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Die Explosion im Winterpalast

In Petersburg nahmen unterdessen die Ereignisse ihren Lauf. Wie erwähnt, bereitete das Komitee gleichzeitig mit den Eisenbahnsprengungen bei Moskau, Alexandrowsk und Odessa noch einen Anschlag in Petersburg selbst vor, was mir Alexander Kwatkowski seinerzeit schon angedeutet hatte.

Mit Zustimmung des Komitees hatte Stepan Chalturin, ein sehr intelligenter Arbeiter, von Beruf Tischler, Arbeit im Winterpalast angenommen, und zwar um einen revolutionären Akt gegen Alexander II. auszuführen. Nachdem sich Chalturin mit der Lage der Zimmer und den Verhältnissen im Palast, den Sitten und Gebräuchen der Bediensteten vertraut gemacht hatte, freundete er sich mit dem untersten Personal an, und als kunstfertiger und nüchterner Handwerker gewann er besonders die Zuneigung eines mit ihm im Palastkeller wohnenden Gendarmen, der in ihm einen erwünschten Schwiegersohn zu sehen begann.

Nach diesen ersten Schritten begann Chalturin allmählich, in seinem Köfferchen vom Komitee geliefertes Dynamit in den Keller zu tragen. Als schon ein bedeutender Vorrat angesammelt war und weitere Transporte hätten ins Auge fallen und eine Durchsuchung hervorrufen können, wurde beschlossen, zu handeln.

Am 5. Februar 1880, am Tage der Ankunft des Prinzen von Hessen, sollte Chalturin das Attentat vollbringen: den Speisesaal in die Luft sprengen, um unter den Trümmern den Zaren und seine Familie mitsamt dem Gast zu begraben.

Pünktlich zur vorbestimmten Stunde verband er die Zündschnur mit dem Sprengkörper im Dynamit, brannte sie an und ging fort, um nicht zurückzukehren. Als die kaiserliche Familie den Speisesaal betrat, erfolgte eine furchtbare Explosion. Im Stockwerk über dem Keller, wo sich die Wache des Finnländischen Regiments befand, wurden 50 Soldaten getötet und verstümmelt. Die Dynamitmenge erwies sich aber als zu gering, um die höhere Etage mit dem Speisesaal zum Einsturz zu bringen. Von der Erschütterung bebte und bog sich der Fußboden, das Tafelgeschirr fiel klirrend zu Boden – die Zarenfamilie blieb unversehrt.

Darauf wurde Graf Loris-Melikow zum Diktator ernannt; auf ihn schoß, ohne Erfolg, Mlodetzki, der drei oder vier Tage später auf dem Schafott mit dem Lächeln eines Helden starb.

Alle diese Ereignisse, zusammen mit Gerüchten, die nach den Enthüllungen Goldenbergs über zwei weitere vorbereitete Attentate auftauchten, erschütterten die Gesellschaft aufs tiefste.

Diese Gesellschaft, wenigstens ein Teil davon, litt unter dem Mangel an politischer Freiheit, war längst mit der Reaktion unzufrieden, war aber passiv und zum Kampfe gegen die Regierung unfähig, und so erblickte sie mit Bewunderung und Entzücken in der Partei den Kämpfer gegen den Despotismus der Selbstherrschaft.

Bestürzt über die Verbannungen, die viele aus ihren Kreisen traf, betäubt von den Hinrichtungen, hatte die Gesellschaft angenommen, die ganze Energie der revolutionären Bewegung sei erschöpft; und da, plötzlich, mitten in dieser allgemeinen Bedrücktheit und Hoffnungslosigkeit, folgten nacheinander die unerhörtesten Ereignisse!

Mit Chemie und Elektrizität als Gehilfen hatte der Revolutionär den Zarenzug gesprengt und war in die Kaisergemächer eingedrungen. Je träger, gedrückter die Öffentlichkeit war, desto bewundernswerter schien die Energie, Erfindungskraft und Entschlossenheit der Revolutionäre. Während wir selbst unter unseren Mißerfolgen litten, wuchs der Ruhm des Komitees, der Effekt seiner Taten blendete alle, berauschte besonders die Jugend. Es hieß allgemein: dem Komitee ist nichts unmöglich. Über dem Grandiosen der Ereignisse vergaß man die Mißerfolge. Einer der Führer der »Schwarzen Landaufteilung«, berauscht vom Eindruck, den der 5. Februar in Europa hervorgerufen, schrieb uns aus dem Ausland: »Das Auge der Welt auf sich gerichtet haben, heißt das nicht schon siegen?«

