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Pochitonow

Ich erwähnte schon, daß unter uns einige Geisteskranke waren. Stschedrin, Ignati Iwanow und Arontschik wurden nach Schlüsselburg in einem Zustand gebracht, in dem man unter normalen Verhältnissen in ein Irrenhaus kommt. Konaschewitsch erkrankte in einer Zeit, als unsere Verbindungen miteinander noch sehr beschränkt waren, und wir die Entwicklung seiner Krankheit nicht beobachten konnten. Aber Pochitonow? Pochitonow erkrankte vor unseren Augen, und wir waren Zeugen der ersten Anzeichen seiner psychischen Erkrankung bis zu seinem völligen geistigen Zusammenbruch.

Als Mitglied der Militärorganisation des »Volkswillens« war er zum Tode verurteilt, aber auf Grund eines Gesuches an den Zaren begnadigt und nach Schlüsselburg gebracht worden.

Pochitonow war ein gebildeter und geistig entwickelter Mensch, hatte aber weder besondere Energie noch Charakterstärke. Er war weich von Natur und bedurfte einer kameradschaftlichen Unterstützung. Er liebte das Leben und seine Freuden. Für den ziemlich verwöhnten Offizier war das Leben in Schlüsselburg vielleicht schwerer als für irgendeinen anderen; sein Leben war dort angefüllt von Leiden und endete mit einer Katastrophe.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß im Gefängnis der Gedanke, daß Kameraden neben dir dein Schicksal teilen, Kraft zum Aushalten gibt. Zweifellos übte dieses Bewußtsein in den ersten Jahren auch auf Pochitonow seinen Einfluß aus. Besonders rührte ihn das Los der Frauen, die unter ebenso harten Bedingungen lebten wie er. Auf einem Zettel schrieb er mir im Jahre 1888: »Ohne Ihr Beispiel wäre das Leben hier unmöglich ...«

Das Studium der fremden Sprachen, Lesen, körperliche Arbeit füllten Pochitonows Zeit in Schlüsselburg aus. Er liebte besonders das Tischlerhandwerk, wurde ein Meister der Drechslerei. Bis zum Jahre 1895 war sein Gesundheitszustand noch ziemlich befriedigend. Infolge seines lebhaften Temperamentes war er immer tätig und voller Initiative, und alle seine Arbeiten richteten sich darauf, Ludmila Wolkenstein eine Freude zu bereiten. Für sie zimmerte er allerlei Schränkchen und Stühle, Etageren, Schachtelchen und noch viele andere Kleinigkeiten. Zu Weihnachten war es ihm sogar einmal gelungen, uns einen Weihnachtsbaum zu beschaffen, einen echten, rechten Weihnachtsbaum mit bunten Lichtern.

Aber trotz aller Arbeit und Zerstreuung, die das Gefängnis bot, zehrte die Sehnsucht ununterbrochen an ihm. So kam er einst freudestrahlend vom Spaziergang und erzählte uns mit leuchtenden Augen: »Soeben hat mich der Doktor untersucht und gesagt, daß es bei mir schon ›begonnen‹ habe! ...« Er meinte damit die Tuberkulose.

Ein anderes Mal entfuhren ihm Lukaschewitsch gegenüber die Worte, er werde sich das Leben nehmen« könne so nicht weiterleben.

Pochitonow verlor den Verstand. Für ein unaufmerksames Auge geschah das fast plötzlich. Tatsächlich aber hätte ein Psychiater schon lange vorher die Anfänge seiner Erkrankung feststellen können. War er sonst weich und nachgiebig gewesen, so wurde er plötzlich jähzornig und trotzig. Manche Extravaganzen wurden damals falsch ausgelegt; erst später ist uns manches klar geworden, als der Verstand in ihm schon vollkommen erloschen war.

Es war für uns unsagbar schwer, Zeuge dieser langsamen geistigen Zersetzung zu sein. Mitte September 1895 war es für alle klar, daß Pochitonow verloren sei. Um diese Zeit hörten seine regelmäßigen Beziehungen zu den Gefangenen auf. Er verließ seine Zelle nicht mehr, legte sich zu Bett und erklärte, er sei krank.

Die Gendarmen machten keinen Unterschied zwischen ihm und den Gesunden; alle sollten gleich leiden. Die Werkstätten besuchte er überhaupt nicht mehr, es schien, als hätte er überhaupt ihre Existenz vergessen; es kann aber auch sein, daß die Gendarmen ihn nicht mehr hinführten.

Die übrigen Gefangenen litten furchtbar unter den Krankheitserscheinungen Pochitonows, und die allgemeine Nervenerregung erreichte ihren Höhepunkt. Alle erwarteten, daß etwas Furchtbares geschehen werde. Die Lage schien ausweglos, denn außer Pochitonow schmachteten im Gefängnis schon seit zwei Jahren die geisteskranken Stschedrin und Konachewitsch ...

