwa nicht aus und vergaß das Wort, das ich ihr beim Abschied abgenommen hatte?

Es war unerträglich schmerzhaft, in der Blindheit der Gefängniseinsamkeit darüber zu grübeln. Denken müssen, daß sie sich selbst untreu geworden, sich verraten hatte, und daß ich fern und unsichtbar nicht rufen konnte: »Halt ein!« Ich konnte die Hand nicht zurückhalten, die das Gnadengesuch eingereicht.

Nach drei Tagen kam die Aufklärung ...

Die Mutter schrieb: schrieb einen Abschiedsbrief; sie lag im Sterben ... seit drei Monaten schon stand sie nicht mehr auf, zweimal hatte man sie operiert.

»Krebs,« setzten die Schwestern hinzu. Soeben noch war ich außer mir gewesen, bereit zum Bruche mit dem Liebsten, das an der Schwelle des Todes stand. Was tun? Konnte etwa die Tochter der sterbenden Mutter bittere Vorwürfe schicken? ... Ich mußte antworten. Meine Antwort war vielleicht der letzte Brief, der die Mutter unter den Lebenden traf.

Das harte Herz wurde beim Gedanken an die sterbende Mutter demütig. Alle Vergehen, die ich je in der Vergangenheit ihr gegenüber begangen, erwachten in meiner Erinnerung. Alles Gute, was ich von ihr empfangen, erstand vor mir. Ich dachte an die Kindheit, als sie die ersten Ansätze meines Geistes, meiner Persönlichkeit pflegte; ich dachte daran, daß sie in der furchtbaren Zeit vor der Verhaftung meine beste moralische Stütze gewesen war; an die Freude, die mir die seltenen Zusammenkünfte im Gefängnis vor der Verhandlung verschafften, die ich im Umgang mit ihr in den entscheidenden Tagen des Gerichtes empfunden hatte. Alles wurde wach. Viel, sehr viel hatte sie mir gegeben. Und ich, was gab ich ihr? Anfangs durch die frühe Heirat und später durch die revolutionäre Tätigkeit mit ihren Folgen von ihr getrennt! Nichts als Leid. Und wieviel Leid! Rücksichtslosigkeit, Egoismus, der der Jugend eigen ist; Mangel an Verstehen ... Manches scharfe Wort ... manches verletzende Lächeln ... mancher kleine Nadelstich aus jugendlichem Übermut ... alles wachte auf und peinigte die erwachte Erinnerung. Nichts, absolut nichts hatte ich im Leben gegeben.

Jetzt war der Tag der Abrechnung gekommen. Und nichts blieb übrig, als in Reue und Liebe vor ihr auf die Knie zu fallen und, ihre geliebten Hände mit heißen Tränen benetzend, um Verzeihung zu bitten ... Und ich bat um Verzeihung.

Ihre Antwort enthielt die unvergeßlichen Worte: »Ein Mutterherz trägt erlittenen Kummer nicht nach.«


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