Diese Einstellung gegenüber dem Komitee und der Partei verstärkte sich fortwährend und erreichte ihren Höhepunkt am 1. März, als zu allen bisherigen Handlungen der Haupterfolg hinzukam; die Gesellschaft wartete nicht darauf, was die kaiserliche Macht gewähren, sondern darauf, was die revolutionäre Kraft nehmen werde. Ich muß hier natürlich bemerken, daß ich bei allem Obengesagten nur jenen Teil der Gesellschaft meine, mit dem wir Revolutionäre in Berührung kamen; da wir uns aber als alleinige Aufgabe und alleiniges Ziel das Eindringen in alle Kreise und Schichten gestellt hatten, da wir nicht nur in den Gouvernementsstädten, sondern auch in den Provinznestern Komplizen hatten, und da alle diese Genossen wiederum Freunde und Angehörige hatten und von einer ganzen Schicht Sympathisierender umgeben waren, denen sich gewöhnlich noch Leute anschlossen, die einfach ein bißchen liberal sein wollten, – so geschah es, daß wir am Ende überall Billigung fanden. Von diesem Standpunkte aus hatten wir das Recht, im Namen der Öffentlichkeit, der Gesellschaft zu sprechen; wir bildeten in einem gewissen Grade den Vortrupp eines Teiles dieser Gesellschaft; es kann sein, daß dieser Teil uns, die wir beständig darin verkehrten, größer schien, als er tatsächlich war. Dafür aber war dieser Teil höchstwahrscheinlich bedeutsamer, als die Leute des uns feindlichen Lagers es annahmen. Da wir wußten, daß diese Gruppe mit uns sympathisierte, fühlten wir uns nicht als eine von allen anderen Elementen des Staates isolierte Sekte, und das förderte bedeutend jene hartnäckige Verstocktheit, die wir bei unseren Handlungen an den Tag legten, und von der in den Prozessen die Staatsanwälte sprachen. Um diese Verstocktheit zu vernichten, hätte man die Atmosphäre der Unzufriedenheit vernichten müssen, von der wir umgeben waren; das einzige Mittel dazu aber war – die Unzufriedenen zufrieden zu machen.

Die Attentate vom 2. April und 19. November 1879 und vom 5. Februar 1880 schufen eine derartige Stimmung, daß – hätten wir damals plötzlich unsere terroristische Tätigkeit aufgegeben – sofort Freiwillige oder sogar eine neue Organisation aufgetreten wären, die sich die Beseitigung des Zaren zur Aufgabe gestellt hätten. Neue Attentate waren völlig unvermeidlich, und das Vollzugskomitee unternahm sie.

Im März oder April 1880 kamen nach Odessa zuerst Sablin, dann Sofja Perowskaja, um im Auftrag des Komitees, für den Fall der Durchreise des Zaren nach der Krim Minen zu legen.

Ich bereitete gerade damals einen Anschlag gegen den Leiter der Kanzlei des Grafen Totleben, den Staatssekretär Panjutin, vor. In Panjutins Händen ruhte die Leitung der inneren Politik des Totleben unterstellten Gebietes. Er war bei Murawjow, dem Henker von Polen, in die Schule gegangen und war der Schrecken Odessas. Zur Zeit des Prozesses der 28, von denen 5 am Galgen endeten, nahm er eine radikale Säuberung der Stadt vor. Wahllos wurden Beamte der Stadtverwaltung, Lehrer, Schriftsteller, Studenten, Staatsangestellte und Arbeiter verhaftet und verbannt. Nirgends ging man so willkürlich, brutal und übereilt vor, so daß oft Personen gleichen Namens oder Verwandte irrtümlich büßen mußten.

Seinerzeit waren in der »Narodnaja Wolja« (Volks-Wille) einige Taten dieses »Helden« veröffentlicht worden. Sein Verhalten war roh, die Angehörigen der Verbannten mußten in seiner Kanzlei erniedrigende Szenen erleiden. Als die schwangere Frau eines Verhafteten ihr Schluchzen nicht unterdrücken konnte, schrie er sie an: »Machen Sie, daß Sie wegkommen, Sie lassen sich womöglich noch einfallen, hier zu gebären!« Es genügt zu sagen, daß im Sommer 1880, als Totleben nach Wilna versetzt wurde, der Graf, der, wie es hieß, in Petersburg einen Verweis bekommen hatte, weil er in seiner Tätigkeit als Generalgouverneur sich »päpstlicher als der Papst« gezeigt hatte, – daß dieser Graf auf dem Bahnhof in Anwesenheit der ganzen ihn begleitenden Persönlichkeiten an Panjutin den Vorwurf richtete, er habe sein Vertrauen mißbraucht und ihn mit der Gesellschaft in Konflikt gebracht. Nach der Abreise Totlebens aus Odessa wurde die Mehrheit der administrativ Verschickten zurückgebracht.