Einmal kam es zu einem Zwischenfall, der leicht ein blutiges Ende hätte nehmen können. Fast alle waren im alten Gefängnis in den Werkstätten, wobei die Werkstätten der Männer offen, und nur diejenigen von Ludmila und mir abgesperrt waren. Plötzlich erschien Martynow und erzählte in höchster Erregung, die Gendarmen schlügen Pochitonow. Im Nu versammelten sich alle erregt und empört im Korridor; man schrie, man stieß Drohungen gegen die Gendarmen aus. Die Gendarmen beteuerten, es habe sich nichts derartiges ereignet. Martynow aber versicherte, ein Irrtum seinerseits wäre ausgeschlossen. Als der Gendarm heftig bestritt, den Kranken geschlagen zu haben, rief ihm Janowitsch in seiner Erregung zu: »Sie sind ein Lump!« Sofort riß der beleidigte Gendarm aus allen Kräften an der Alarmglocke, die zur Hauptwache führte, und schloß das Gitter, das den Korridor vom Vorzimmer trennte. Wir hatten kaum Zeit, uns zu besinnen, als wir schon rasche Schritte hörten und vor dem Gitter Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten erschienen. Es fehlte nicht viel, und die Kugeln hätten zu pfeifen begonnen. Poliwanow, dem in der höchsten Erregung gar nicht bewußt wurde, was er tat, lief in die Werkstätten und packte eine Axt, um sich zu verteidigen. Glücklicherweise entriß ihm Wassili Iwanow rechtzeitig das gefährliche Werkzeug. Gleichzeitig besann sich auch der Gendarm, der die Soldaten herbeigerufen hatte, und schickte sie wieder zurück.

Als einzige Repressalie für diesen Zwischenfall wurde Martynow für drei Tage das Recht auf den Spaziergang entzogen »wegen Verbreitung falscher Gerüchte«; andererseits hatte der Kommandant versprochen, die eigentliche Ursache der Erregung aus der Welt zu schaffen und Schritte zu unternehmen, um Pochitonow in ein Krankenhaus zu überführen. Einstweilen schlug uns der Gefängnisarzt vor, den Kranken im alten Gefängnis unterzubringen. Den kranken Kameraden in voller Isolierung in einem abgeschlossenen Gebäude der Gnade und Ungnade der Wächter auszuliefern, deren Fäuste wir vor Jahren kennengelernt hatten, und die seitdem sicherlich nicht besser geworden waren – dieser Gedanke schien uns unerträglich. Nach einer Beratung beschlossen wir, daß einer von uns zusammen mit Pochitonow nach dem alten Gefängnis gehen solle, um darüber zu wachen, daß der Kranke nicht den Gewalttätigkeiten der Wächter hilflos ausgeliefert sei. Das war um so notwendiger, als die Krankheit rasche Fortschritte machte. Größenwahn, religiöser Wahn, Tobsuchtsanfälle und Selbstmordversuche vereinigten sich zu einer äußerst krassen und schwierigen Form des Wahnsinns, und es war unmöglich, bei den Wutanfällen nicht physische Kraft anzuwenden. Wir wählten Lukaschewitsch, der immer mit Pochitonow befreundet gewesen war. Er vereinigte in sich starke physische Kraft mit großer Herzensgüte. Die Gefängnisverwaltung billigte unseren Vorschlag. Lukaschewitsch hatte die Möglichkeit, uns während des Spazierganges über den Zustand des Kranken und seine Behandlung zu informieren.

Die Krankheit Pochitonows machte sehr rasche Fortschritte. Endlich ging das Polizeidepartement auf die Forderung des Gefängnisses ein, ihn nach Petersburg in eine Anstalt zu überführen. Am 5. Februar 1896 bemerkten wir in der Nähe der Wohnung des Arztes einen schwarzen Wagen. Man brachte Pochitonow fort. Es begleitete ihn der Gefängnisarzt, der sich immer als echter Freund der Gefangenen erwiesen hatte. Ein Gendarm in Zivilkleidung saß auf dem Bock.

Vor 12 Jahren hatte man Pochitonow nach Schlüsselburg gebracht als jungen, lebensprühenden Mann mit lebhaftem Temperament. Man brachte ihn fort als lebendigen Leichnam mit erloschenem Verstand, geschwundener Logik; weder menschliche Gedanken noch Gefühle regten sich in ihm.

In Petersburg wurde Pochitonow in einem Militärkrankenhaus untergebracht. Er starb im selben Jahre. Wohl ihm, daß sich über seine letzten Lebenstage der Vorhang gesenkt hatte für diejenigen, die ihn geliebt, für seine Kampfgenossen, die wie er im Kampf um die Freiheit fielen, wie er für sie litten.


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