Gegen diesen Panjutin wollte ich die Waffe der Partei kehren. Zu dem Zweck wurde zunächst in der Sofiskajastraße, wo sich die Kanzlei Panjutins befand, jemand einquartiert, der die Persönlichkeit und die Lebensweise Panjutins zu studieren hatte. Das führte aber zu nichts, denn keiner von uns wußte, wie Panjutin aussah. Kurz darauf wurde er mir von einem jungen Menschen gezeigt, von dem ich überdies Panjutins üblichen Weg erfuhr, so daß, wenn ich zu einer bestimmten Stunde auf die Straße ging, ich fast täglich die Möglichkeit hatte, seine dicke Figur in Begleitung von zwei Spitzeln zu sehen. Der eine Spitzel ging neben ihm, der andere folgte in einem Abstande von 3-4 Schritten. Es fand sich jemand, der die Sache durchführen wollte; er sollte Panjutin auf seinem Spaziergang erdolchen. Ort und Zeit für das Attentat waren schon festgesetzt; um dem Mörder die Möglichkeit zum Verschwinden zu geben, gedachte ich, ein Pferd bereit zu halten. Die Ankunft Perowskajas mit dem Auftrag des Komitees zwang mich, den ganzen Plan aufzugeben.

Perowskaja brachte einen Brief an einen Arbeiter »Wassili« mit; man sollte ihn zum Attentat heranziehen. Dieser Wassili war jener Merkulow, der später in Odessa alle ihm bekannten Arbeiter und unseren Genossen Swedenzew verriet und im Prozeß der 20 seine Kameraden belastete. Dieser Verräter, der zum Schein 20 Jahre Zwangsarbeit erhielt, wurde im Jahre 1883 nach Charkow geschickt, um mich dort zu fangen. Ich hatte noch vor Perowskajas Ankunft Bekanntschaft mit diesem Schuft angeknüpft, um bei ihm den Steindruck zu erlernen.

Sablin und Perowskaja erschienen mit dem fertigen Plan des Attentats. Vor allen Dingen galt es, die Straße festzustellen, die für die Fahrt des Zaren vom Bahnhof zum Hafen am meisten in Betracht käme. In dieser Straße sollten sie als Ehepaar einen Laden aufmachen. Von diesem Laden aus sollte die Mine bis unter den Fahrdamm getrieben werden. Das Technische sollte Grigori Issajew leiten, der bald darauf mit Jakimowa nach Odessa kam.

Die Perowskaja brachte kein Geld mit: sie sollte zusammen mit uns allen einen Voranschlag der Ausgaben machen und ihn dem Komitee vorlegen, das die gewünschte Summe schicken wollte. Wir rechneten, daß nicht weniger als 1000 Rubel erforderlich sein würden. Ich schlug vor, das Komitee wissen zu lassen, daß man das Geld nicht brauche, da ich mich verpflichtete, die Mittel zu beschaffen, die zur Ausführung des Attentats erforderlich wären. Ich übergab der Perowskaja nach und nach 900 Rubel, die zur Miete des Ladens, zur Anschaffung von Kolonialwaren, für Bohrwerkzeuge, zum Unterhalt der Beteiligten und für ihre Flucht verwandt wurden.

Sofort wurde zur Arbeit geschritten; die Zeit drängte, man erwartete den Zaren im Mai, es war schon April. Dabei konnten wir nur nachts arbeiten, da die Mine nicht von den Hinterräumen ausging, sondern vom Laden, wo tags Kunden aus- und eingingen. Die Arbeit erwies sich als sehr mühselig. Es war Lehmboden, in den der Bohrer schwer eindrang. Endlich waren wir unterm Pflaster angelangt, der Bohrer stieß zur Oberfläche durch. Da geschah es, daß unserem Grigori Issajew durch unvorsichtige Handhabung der Sprengkapseln mit Explosivquecksilber drei Finger weggerissen wurden. Er ertrug es stoisch, wir aber waren außer uns; er mußte ins Krankenhaus. Da wir fürchteten, die Explosion könnte die Aufmerksamkeit der übrigen Hausbewohner auf uns gelenkt haben, trugen wir alles (Dynamit, Quecksilber, Draht usw.) aus seiner in meine Wohnung. Wir hatten nun einen Arbeiter weniger. Die Erde hatten wir in einem Hinterzimmer aufhäufen müssen. Nach Beendigung der Arbeit wollten wir sie wegbringen mit Rücksicht auf eine eventuelle Besichtigung der Häuser vor der Durchfahrt des Zaren. Ich fand in meiner Wohnung einen Platz, wo man die Erde hinschaffen konnte; wir brachten sie zu mir in Körben, Paketen und Bündeln, die ich leerte, wenn die Hausbewohner abwesend und unsere Dienstboten mit einem Auftrag weggeschickt waren. Inzwischen waren die Gerüchte von einer Reise des Zaren nach Livadia verstummt.

Bald darauf erhielten wir vom Komitee Weisung, die Arbeit einzustellen. Da schlugen wir vor, sie wenigstens dazu auszunutzen, Graf Totleben in die Luft zu sprengen. Das wurde abgelehnt mit der Begründung, man müsse sich diese Art des Attentats ausschließlich für den Zaren vorbehalten, dagegen erhielten wir Erlaubnis zu einem Attentat gegen den Grafen mittels irgendeiner anderen Methode.

Sablin, ich und noch einige durch mich herangezogene Personen begannen nun, den Generalgouverneur genau zu beobachten. Wir hätten unsere Absicht sicherlich ausgeführt, wäre nicht Graf Totleben plötzlich von Odessa versetzt worden.

Nach Totlebens Abreise mußten wir die Arbeit endgültig einstellen. Der Laden wurde geschlossen, in den unterirdischen Gang war schon vorher die Erde auf gleichem Wege, wie wir sie herausgeholt hatten, zurückgebracht worden. Ich half dabei, indem ich nachts die Säcke mit Erde in den Keller brachte, wo die Männer sie feststampften. Bald darauf reisten Sablin und Perowskaja ab, ihnen folgten Issajew und Jakimowa. Ich bat das Komitee, auch mich von Odessa abzuberufen und jemand zu schicken, dem ich die lokalen Verbindungen übergeben könnte. Ich motivierte meinen Wunsch damit, daß ich, fast ein Jahr in der Provinz, weitab vom Zentrum der Organisation, mich der allgemeinen Arbeit entfremdet fühle; außerdem wollte ich in Petersburg über die von mir in diesem Zeitraum geleistete Arbeit Bericht erstatten und die Fortsetzung der Arbeit beraten.

Im Juli fuhr ich von Odessa nach Petersburg, ohne die Ankunft meines Nachfolgers abzuwarten. – Trigoni war dazu bestimmt worden.

Gleichzeitig mit mir reiste auf Einladung aus Petersburg Wassili Merkulow ab. Unangenehm ist es, daran zu denken, wie dieser Verräter sich damals augenscheinlich ziemlich freundschaftlich zu mir verhielt: nach der Ankunft in der Hauptstadt traf er mich mehrmals durch Vermittlung von Personen, die zu ihm geschäftliche Beziehungen hatten. Ich kam dann jedesmal zu ihm in einen Garten, weil zu dieser Zeit das Wetter noch warm war.

Er war aufbrausend und ewig unzufrieden, schimpfte beständig auf die Intellektuellen und lobte die Arbeiter und das Werkleben. Wir vergaben ihm gern eine gewisse Erbitterung, da wir sie bei einem Proletarier, der sein Leben in Not verbracht hatte und alles Herrschaftliche haßte, völlig natürlich fanden. Für seinen einzigen Fehler hielten wir seine Eigenliebe, die zu schonen wir uns bemühten.

In Petersburg, wo man mich wegen meiner eigenmächtigen Abreise mit einer Rüge empfing, wurden um diese Zeit neue Vorbereitungen zu einem Attentat auf Alexander II. in der Gorochowaja an der Kamennybrücke Einer der Hauptverkehrspunkte Petersburgs. getroffen. Einzelheiten darüber wußte ich damals nicht. Die ganze Angelegenheit lag in den Händen der Verwaltungskommission und wurde, ebenso wie damals der Anschlag im Winterpalais, strengstens geheim gehalten. Ich wußte nur das eine, daß eine Explosion bei der Vorbeifahrt des Zaren vorbereitet werde, und zwar diesmal unter einer Brücke, vom Wasser aus.

Im Oktober 1880 wurde Alexander Michailow verhaftet – dieser unersetzliche Hüter, dieser ›gute Geist‹ unserer Organisation, dessen Wachsamkeit auch nicht die geringste Kleinigkeit, die unsere Sicherheit betraf, entging.

Ein junges Mitglied weigerte sich, im photographischen Atelier Alexandrowski am Newski-Prospekt, wo die Verhafteten gewöhnlich für die Polizei photographiert wurden, dort von uns bestellte Kopien von Bildern bereits verurteilter Genossen abzuholen. Da ging, gereizt durch die Ablehnung, Michailow selber hin. Im Atelier war man bestürzt; nur einer der Angestellten benutzte diesen Moment und machte eine Bewegung zum Halse hin, um Michailow die drohende Gefahr anzudeuten. Aber als Michailow wegeilte, packten ihn auf der Treppe die ihm seit langem auflauernden Spitzel.

Für uns war Alexander Michailow ein unersetzlicher Genosse. Er war sozusagen das allsehende Auge der Organisation, der Wächter der Disziplin, die bei jedem revolutionären Regime ja so unentbehrlich ist. Viel Unglück wäre uns erspart worden, wäre er in unserer Mitte geblieben. Mit fanatischer Hingabe an die Revolution verband er Energie, Beharrlichkeit, bemerkenswerte Gewandtheit und eine solche Vorsicht, daß selbst die feigsten Leute unter seiner Leitung sich völlig sicher fühlten. Ein talentvoller Organisator und guter Menschenkenner, war er pedantisch, konsequent und unerbittlich in der Einhaltung organisatorischer Grundsätze. Streng in den Anforderungen an sich, stellte er das Interesse der Sache über alles und verlangte, daß der Revolutionär alle menschlichen Schwächen vergessen, alle persönlichen Neigungen aufgeben müsse.. »Wenn die Organisation mich beauftragen würde, Tassen zu waschen,« sagte er mir einmal im Gespräch, »so würde ich das mit demselben Eifer verrichten wie die interessanteste geistige Arbeit.« In diesem Sinne bekämpfte er scharf die Ansicht, daß es unproduktive, ›niedere‹ Parteiarbeiten gebe; seines Erachtens war alles, was für die Organisation geschehen mußte, wertvoll genug, um es freudig auszuführen. Solch ein geschlossener Charakter mußte einen ungeheuren Einfluß ausüben, auf die Organisation wie auch auf jene, die außerhalb standen; seine Autorität war gleich groß unter den Genossen wie unter den Außenstehenden. Der enge Rahmen des russischen Lebens hinderte ihn, seine Kräfte im großen Maßstabe zu entfalten und eine bedeutende Stelle in der Geschichte einzunehmen; im revolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts wäre er ein Robespierre geworden. –

Im Herbst 1880 und Anfang 1881 konzentrierte unsere Partei ihre Kräfte auf Propaganda- und Organisationsarbeit. In jener Zeit wurden zahlreiche Verbindungen mit der Provinz angeknüpft, lokale Gruppen organisiert und ein eingehender Aktionsplan in einzelnen Orten ausgearbeitet; Agenten des Komitees bereisten die verschiedenen Gebiete oder wurden zu dauerndem Aufenthalt an verschiedene Stellen des Zarenreichs abkommandiert. Alle vorangegangenen Ereignisse hatten den Boden genügend vorbereitet: Während die Organisation »Schwarze Aufteilung« so gut wie verschwunden war, wandten sich die allgemeinen Sympathien dem »Volks-Willen« zu, dank der intensiven Verbreitung unseres Organs, der mündlichen Agitation des Komitees, vor allem aber dank den aufsehenerregenden Kampfakten gegen das Zarentum, die für sich selbst sprachen. Von weit und breit erschienen Delegierte, um mit dem Komitee Verbindungen anzuknüpfen und ihre Dienste anzubieten; wobei sie baten, ihnen Agenten zur Organisierung lokaler Mitgliedschaften zu schicken. Natürlich versäumte das Komitee nicht, sich diese günstige Stimmung zunutze zu machen; es erntete nun die Früchte seiner Mühen und Opfer. Dieser sich allenthalben regende Drang zu Betätigung und Zusammenschluß, zu aktivem Kampf gegen die Regierung war der Ausdruck jener ungeheuren Erregung der Geister, die als Folge der Tätigkeit des »Volks-Willens« weite Schichten der Gesellschaft ergriffen hatte. Tapferkeit ist ebenso ansteckend wie panischer Schreck; durch ihre Energie und ihren Mut zog die Organisation die lebendigen Elemente an sich, und selbst die Furcht vor dem Tode schien verschwunden.

Die Forderung, den Zaren zu töten, wurde immer lauter; die Politik des Ministerpräsidenten Graf Loris-Melikow konnte niemand täuschen, dem Wesen nach änderte sie nichts in der Beziehung der Regierung zu Gesellschaft und Partei; der Graf ersetzte nur die groben Formen durch feinere, aber er nahm mit der einen Hand wieder, was er mit der anderen gab. So z. B. ließ er einen Teil der administrativ Verbannten zurückkehren, während er gleichzeitig aus Petersburg zahlreiche neue Opfer verbannte. Auf seinen Befehl wurde das Los der zu Zwangsarbeit Verurteilten noch verschlimmert, er entzog ihnen unter anderem das für sie so kostbare Recht der Korrespondenz mit den Angehörigen.

Die allgemeine Stimmung unter den Revolutionären war für Fortsetzung des Terrors; man forderte die Hinrichtung des Zaren wie seines heuchlerisch-liberalen Vertrauten. Während die Mehrzahl der Beauftragten des Komitees mit Propaganda und Organisation beschäftigt waren, arbeiteten seine Techniker unermüdlich an der Vervollkommnung der Bomben; man wollte sie als Hilfsmittel bei zukünftigen Attentaten verwenden neben den Minen, die bisher versagt hatten.

In jene Glanzperiode der Tätigkeit des Vollzugskomitees fällt auch die Gründung der Militärorganisation des »Volks-Willens«.

Die Erkenntnis, daß es notwendig sei, sich in der Armee Anhänger zu werben, nicht in der Form zufälliger Heranziehung einzelner Personen, die von der revolutionären Umgebung aufgesogen wurden, sondern auf dem Wege einer systematischen ›Anhäufung‹ von revolutionären Elementen im Heere selbst, für den bewaffneten Kampf mit der Zarenherrschaft, – solche Erkenntnis war in der Epoche der siebziger Jahre absolut nicht vorhanden. Nur der »Volks-Wille« leistete diese Arbeit unter dem Militär als eine der Aufgaben einer revolutionären Partei. Militärpersonen hatten schon im Prozeß der 193 figuriert und auch im Prozeß der 50; es waren das aber damals gewöhnliche Propagandisten gewesen, die ihr Berufsmilieu verlassen hatten und unter das Volk gegangen waren, zu den Bauern und den städtischen Arbeitern.

Die »Narodowolzy«, die den politischen Kampf, den Sturz der Regierung und die Erringung von Freiheiten durch bewaffneten Aufstand in den Vordergrund gestellt hatten, mußten einsehen, daß ohne die organisierte Kraft der Armee auf keinen Sieg der militärisch ungeschulten Volksmassen zu rechnen sei. Die Agenten des Vollzugskomitees begannen daher, Verbindungen mit den Militärkreisen anzuknüpfen, um Kaders einer künftigen Militärorganisation zu formieren zur aktiven Unterstützung eines sei es organisiert oder spontan ausbrechenden Volksaufstandes.

Welcher Art diese Organisation und ihr Verhältnis zum Exekutivkomitee sein sollte, das wurde damals noch nicht erörtert. Das wäre eine müßige Sache gewesen, solange noch kein bestimmtes Material zur praktischen Anwendung des Planes da war. Wichtig war, daß die Frage selbst überhaupt gestellt wurde, daß die revolutionäre Partei sich eine Stütze im Heere suchte, um in ihm einen Verbündeten zu haben, der ihr, wenn nötig, in einigen Fällen passiv, in anderen aktiv helfen würde.

Im Winter 1879/1880 wurden Beziehungen zu den Kronstädter Seeoffizieren durch den Leutnant Suchanow und zu den Petersburger Artillerieoffizieren Rogatschew und Pochitonow durch S. Degajew angeknüpft, der bei der Festungsartillerie von Kronstadt gedient hatte und aus der Artillerieakademie wegen politischer Unzuverlässigkeit ausgeschlossen worden war.

Der Boden für die Militärorganisation des »Volks-Willens« war schon in früheren Jahren vorbereitet worden; zum Teil durch Selbstbildungszirkel. So 1871/1872 in der Seeoffiziersschule, wo aus einem solchen Zirkel die Genossen Suchanow, Serebrjakew, Lutzki und andere hervorgingen, die man später zum Scherz die »Walfischfänger« nannte. Die Mitglieder des Zirkels hatten nämlich – auf Grund einer Denunziation zu einer Erklärung über ihre »Geheimgesellschaft« gezwungen – der Direktion angegeben, sie hätten die Entwicklung des Fischereigewerbes in Nordrußland studiert. Nach einer anderen von mir gehörten Version planten die jungen Leute tatsächlich, sich mit der Walfischjagd zu befassen, um Geld für die Sache der Revolution zu schaffen. 1878 bildete sich selbständig eine Gruppe aus Seeoffizieren, die in Kronstadt unter den Matrosen Propaganda trieb. Der russisch-türkische Krieg hatte das Ungeheuerliche der russischen Zustände in ganzer Nacktheit aufgedeckt: den gewissenlosen Raub am Staatseigentum, das Fehlen jeder Vorsorge für die Soldaten, die man zerlumpt, hungrig, ohne ärztliche Hilfe ließ. Es war unvermeidlich, daß die Offiziere sich über die tieferen Ursachen Gedanken machten und nach Mitteln suchten, das Übel auszurotten. Bulgarien wurde vom türkischen Joch befreit und erhielt eine Verfassung, Rußland aber blieb nach wie vor in politischer Sklaverei. »Wir dachten,« sagte im Jahre 1884 vor Gericht Pochitonow, ein Teilnehmer an der Belagerung von Plewna, »daß man, anstatt ein fremdes Land zu befreien, an die Befreiung Rußlands denken sollte.«

So gab es in den höheren Militäranstalten, besonders in der Kriegsakademie, eine Anzahl von Offizieren, die von sozialen Bestrebungen und von Freiheitsdrang beseelt waren: Rogatschew, Pochitonow, Butzewitsch und manche andere.

Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Vollzugskomitees und Kronstadt begannen im Spätherbst 1879 und dauerten bis zum Frühling 1880. E. A. Serebrjakew schildert in seinen »Memoiren« sehr anschaulich den Eindruck, den Scheljabow in der ersten Geheimversammlung der Offiziere in Suchanows Wohnung in Kronstadt auf sie machte. Zum ersten Male lernten hier Seeoffiziere einen hervorragenden Vertreter einer revolutionären Partei kennen, die sie bis dahin nur vom Hörensagen gekannt hatten. Die Klarheit des Programms des »Volks-Willens«, Scheljabows Beredsamkeit und seine innere Überzeugtheit, sein imposantes Äußere bezauberten die Zuhörer. An diesem Abend wurden sie zu glühenden Revolutionären, wenn auch die meisten eine Stunde zuvor von Politik nichts gewußt hatten und am nächsten Morgen mit einem Schauer an den Abend zurückdachten. Doch für einige – darunter Serebrjakew selber – blieb der Eindruck unauslöschlich.

Im Herbst 1880 war der Anschluß Suchanows und seiner Kameraden so eng geworden, daß der Plan einer Militärorganisation vom Vollzugskomitee ausgearbeitet und dann mit Suchanow, Stromberg und anderen Vertretern der Offiziere beraten wurde.

Die Grundzüge der Militärorganisation waren folgende: Sie sollte wie die allgemeine Organisation von oben her aufgebaut werden, d. h. zentralistisch; organisatorisch sollte sie selbständig und von der übrigen Partei gesondert bleiben. An ihrer Spitze sollte ein Zentralkomitee aus Offizieren stehen, das vom Vollzugskomitee ernannt wurde und ihm untergeordnet blieb.

Jeder Heeresangehörige, der der Organisation als Mitglied beitrat, mußte bestimmte Verpflichtungen übernehmen. Die ernsteste Verpflichtung war: auf Befehl des Vollzugskomitees hin sofort mit der Waffe in der Hand auf die Straße zu gehen und die unterstellten Truppenteile ebenfalls dazu aufzurufen. Dagegen sollten die Offiziere sich bis zum Zeitpunkt des aktiven Eingreifens nicht kompromittieren und daher keine revolutionäre Propaganda in ihren Truppenteilen betreiben. Für diese Aufgabe wurden von der Partei, auf Anforderung der Offiziere hin, Arbeiter bestimmt; die Offiziere bezeichneten nur die Soldaten, die am meisten für revolutionäre Einwirkung geeignet waren.

Von Zeit zu Zeit sollten die Mitglieder unserer Offiziersgruppen Urlaub nehmen, um Gegenden zu bereisen, wo Verbindungen mit dem Militär vorhanden waren. Sie sollten Hinweise von der Partei und Empfehlungen von den Mitgliedern der Militärorganisationen erhalten und mußten Bekanntschaften anknüpfen, geeignete Leute organisieren und die Verbindung der neu hinzugezogenen Offiziere mit dem militärischen Zentrum herstellen.

Die örtlichen Parteigruppen des »Volks-Willens« waren verpflichtet, in jeder Hinsicht die Schaffung örtlicher Militärzirkel zu fördern. Hatte sich aber ein solcher Zirkel organisiert, so sonderte er sich von der Parteigruppe ab, wurde in die Parteiarbeit nicht einbezogen und mußte im Kontakt mit dem Militärzentrum arbeiten, ohne in Verbindung mit den Militärgruppen anderer Gegenden treten zu dürfen.

Somit hatte sich die Partei aus zwei parallelen Organisationen zusammengesetzt: der zivilen und der militärischen, die untereinander nur durch ihre Zentren verbunden waren. Diese Einteilung war eine Vorsichtsmaßnahme, um die Heeresangehörigen nicht allen zerstörenden Zufälligkeiten auszusetzen, unter denen die Ortsgruppen der Partei litten; letztere wieder aufzubauen, war viel leichter, als etwa einen kompromittierten Militärzirkel.

Die Verbindung zwischen den beiden Komitees wurde durch gegenseitige Delegierte hergestellt.

Vom Januar 1881 an war der Vertreter der Militärorganisation im Vollzugskomitee Suchanow, die hervorragendste Persönlichkeit unter den Militärs, mit denen wir in Verbindung standen.

Das Militärkomitee setzte sich aus den Offizieren Suchanow, Stromberg und Rogatschew sowie aus Scheljabow und Kolodkewitsch vom Vollzugskomitee zusammen; nach Scheljabows Verhaftung trat ich an seine Stelle.

Als das Statut bestätigt und die Zentrale gebildet worden war, organisierte Suchanow aus seinen Kollegen in Kronstadt eine Gruppe von Seeoffizieren, nachdem er sie durch eine Reihe von Versammlungen dazu vorbereitet hatte. Einige von diesen Seeoffizieren traf ich bei Suchanow in Petersburg, andere lernte ich in Kronstadt kennen, wohin mich im April 1880 Suchanow gebracht hatte.

Jene Gruppe von Seeleuten bestand aus etwa 30 Männern. Es waren nicht nur Leute hinzugezogen worden, die ihre revolutionäre Weltanschauung schon völlig gefestigt hatten, sondern auch »Sympathisierende«. Beim Militär war der Maßstab für die Tauglichkeit dieser oder jener Person zum Organisationsmitglied ein anderer als bei uns. Entsprechend der Art unserer Tätigkeit, die vor allem eine propagandistische war, waren wir viel anspruchsvoller in bezug auf theoretische Vorbereitung der Kandidaten, auch war für die Aufnahme eine gewisse Erfahrung notwendig. Von den Offizieren verlangte man nichts dergleichen: sie alle waren Neulinge und sahen die Sache vereinfacht an. Viele kamen zu uns nicht aus fester Entschlossenheit, bis ans Ende zu gehen, nicht mit vollem Bewußtsein der schweren Verantwortung, die sie für ihre Verschwörertätigkeit zu tragen haben würden, sondern aus Kameradschaftlichkeit, Solidarität und jugendlichem Wagemut. Ihr Mangel an Vorsicht, die mangelnde Erkenntnis der Gefährlichkeit ihrer Lage war offensichtlich, sowohl bei Suchanow wie in noch stärkerem Maße bei seinen Kameraden. Suchanow zahlte dafür mit seinem Leben: er ging mit vollem Bewußtsein in den Tod, weil er nicht in die Illegalität hinübergehen wollte, obwohl er vor der Verhaftung gewarnt worden war. Das Gerücht, daß die Zünder für die Minen und Bomben des 1. März in Kronstadt im Marineamt entwendet worden seien, zirkulierte fast öffentlich in seinem Freundeskreis, und da muß man sich wundern, daß zusammen mit ihm nicht seine ganze Gruppe ins Verderben ging. Wenn die Angelegenheit auf die Verhaftung und die Versetzung Glasskows zur kaspischen Flotte und auf die administrative Verbannung Strombergs nach Sibirien beschränkt blieb, so geschah das ausschließlich dank dem Solidaritätsgefühl der Seeleute, auch solcher, die mit der revolutionären Bewegung nicht sympathisierten, die aber ihre Kameraden in jeglicher Weise deckten.

Bald zählte die Militärorganisation 200 – später noch mehr – Heeresangehörige in den verschiedenen Städten und Garnisonen.


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